Walter Krämer / 31.10.2020 / 14:00 / Foto: Achgut.com / 15 / Seite ausdrucken

Unstatistik des Monats: Inzidenz-Verwirrung

Die Unstatistik des Monats Oktober befasst sich mit der Aussagefähigkeit der 7-Tage-Inzidenz. Die aktuelle Politik orientiert sich mit ihren Anti-Corona-Maßnahmen vor allem an dieser 7-Tage-Inzidenz, die die Entwicklung der Neuinfektionen abbildet. Maßnahmen wie Sperrstunden, Personengrenzen auf Veranstaltungen und Alkoholverbote hängen davon ab. Die 7-Tage-Inzidenz gibt die innerhalb der vergangenen sieben Tagen registrierten Neu-infektionen je 100.000 Einwohner an. Hat beispielsweise eine Stadt mit 250.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen insgesamt 50 Neuinfektionen verzeichnet, so beträgt die Sieben-Tages-Inzidenz 50 x (100.000/250.000) = 20.

Eine hohe 7-Tage-Inzidenz zeigt an, dass sich viele Menschen mit dem Virus infiziert haben. Manche schließen daraus, dass mit etwas Zeitverzögerung das Gesundheitssystem überfordert sein wird und nicht alle Patienten behandelt werden können, was zahlreiche Todesfälle zur Folge haben kann. Alleine auf die 7-Tage-Inzidenz zu schauen, ermöglicht jedoch keinen Blick auf das Gesamtgeschehen. In dieser Unstatistik erklären wir, warum Neuinfektionen in Bezug zu anderen Zahlen gesetzt werden sollten und warum die Zahlen in der ersten Welle im März/April nicht mit jenen von heute vergleichbar sind.   

Neuinfektionen ins Verhältnis zur Anzahl der Tests setzen  

Je mehr Tests durchgeführt werden, desto mehr positive Ergebnisse kann man erwarten. Daher sagen die Neuinfektionszahlen für sich genommen wenig über die Situation aus. Ein Beispiel: In der 18. Kalenderwoche (Ende April) gab es 8.321 Neuinfektionen, in der 36. Kalenderwoche (Anfang September) etwa genauso viele. Die Situation ist jedoch nicht die gleiche, denn in der Septemberwoche wurden mehr als dreimal so viele Tests durchgeführt. Man kann die Situation besser beurteilen, wenn man die Anzahl der positiven Tests („Neuinfektionen“) durch die Anzahl der Tests teilt.

Diese Positiv-Test-Rate war in der Aprilwoche 2,5 Prozent, in der Septemberwoche aber nur 0,8 Prozent. Wenn man nur auf die Neuinfektionen beziehungsweise die 7-Tage-Inzidenz blickt, könnte man meinen, man hätte es mit der gleichen Situation zu tun. Tatsächlich ist aber der Anteil der Personen, die positiv getestet wurden, zwischen der 18. und der 36. Kalenderwoche deutlich zurückgegangen. Erst seit Ende September hat sich dies wieder umgekehrt, als der Anteil der positiven Tests stetig anstieg und in der 42. Kalenderwoche (Mitte Oktober) 3,6 Prozent erreichte. Man kann also die absolute Anzahl der Neuinfektionen und auch die 7-Tage-Inzidenz der ersten „Welle“ im März und April nicht mit der zweiten Welle vergleichen. Der Vergleich der Positiv-Test-Raten ist informativer.

Um die Veränderung des Anteils der positiven Tests selbst zu beurteilen, muss man zudem sehen, dass heute andere Personengruppen getestet werden als in der ersten Welle. Während im Frühjahr klare Symptome und Kontakt zu Infizierten Voraussetzungen für eine Testung waren, wurden im Sommer zunehmend Massentestungen gefährdeter Personengruppen (zum Beispiel medizinisches Personal) und von Reiserückkehrern durchgeführt. Wenn man davon ausgeht, dass ausgeprägte Symptome mit einem schweren Krankheitsverlauf einhergehen, dass schwere Krankheitsverläufe bei älteren Menschen häufiger sind und dass umgekehrt Massentests eher an berufstätigen Personen im Alter von 18 bis 59 Jahren durchgeführt wurden, so ist leicht zu erklären, warum inzwischen deutlich mehr Fälle unter den jüngere Altersgruppen gefunden werden.

Das Infektionsgeschehen mag sich etwas in diese Jahrgänge verschoben haben, oder es scheint zu gelingen, ältere Menschen effektiver zu schützen. Dies erkennt man daran, dass die absolute Zahl positiv Getesteter unter den 60- bis über 80-Jährigen gesunken ist, während sie bei den Jüngeren ansteigt. Zugleich wird aber wiederum deutlich, dass die heutige Teststrategie die Dunkelziffer im Vergleich zum Frühjahr sehr viel besser erfasst.

Neuinfektionen ins Verhältnis zur Anzahl Verstorbener setzen

Obgleich die Anzahl der Neuinfektionen derzeit rapide ansteigt, ist das Verhältnis der Verstorbenen zu den zwei Wochen zuvor Infizierten deutlich gesunken. Unter den Erwachsenen bis 60 Jahre ist der Anteil der Verstorbenen an den zuvor positiv Getesteten um 90 Prozent zurückgegangen, unter den 60- bis 80-Jährigen um 80 Prozent und unter den noch Älteren um 50 Prozent. Zwei Studien in den USA und Großbritannien berichten, dass der Anteil der Verstorbenen stark zurückgegangen ist und zwar gleichmäßig für alle Altersgruppen. Das legt nahe, dass der Rückgang nicht alleine mit der höheren Anzahl von jungen, infizierten Menschen zu erklären ist. Vielmehr mag dieser zum Teil auf verbesserte Behandlungen zurückzuführen sein; schließlich haben wir gelernt, dass beispielsweise die vorschnelle Beatmung von Corona-Patienten in zahlreichen Fällen wohl zum Tod geführt haben dürfte.

Nicht auf eine einzige Zahl blicken

Ein Wert von 50 Fällen je 100.000 Einwohnern heute hat eine gänzlich andere Bedeutung als vor einem halben Jahr. Hinsichtlich der zu erwartenden Intensivpatienten und Todesfälle dürfte ein Wert von 50 im Oktober maximal einem Wert von 15 bis 20 im April entsprechen; vermutlich entspricht er einem noch geringeren. Der einzige Fall, in dem man rechtfertigen könnte, nur auf die 7-Tage-Inzidenz zu schauen, ist die Frage, ob die Gesundheitsämter die Zahl der Kontaktpersonen von Menschen mit positiven Tests noch nachverfolgen können. In allen anderen Fällen raten wir dringend, nicht alleine die Veränderung der 7-Tage-Inzidenz gegenüber der „ersten Welle“ zu betrachten, sondern zugleich die Veränderung der Positiv-Test-Raten und der Todesraten beziehungsweise den Anteil an Corona-Patienten auf Intensivstationen.

 

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.

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Volker Voegele / 31.10.2020

Das Coronavirus-Testen bzw. die veröffentlichen Zahlen dazu werden es zum „Spitzenreiter“ der „Unstatistiken des Jahres 2020“ bringen. Schon die Auswertung der PCR-Tests selbst ist nicht wirklich standardisiert, es gibt zudem viele Tests verschiedener Hersteller und eigentlich sollte man laut Herstellerangaben den Test nur bei Personen mit Covid-19 Symptomen vornehmen. Es braucht weiterhin schon viel Ahnungslosigkeit oder gar Dreistigkeit um so wirr bzw. konzeptlos zu testen und „Neue Fälle“ ohne normierenden Bezug, aber möglichst mit alarmierender „Zugabe“ zu präsentieren. Leider ist wahrscheinlich die Dreistigkeit überproportional häufig bei den klassischen „Informations“-Medien und in der Politik verbreitet – das wäre doch einmal einer statistischen Betrachtung wert?

Dietmar Richard Wagner / 31.10.2020

Da mehrmals Testen die Gewissheit (falsch positiv) erhöht ;-) könnte ich mich doch dreimal testen lassen. Im Gedankenexperiment leider immer positiv. Zählt das dann für die Statistiken als ein positiver Fall oder als drei positive Fälle?

Peter Holschke / 31.10.2020

Zahlen-Corona! Covid-Summerantentum! Solange der PCR-Test auf Gesunde angewendet wird, kann man das getrost unter Schwachsinn verbuchen. Was kommt als Nächstes? Der CO2-Überproduktionstest? Ein Dummentest dagegen wäre mal angebracht. Die Erfindung der Kasperfalle oder einem Idiotendetektor ist auch überfällig. Gott laß Hirn regnen!

Dieter Kief / 31.10.2020

Grazie!

Rupert Reiger / 31.10.2020

Unter dem Titel „Infektionszahlen reichen nicht: 6 Werte müssen Sie kennen, um Pandemie zu verstehen“ schrieb der Focus: „3. Dunkelziffer: Die Dunkelziffer meint die Zahl der Menschen, die zwar mit dem Coronavirus infiziert sind, davon aber nichts wissen und in der Meldestatistik nicht auftauchen. Sie sind in der Regel symptomlos oder zeigen nur so milde Krankheitszeichen, dass sie nicht zum Arzt gehen und einen Corona-Test durchführen lassen. Epidemiologen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer seit Beginn der Pandemie gesunken ist. Der Hintergrund: Inzwischen wird breiter getestet. Dadurch werden auch mehr Infizierte, die unter den ehemals deutlich strikteren Kriterien für einen Corona-Test nicht getestet worden wären und daher unerkannt geblieben wären, gefunden. Die Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Statistik, Katharina Schüller, schätzt die Dunkelziffer derzeit auf etwa 3. Das heißt, tatsächlich könnten etwa dreimal mehr Menschen infiziert sein, als es die offiziellen Statistiken nahelegen. Für den Mai, zu Spitzenzeiten der Pandemie, geht sie von einer Dunkelziffer von etwa 10 aus. Damals identifizierten die Gesundheitsämter von zehn tatsächlich Infizierten also nur einen. Oder andersherum formuliert: Auf einen nachweislich in der Statistik erfassten Infizierten kamen damals zehn unentdeckte Fälle. DIE FALLZAHLEN VON HEUTE HÄLT SCHÜLLER AUS DIESEM GRUND AUCH NICHT UNBEDINGT MIT DENEN AUS DEM FRÜHJAHR FÜR VERGLEICHBAR. „WIR ERWISCHEN MIT DEN TESTS HEUTE EINEN VIEL, VIEL GRÖßEREN TEIL DER DUNKELZIFFER DER INFIZIERTEN ALS DAMALS“, ERKLÄRT SIE. DIE GRÖßE DER DUNKELZIFFER KÖNNE ZWAR NUR GESCHÄTZT WERDEN, IHRE TATSÄCHLICHE GRÖßE SEI SCHWIERIG ZU BERECHNEN. „ABER DAS WÜRDE BEDEUTEN, DASS EIN GEMELDETER FALL AUS DEM FRÜHJAHR DREI GEMELDETEN FÄLLEN VON HEUTE ENTSPRICHT“, ANALYSIERT SCHÜLLER.“

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