Kennen Sie das? Leute, die ihnen schon durch ihre Ausdrucksweise zuwider sind, die Sie aber irgendwie doch im Bekanntenkreis haben, die Sie lieber von weitem freundlich grüßen, ihnen ansonsten aber aus dem Wege gehen? So ungefähr ist es auch mit unliebsamen Fakten und – Unworten, die man zu solchen erklärt, damit man sich mit dem Körnchen Wahrheit oder Salz, das sie enthalten, nicht sein Süppchen vermiesen lassen muss.
Irgendwie mag ich sie dennoch, die „alternativen Fakten“. Fielen sie ab morgen plötzlich weg, warum auch immer, sie würden mir richtiggehend fehlen. Immerhin bin ich mit ihnen groß geworden. Sie waren so… kuschlig. Was waren das überhaupt für Zeiten, als wir abends vor der Glotze noch wirklich alternative Fakten hatten! So eindeutige Alternativen sind heute gar nicht mehr sendbar, noch nicht einmal im „Staatsfernsehen“, es gilt, den tumben Bürger vor ihnen zu schützen. Schöne neue Welt der wohlausgewogenen Harmonie: Sie beseitigt – natürlich nur bei entsprechender Wortwahl – ganz bestimmt auch das letzte verbliebene Problem.
Alternative Unworte
Die „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ hat ihre Entscheidung für das Unwort 2017 bekannt gegeben: „Alternative Fakten“.
In die nähere Auswahl gekommen ist auch „Genderwahn“. Warum „Softwareupdate“ und „Shuttle Service“ es beinahe geschafft hätten, erschließt sich mir nicht ganz, warum es „Sprachpolizei“ nicht geschafft hat, dagegen sofort. Selbstironie ist nicht so gefragt, wenn man ein Vorbild sein will. Darum hier zur Erinnerung die völlig ironiefreien Unworte der Vorjahre: „Volksverräter“ (2016), „Gutmensch“ (2015), „Lügenpresse“ (2014), „Sozialtourismus“ (2013).
Ach, ja, das ist auch schwer für so eine Jury. Deutsch ist sowieso eine seltsame Sprache, vieldeutig und überreich an Unmöglichkeiten, das wussten schon Mark Twain und das Wiener Bohème-Quartett. Ich persönlich hätte aus dem Grund das Un-Güterzug-Wort „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ bevorzugt. Hinter so harmlos-bürokratisch klingenden Gebilden versteckt sich in Deutschland gern mal was ganz anderes. Je totalitärer der Anspruch, desto harmloser der Titel. „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ hatten wir bekanntlich auch schon.
Aber, Spaß beiseite, bleiben wir bei den „alternativen Fakten“: Zu „Eurorettung“ und „Energiewende“ würde sich da zwanglos die „Willkommenskultur“ gesellen, passend wäre auch mein besonderer Talkshow-Parteiprogramm-Liebling, der jahrzehntelange Dauerbrenner „Soziale Gerechtigkeit“. Wie schön, dass „alternative Fakten“ offensichtlich also gar nicht „alternativlos“ sind. „Alternativlos“ war nämlich schon dabei, 2010. Muss wohl ein Ausrutscher gewesen sein.
Meine Sorge um die ministerielle Zahngesundheit
Laut Sprachpol… äh… Jury darf der Alltag der Bürger nicht „alternativlos“ sein, muss aber frei sein von „alternativen Fakten“. Wie das geht? Ganz einfach, gar nicht lang reden, stattdessen: „In die Fresse“! Aus dem Mund einer Möchtegern-Wahlsiegerin und Möchtegern-Oppositionellen, die wenig später flugs zur Möchtegern-Ministerin auch im nächsten Schattenkabinett Merkel mutiert, drängt sich dieses Bonmot bei „alternative Fakten“ geradezu auf. Was will Andrea Nahles dann bloß machen in so einer Kabinettssitzung? Da kriegt man ja beinahe Angst um die ministerielle Zahngesundheit!
Ach, ja: „Koalitionssondierungen“ wäre in dem Zusammenhang übrigens auch ein ganz hübsches Unwort gewesen. Irgendwie beschleicht mich zuletzt das belustigende Gefühl, ich solle von ähnlich zähneklappernden „alternativen Fakten“ am Ende sogar regiert werden, mögen sie nun Angela Merkel, Martin Schulz oder Horst Seehofer heißen. Darum kann ich mit dem „Unwort 2017“ ganz gut leben, auch 2018. Auch, wenn ich kein Zahnarzt bin.