Chaim Noll / 26.12.2024 / 06:00 / Foto: Pablo Picasso / 25 / Seite ausdrucken

Unsere wahre Stärke

Kunst kann magische Wirkung haben, indem sie unsere Hoffnung wachhält auf Schönheit, Güte und Harmonie.

Kunst, dachte ich früher, hat vor allem die Aufgabe, kritisch zu sein. Das Kritische konnte bis zur Anklage gehen, bis zur offenen Opposition gegen Staat und Gesellschaft, bis zur Provokation und Verachtung des Bestehenden. Ich wuchs auf in Berlin, als die Stadt noch weitgehend in Trümmern lag und wir täglich vor Augen hatten, was Mangel an kritischem Denken anrichten kann: gedankenloses Mitmachen, blinde Gefolgschaft, Duldung des Inhumanen, Krieg, Katastrophe. 

Wir waren sicher, dass sich Kriege verhindern ließen. Es lag nur an uns, ob wir künftig in Frieden lebten. Als Kinder malten wir Friedenstauben, später beschäftigten wir uns mit „Friedenspolitik“ und der dazu gehörigen Wissenschaft „Friedensforschung“, wir glaubten an „Frieden durch Entspannungspolitik“, wir waren sicher, dass die meisten Menschen auf der Welt Frieden wollten und es nur eine Frage kluger Politik sei, irgendwann den Idealzustand „Weltfrieden“ zu erreichen. Der die vernünftigste Form einer Weltordnung darstellt.

Deshalb war das Credo künstlerischer Reflexion, allen Kräften in der Gesellschaft zu opponieren, die für wirtschaftliche, politische oder sonst welche Vorteile einen Krieg zu riskieren bereit waren. Wir erweiterten unseren radikalen Ansatz auch gegen andere Fehlhaltungen: Ausbeutung und Profitgier, soziale Ungerechtigkeit, Kolonialismus, Rassismus. Der rigorose Moralismus, der sich daraus ergab, schuf eigene Formensprachen, neue Darstellungsweisen, und erwies sich dadurch – abgesehen von seiner humanistischen Legitimation – als Segen für alle Bereiche der Kunst. 

Dabei kam uns gar nicht oder zu spät in den Sinn, dass es Menschen, Gruppen, ganze Völker geben könnte, die unsere Idee einer vernünftig und friedlich regulierten Welt nicht teilen. Die darin keinen Sinn sehen. Wir zogen nicht in Betracht, dass es Weltanschauungen geben könnte, die Krieg, Gewalt und tausendfachen Tod zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht nur in Kauf nehmen, sondern hoch in Ehren halten, die im Märtyrertod und Opfern anderer die höchste Erfüllung sehen. Dass unsere kritische Kunst dort an ihre Grenzen stößt, weil sie auf ein elementares Missverständnis trifft. Weil dass, was wir für edel und human halten, dort als Schwäche empfunden wird, als Zeichen von Dekadenz und Kapitulation. 

Immer wieder überraschen uns einzelne Mitmenschen

Ähnlich steht es um Katastrophen und Krankheiten: Auch hier stößt unser kritisches Denken an seine Grenzen. Noch nie waren die Früherkennung von Katastrophen, der Schutz gegen sie und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung so weit gediehen wie heute – trotzdem suchen uns Flut und Dürre, Tornado und Hochwasser heim wie zu allen Zeiten, vielleicht sogar extremer als zuvor. Die Leistungen der modernen Medizin grenzen ans Traumhafte, dafür lauert neue Gefahr in bisher unbekannten Erregern, Klinikstämmen und überraschenden Epidemien. 

Auch die überlieferten menschlichen Psychogramme können wir nur gelegentlich und mit Mühe ändern, da die genetisch angelegte Diversität des Menschen erhalten bleibt, von habitueller Mordlust, Menschenhass, krimineller Energie und Neigung zu Rauschmitteln einerseits bis hin zu Mitgefühl, Empathie, Selbstaufopferung für Andere. Unverändert, trotz aller Volksbildung und Psychotherapie, bleibt auch die Diversität von geistig minderbemittelt bis hochbegabt. Immer wieder überraschen uns einzelne Mitmenschen sowohl durch fast ungeheuerliche Leistungen in wissenschaftlicher Intelligenz und künstlerischer Kreativität, andere durch abgrundtiefe Dummheit oder Grausamkeit ihrer Verbrechen. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“, schrieb der griechische Tragödiendichter Sophokles im fünften Jahrhundert vor Christus. Bis heute bleiben Menschen trotz Aufklärung, wissenschaftlicher Forschung und einem Übermaß an Information anfällig für ihre aus der Vergangenheit bekannten Sünden und Verfehlungen und bringen sich und andere ums Leben.

Wie der Katzenjammer nach dem Rausch

So folgt auf die Euphorie der Moderne, die sich anschickte, mit bisher ungeahnten Möglichkeiten die Gebrechen des Menschlichen bloßzulegen und zu überwinden, eine tiefe Ernüchterung. Sie ist wie der Katzenjammer nach dem Rausch, die Kehrseite zu hoher Erwartungen und Ansprüche an uns selbst. Wir bleiben gewöhnliche Menschen. Unser Höhenflug stößt an seine Grenzen: Zwar werden nach wie vor Wunder vollbracht, aber wir zahlen dafür einen hohen Preis. Das Internet hat unser Leben in einem früher undenkbaren Maß erleichtert und bereichert, aber zugleich ist es eine Schlangengrube voller Gift und Gefahren. Information in Überdosis erreicht den gegenteiligen Effekt, den der Verdummung. Die „Innere Sicherheit“, technisch besser ausgerüstet als je zuvor, scheitert an Massen von simplen Messerstechern, die über Europa hereinbrechen. Auch die Wunderwaffen geraten in die Hände unserer Feinde und wenden sich gegen uns selbst. 

Wie lernen wir mit dieser Enttäuschung umzugehen? Wie leben wir mit Rückschlägen, mit denen wir nicht gerechnet haben? Können wir schrumpfende Wirtschaftsleistung (wie derzeit in Deutschland) oder einen von außen aufgezwungenen, verlustreichen Krieg (wie in Israel) ertragen lernen? Als jemand, der sein Leben der Herstellung literarischer Texte verschrieben hat, frage ich mich, welche Aufgaben Kunst in der näheren Zukunft haben könnte. In Tagen unseres scheinbaren Scheiterns. Da wir trotz allem kritischen und aufklärerischen Bemühen erneut in Kriege hineingeraten, in Katastrophen und schwere Krisen. Ob es nicht Zeit ist, dass Kunst sich neben dem kritischen Ansatz, der weiter wirksam bleiben soll, auf andere Wege, auf früher bewährte Fähigkeiten besinnen muss. Auf unsere Möglichkeit, mit Mitteln der Kunst Trost zu spenden, Schmerz zu lindern, Solidarität mit dem Mitmenschen zu verbreiten. 

Der innergesellschaftliche Dissenz in vielen westlichen Ländern hat erschreckende Ausmaße angenommen, das Kritische geht nicht selten ins Toxische über. Die Risse vertiefen sich, die Fragmentierung in Bruchstücke, die Isolierung der einzelnen Menschen in einem Kokon aus Frustration und Egomanie. Was sie nun brauchen, ist nicht Bitterkeit und Kritik, sondern Zuspruch und Ermutigung. Kunst kann magische Wirkung haben, indem sie unsere Hoffnung wachhält auf Schönheit, Güte und Harmonie. Unsere wahre Stärke zeigt sich erst in Tagen der Krise und Depression.

 

Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel“.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der NZZ

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gerhard giesemann / 26.12.2024

Die Tauben sind müde ... . Yes and how many ears must one man have, before he can hear .... .

Gerd Maar / 26.12.2024

Leider sind Künstler und Kunstliebhaber nicht immer die besseren Menschen. Siehe Hitler und Göring.

Klara Altmann / 26.12.2024

Für mich ist Kunst viel eher dadurch definiert, dass sie uns in bildhafter Form etwas deutlich macht, das wir sonst vielleicht nicht oder nicht so klar verstanden hätten. Die Ästhetik kann auch ein Teil der Kunst sein, aber viel entscheidender ist für mich jene wahre Kunst, eine Botschaft zu überbringen, die wirklich ankommt. Da gibt es beispielsweise dieses Lied “Weeping” von Bright Blue, das die Geschichte eines Mannes erzählt, der hinter dem eigenen Haus einen Dämon hat, den er fürchtet und den er mit Feuer und bewaffneten Männern in Schach zu halten versucht. Und der Mann beruhigt sich selbst und alle anderen damit, dass durch die gewaltsamen Maßnahmen der fürchterliche Dämon gebannt sei und niemand sich fürchten müsse. Aber wenn man jedoch genau hinhört, dann brüllt dieser Dämon gar nicht, sondern er weint. Und spontan sah ich unsere Altparteien und Altmedien in der Rolle dieses Mannes, die vergleichbar mit Feuer und aus allen Rohren auf jenen Dämon schießen, für den sie die deutschen Bürger offenbar halten. Aber tatsächlich weint ein großer Teil unseres Volkes über das Unglück, das diese Menschen über es gebracht haben und darüber, dass diese Zustände nur immer schlimmer werden, da die Altparteien nur den Dämon sehen wollen, den sie aber letztlich selbst geschaffen haben. Und sie haben deshalb auch niemals nur einen Hauch von Mitgefühl mit uns, egal was sie uns antun, denn sie sehen in uns nur diesen Dämon, sie können nichts anders sehen. But: “It wasn’t roaring, it was weeping.” Das ist Kunst für mich. Ein Bild, das uns alles Wesentliche auf einen Blick erklärt.

Sabine Schönfelder / 26.12.2024

Ein klassisches Schönbeten unter „kunstsinnigen“ Aspekten. Fazit : Früher waren wir Künstler für Frieden, doch die Zeiten ändern sich. „Dabei kam uns gar nicht oder zu spät in den Sinn, dass es Menschen, Gruppen, ganze Völker geben könnte, die unsere Idee einer vernünftig und friedlich regulierten Welt nicht teilen.“ uppsss….das ist in ihrem Sinn ? ..und ist eine Berechtigung für Kriege, die wir führen und ertragen sollen ? Die Messer, die uns täglich angreifen, in Deutschland, werden p o l i t i s c h über enorme Anreize hier ins Land geholt. Nichts geschieht grundlos. Es gibt Ursache und Wirkung. Unsere wahre menschliche Stärke gestaltet sich vielschichtig, - wir verfügen über Intelligenz und Vernunft, empfinden Liebe und Mitmenschlichkeit, brauchen Freiheit und Aufrichtigkeit. Wie der Tango braucht auch jeder Konflikt zwei Parteien. Nehme an, die Völker, die „unsere Idee von Frieden und Vernunft nicht teilen“ sind immer zufällig die gegnerischen Kriegsparteien. Das zu eruieren, war jetzt keine Kunst…..

Karsten Dörre / 26.12.2024

Von Frieden träumen tun seit Äonen Kleinkinder und Pubertierende, wenn sie in Konflikte mit den Eltern und Erwachsenen geraten. Frieden sollte eigentlich schon mit der Geburt beginnen. Doch der Säugling braucht die Gewalt der Erwachsenen, um zu überleben.

Michael Schweitzer / 26.12.2024

Herr Noll,junge,kritische politische Rockbands in den 70er und 80er Jahren wollten durch ihre Botschaft die Welt verbessern. Nur damals galt Kritik am politischen System nicht als Hass und Hetze.Erst durch das Computerhandyzeitalter wird durch gezielte Indoktrination der Menschen durch Plutokraten mit Hilfe selbstgefälliger Hybridmainstreamaktivisten mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung destabilisiert und alles zerstört.  

L. Luhmann / 26.12.2024

Tja, es gibt immer Leute, die Lügen schwer von Wahrheiten unterscheiden können. In Deutsch Dodoland liegt die Quote bei etwa 75% ...

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