Von Martin Toden.
In Berlin unterwegs zu sein, ist nicht ganz ungefährlich. Das Benutzen von Radwegen kann sich beispielsweise als Herausforderung herausstellen.
Unsere schönste Hauptstadt aller Zeiten – der „Reichshauptslum“, wie sie von einem sprachlich gewandten Zeitgenossen einst getauft wurde – hat ja an Superlativen einiges zu bieten. Hierzu zählen etwa die Staatsverschuldung (Stichwort: Länderfinanzausgleich), die öffentliche Sicherheit (Stichwort: Freibäder) oder auch die Gebäudeinfrastruktur (Stichwort: Schulklos). Ein weiteres, sozusagen „ewiges“ Thema sind die Verkehrsinfrastruktur im Allgemeinen und die Berliner Radwege im Besonderen. Bewohner insbesondere der Außenbezirke bewegen sich in ihren Quartieren bekanntlich auf Straßen und Wegen, die in dieser Form schon zu Zeiten von Wilhelm Zwo den allfälligen Pferdekutschen ein klapperndes Pflaster boten. Wer etwa in den etwas weiter draußen liegenden Ortsteilen von Zehlendorf wohnt, muss sein Fahrrad bisweilen mehrere hundert Meter weit schieben, bis er auf eine halbwegs befahrbare Fahrbahndecke gelangt – oder er muss auf der ersten Etappe sein Gebiss und weitere nicht befestigte Utensilien gut festhalten. Grobes Kopfsteinpflaster zollt seinen Tribut.
Nun gibt es in Berlin eine erkleckliche Anzahl von mehr oder weniger ambitionierten Freizeitsportlern, die sich gern hin und wieder auf ihr Rennrad schwingen, um in den grünen Randbezirken ein paar Kilometer zu machen. Zu den beliebtesten Strecken in diesem Metier zählt zweifelsohne die sogenannte Havelchaussee-Kronprinzessinweg-Runde. Auf dieser schönen Tour, die man an der Havel entlang bis zum Postfenn, über ein kurzes Stück an der Heerstaße und vorbei an der Heimspielstätte der altehrwürdigen Tennis Borussia wieder zurück über den Kronprinzessinweg fährt, legt man pro Runde 21 Kilometer zurück und kann auf den langen Etappen an der Havel und entlang der Avus ordentliche Schnitte erreichen. Zumindest konnte man das bis vor anderthalb Jahren. Da nämlich wurde es erforderlich, an der nachhaltig verrotteten Berliner Infrastruktur wieder ein wenig zu flickschustern und unter dem Kronprinzessinweg eine neue Trinkwasserleitung zu verlegen.
Im Zuge dieser Baumaßnahme ist nun der Kronprinzessinweg unter der Woche teilweise gesperrt, und da sich Baumaßnahmen in Berlin gern mal über mehrere Jahre hinziehen, wird das auch noch einige Zeit lang so bleiben. An den Wochenenden konnte der Radler immerhin den nur halbseitig aufgebaggerten und gesperrten Weg wieder benutzen, musste sich dann aber auf dem nur noch halb so breiten Weg den Asphalt mit Skatern (von breitbeinig taumelnd bis stromlinienförmig dahinrasend), Läufern (gern auch „nordic walkende“ Stöckchenzieher) und Pedelec-Rentnern (immer zu dritt nebeneinander) teilen. Also kein Spaß, auch wenn das derzeit nur einen Abschnitt von 1,8 km betrifft. Das dicke Ende kommt noch, aber der Reihe nach.
Ich rieb mir unlängst verwirrt die Augen, als ich feststellen durfte, dass der genannte erste Abschnitt offenbar fertiggestellt und die Straßendecke wieder geschlossen worden war. Aber, ach. Denn wenn man tatsächlich so blauäugig sein sollte und mit seinen Dackelschneidern die frisch fertiggestellte Fahrbahndecke befährt, fühlt man sich sofort wieder in seinen Vorort-Kiez versetzt, wo man auf des Kaisers Pflasterstraßen seine Zahnplomben auf festen Sitz überprüfen kann. Die neue Decke auf der waldseitigen Hälfte des Kronprinzessinwegs ist nämlich dermaßen schlecht ausgeführt, dass sie weder für Radfahrer, noch für Inline-Skater nutzbar ist – oder jemals sein wird. Nicht nur ist die neue Decke viel gröber ausgeführt als die alte, recht glatte und gut befahrbare, sie ist auch unvorstellbar uneben und rüttelt einen so sehr durch, dass schon der Griff zur Trinkflasche sozusagen einem Suizidversuch gleichkäme.
Ein Stück verlorenes Radfahrerbiotop
Da das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf plant, den Kronprinzessinweg auf seiner gesamten Länge bis zum Hüttenweg aufzureißen, wird also in einigen Jahren diese beliebte Rad-, Skate- und Laufstrecke nur noch auf halber Breite zur Verfügung stehen und das beliebte Rennradrevier auf dem wunderbar breiten Abschnitt zwischen Hüttenweg und Havelchaussee zu einer chaotischen Kampfstrecke werden, auf der sich alle drängeln müssen, die sich keine Sehnenscheidenentzündung holen oder sich ihre Kontaktlinsen aus den Augen rütteln lassen wollen.
Abgesehen davon, dass wieder ein Stück Radfahrerbiotop verloren geht, mit denen Berlin wahrlich nicht gesegnet ist, wirft diese Clownerei erneut ein bezeichnendes Licht auf die Themen öffentliches Bauwesen, Verkehrsinfrastruktur und Fachbetriebe: Primo gibt es offenbar im Bezirksamt kein qualifiziertes Personal, welches eine Ausschreibung zur Erstellung einer Fahrbahndecke halbwegs fachgerecht formulieren könnte. Secundo gibt es in Berlin und Umgebung offenbar keine Tiefbauunternehmen, die in der Lage wären, eine zumindest für Radfahrer gefahrlos benutzbare Fahrbahndecke fachgerecht zu erstellen.Tertio ist das Bezirksamt offenbar außerstande, eine erbrachte Bauleistung anhand gängiger Kriterien abzunehmen.
Mein Vater selig, der seinerzeit im Bauamt eines niedersächsischen Mittelzentrums dank profunder Qualifikation und Autorität dafür sorgte, dass katastrophale Bauausführungen wie die oben beschriebene dem Unternehmer mit Schmackes um die Ohren gehauen wurden und die hin gestümperte Fahrbahndecke umgehend wieder aufgenommen und auf zivilisatorisch akzeptable und DIN-gerechte Weise neu erstellt werden musste (und zwar auf Kosten des Unternehmers), würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das Desaster im Grunewald noch erleben müsste. Mutmaßlich ist das Bezirksamt schon froh, überhaupt eine Firma gefunden zu haben, die sich nicht entblödet, stapelweise Formulare zu Themen wie gendersensible Toiletten, klimagerechte Trennung von Bauabfällen oder Schutz der hypothetischen Krötenwandervereinigungen auszufüllen, um in Berlin an einen Auftrag zu kommen. Da ist dann die Frage nach der fachgerechten Ausführung des Oberbaus von Verkehrsflächen nach der RStO 12/24) womöglich eher von nachrangiger Bedeutung.
Nur für Todesmutige
Im Übrigen betrifft die Frage nach dem Zustand der Berliner Straßen natürlich im Grunde alle anderen Bezirke gleichermaßen. Wer mit dem Fahrrad auf den großen, mehrspurigen, oft durch breite Grünstreifen getrennten Straßen durch Zehlendorf fährt (Potsdamer Chaussee, Clayallee, Argentinische Allee), stellt fest, dass so gut wie alle ehemaligen Radwege entlang dieser Magistralen entwidmet sind, weil sie in einem so schlechten Zustand sind, dass sie für potenziell suizidgefährdete Radfahrer womöglich ein unwiderstehlicher Magnet wären. Benutzungspflichtige Radwege müssen nämlich neben der zwingend erforderlichen Beschilderung auch zumutbar und benutzbar sein. Ist man todesmutig genug, doch einmal auf einen solchen Fahrrad-Todesstreifen auszuweichen, weil auf der Straße mal wieder Busse, SUV-Muttis, Amazon Transporter, DHL-Elektro-Scherzartikel und BSR-Kolosse um die Vorherrschaft kämpfen, begreift man den Zustand auf der Straße schnell als die weniger gefährliche.
Alles in allem ein einziges Trauerspiel. Will man sich auch nur in groben Zügen an die Straßenverkehrsordnung halten, ist man in Berlin ohnehin ein Sonderling, im juste Milieu der Lastenrad-Sörens und -Laura-Sophies wahrscheinlich schon ein potentieller Nadsi. Wer es wagt, sich etwa im beschaulichen Nikolassee einer solchen Babboe-Glucke in den Weg zu stellen, die ihre vielköpfige Brut zum Neigungs-Mandarin-Vorschulkurs auf dem Gehweg kutschiert (obwohl die Wechselbälger alle schon selbständig radeln könnten und dann sogar den Gehweg benutzen dürften), muss ein belastungsfähiges Trommelfell und sehr viel Langmut mitbringen, wenn er seine (rechtlich einwandfreie) Position denn durchsetzen möchte.
Neulich schaffte es eine immerhin recht ansehnliche höhere Tochter im Erstsemesteralter, ihren Einkaufspanzer so gerade noch vor meinen Zehenspitzen zum Stehen zu bringen, weil sie nicht nur auf dem Gehweg, sondern auch noch unter lautstarker Nutzung ihres Handys zum Zwecke des Austauschs des aktuellen Auditoriumsgeschwätzes bar jeder Wahrnehmung ihrer Umgebung durch die Gegend mäanderte und mich erst im allerletzten Moment bemerkte. Ich konnte, da sie Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben, immerhin ihr Handy retten, dass in einer recht eleganten ballistischen Kurve den Weg zum Erdmittelpunkt suchte, dann aber von meiner Hand aufgefangen wurde. Das dämpfte ihre sozialisationsbedingte Entrüstung und stimmte sie milde angesichts des frechen Emporkömmlings, der es gewagt hatte, ihr auf ihrem Weg zu einer besseren Work-Life-Balance im Weg zu stehen. Etwas resigniert äußerte sie dann nach einem kleinen verbalen Austausch die Frage, wo sie denn sonst fahren solle. Auf der Straße wäre das doch unmöglich.
Da musste ich ihr recht geben. Außerdem hatte sie schöne Augen.
Martin Toden ist studierter Personalentwickler, Reserveoffizier der Bundeswehr und blickt auf fast 40 Jahre zivile und militärische Führungserfahrung zurück. Er schreibt hier unter Pseudonym.