Walter Krämer / 31.03.2017 / 11:51 / 4 / Seite ausdrucken

Unstatistik des Monats: Armes Deutschland

„Die Armut in Deutschland ist auf einen neuen Höchststand von 15,7 Prozent angestiegen.“ Diese Aussage in der Pressemitteilung zum Armutsbericht 2017 des Paritätischen Gesamtverbands ist die Unstatistik des Monats März.

„Nach Aussagen des Verbandes markiert dieser Höchstwert einen mehrjährigen Trend wachsender Armut. Er fordert die Politik zu einem entschlossenen Handeln in der Arbeitsmarktpolitik, beim Wohnungsbau, in der Bildung und dem Ausbau sozialer Dienstleistungen und Angebote in den Kommunen auf. Voraussetzung für eine offensive Armutsbekämpfung sei ein rigoroser Kurswechsel in der Steuer- und Finanzpolitik.“

Nach Lesart des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beginnt Armut in Deutschland unterhalb eines Einkommens von 60 Prozent des Medians. Der Median ist das Einkommen, welches von 50 Prozent der Bevölkerung über- und von 50 Prozent unterschritten wird. Ein Mensch mit Medianeinkommen hat also genauso viele andere über sich wie unter sich. Der ganze Unfug dieser Anbindung der Armutsgrenze an den Median wird deutlich, wenn man die Folgen einer realen Verdopplung oder Verdreifachung aller Einkommen überdenkt: Dann verdoppelt oder verdreifacht sich auch der Median und damit auch die Armutsgrenze, die Armut bleibt gleich, unabhängig davon, wie stark das reale Einkommen der vormals Armen wächst.

Erschwerend kommt hinzu, dass das im Mikrozensus erfasste Nettoeinkommen das im ökonomischen Sinn „wahre“ Einkommen nur sehr unvollkommen misst. Dazu zählt zum Beispiel auch Einkommen aus Schwarzarbeit. Nach Expertenschätzungen kommen so gerade in den unteren Einkommensgruppen und bei Sozialhilfeempfängern nochmals bis zu durchschnittlich 10 Prozent an Einkommen dazu. In Einzelfällen natürlich sehr viel mehr.

Zum „wahren“ Einkommen zählt ferner jede Produktion, die nicht am Mark gekauft, sondern im Haushalt selbst erwirtschaftet wurde. Nach Expertenschätzungen beträgt dieses am Markt vorbei erzeugte und nicht im Sozialprodukt erfasste Einkommen inzwischen über 100 Milliarden Euro jährlich; Ikea sei Dank, mit steigender Tendenz. Denn mit der Baumarktbranche und der Heimwerkerbewegung wächst auch die Haushaltsproduktion beziehungsweise das dadurch gesparte Geld. Und schließlich gehören zum wahren Einkommen auch die vielfältigen staatlichen Realtransfers. Würde man etwa, wie es die ökonomische Vernunft verlangt, die Ausgaben des Staates für eine Universitätsausbildung dem Einkommen des Elternhaushaltes zurechnen, wäre fast kein Haushalt mit studierenden Kindern in Deutschland heute arm. Würde man schließlich auf das Lebenseinkommen abzielen, würden auch viele Studenten und Auszubildende nicht mehr als arm eingestuft werden. 

Was die Armutsquote des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wirklich misst, wenn auch nur sehr unvollkommen, ist nicht die Armut, sondern die Ungleichheit. Oder, wie es der Paritätische Gesamtverband auf Seite 8 seines Berichts schreibt: „Wo keiner etwas besitzt, gibt es auch keine Einkommensungleichheit und damit keine Armut.“ Armut verschwindet nach diesem Armutskonzept nur, wenn alle Personen identisch dasselbe Nettoeinkommen haben, egal ob dies wenig ist (wie beispielsweise in Nordkorea) oder viel. 

Anders als in früheren Jahren, als die Medien die in diversen Armutsberichten kolportierten Quoten noch für bare Münze genommen und weiterverbreitet hatten, gab es dieses Mal auch Kritik. Es wäre zu hoffen, dass die vorliegende Unstatistik die letzte ist, die sich dem Thema Armutsquoten widmen muss.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de .

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Frank Müller / 31.03.2017

Ihre Kritik läßt die tatsächlichen Umstände unberücksichtigt. Die Reallöhne ingesamt sind zwischen 1992 und 2012 um 1,6% gesunken. Alle hatten also weniger. Allerdings die unteren Klassen noch weniger, betrachtet man die nicht-inflationsbereinigten Lohnerhöhungen zwischen 2007 und 2012. Da gab es die höchsten Steigerungen in leitenden Stellungen (15,5% plus), während ein ungelernter Arbeitnehmer nur 9,8% mehr bekam. Alles nachzulesen beim Statistischen Bundesamt. Und ich frage mich, ob Sie pauschal jedem Sozialhilfeempfänger unterstellen wollen, er arbeite schwarz. Oder daß es gerade den unteren Einkommensklassen gar nicht so schlecht gehe, denn die können sich ihre Möbel ja selbst zusammenbauen. So gesehen ging es den Bauern im Mittelalter geradezu formidabel, denn sie erzeugten sogar ihre eigene Nahrung und Kleidung!

Jochen Brühl / 31.03.2017

Nach der Messlatte des Paritätischen Wohlfahrtsverbands gibt es auf diesem Planeten zwei Länder ohne Armut - Nordkorea und Kuba. Außerdem ist der immer weitergehende Anstieg von Armut in Deutschland ein Naturgesetz, soweit Transferleistungsbezieher ohne Ausbildung und Fachkenntnisse ihr Einkommen durch Familienzuwachs steigern können, während sich in Lohn und Brot stehende Menschen einen solchen Familienzuwachs verantwortungsvoll überlegen. Daher ist ja auch die durchschnittliche Kinderzahl in den Haushalten mit Transfergeldbezugs am höchsten. Nebenbei erklärt dies auch die größer werdenden Bildungsdefizite und auch die Durchsetzungsstärke von aus dem Ausland zugezogenen Großfamilien.

Dr. Andreas Dumm / 31.03.2017

Man könnte auch sagen: Keiner wird durch ein (relativ) größeres Risiko benachteiligt, wenn alle tot sind. Und man sieht: Gleichheit mag als Ausdruck der Gerechtigkeit gelten, aber sie ist - mindestens tendenziell - destruktiv. Logische Schlußfolgerung: Der so verstandene Kampf gegen die so verstandene Armut ist destruktiv!

Klaus Reichert / 31.03.2017

Man bedenke auch das z.B. im Zehnjahresvergleich deutlich stärker als die Inflation gestiegene Durchschnittseinkommen. Obwohl sich die Bürger unterhalb des Durchschnittseinkommens also mehr von ihrem Geld leisten können bleiben sie nach dieser Definition arm und es gibt immer mehr von diesen “Scheinarmen”. Ganz automatisch.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com