Thilo Sarrazin / 25.08.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 175 / Seite ausdrucken

Unsere verlorenen Illusionen

Als Michail Gorbatschow 1986 auf der Weltbühne erschien, von Glasnost und Perestroika nicht nur sprach, sondern sie auch in die Tat umsetzte, als 1989 die Mauer fiel und 1990 die deutsche Einheit folgte, als sich schließlich 1991 die Sowjetunion freiwillig selbst auflöste, schien das „Reich des Bösen“, von dem noch Ronald Reagan gesprochen hatte, plötzlich nicht mehr zu existieren. Und der amerikanische Politologe Francis Fukuyama traf mit seinem 1992 erschienenen Buch „Das Ende der Geschichte“ genau den Zeitgeist, dem auch ich damals anhing.

Mir schien sonnenklar, dass eine Kombination von kapitalistischer Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und aufgeklärtem, säkularem Sozialstaat jene unwiderstehliche Kombination sei, die über kurz oder lang in allen Staaten der Welt obsiegen und quasi die natürliche gesellschaftliche Daseinsform für den verbleibenden Rest der Menschheitsgeschichte sein werde.

Ich hätte mich nicht stärker täuschen können. In Ländern wie Iran, Afghanistan, Syrien und Russland sehen wir aktuell, dass es keineswegs des Kommunismus bedarf, um ein „Reich des Bösen“ zu schaffen. Wir sehen den Einfluss fanatischer Religionen (Iran) und völkischer Ideologien (Russland). Wir sehen aber auch, dass man dort, wo das Böse wirklich herrscht, ohne Weiteres auch ganz ohne Religion oder ideologische Konzepte auskommt (Haiti, Syrien, Somalia). In Regimen der reinen Gewalt gilt ungeschminkt das Recht des Stärkeren.

Woke Ideologien, die zum Religionsersatz werden

Das aufgeklärte westliche Modell, dem ich irrtümlich, wie Francis Fukuyama, die gesamte Menschheitszukunft zusprach, dominiert lediglich in Europa außerhalb des russischen Machtbereichs, in Nordamerika und in einem schmalen Kranz von Ländern in Fernost und Ozeanien (Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan, Australien, Neuseeland). Schon in Ländern wie Mexiko, der Türkei, Indonesien oder den Philippinen funktioniert es nicht. Und selbst dort, wo es noch dominiert, ist es gefährdet durch Geburtenarmut, kulturfremde Einwanderung, Populismus von links und rechts und durch allerlei woke Ideologien, die mehr und mehr zum Religionsersatz werden.

Versuche zum Export des westlichen Gesellschaftsmodells über seine angestammten Bereiche hinaus sind gescheitert, wie die Beispiele Irak, Libyen und Afghanistan zeigen. Es bleibt dem Westen nichts anderes übrig, als sich in der Welt einzurichten, so wie sie ist. Dazu gehört internationale Zusammenarbeit bei Handelsfragen, bei technischen Normen, beim Umweltschutz und bei grundlegenden Fragen des Völkerrechts. Dazu gehört aber auch der Verzicht darauf, sich zur moralischen Weltinstanz aufzuspielen. Insbesondere muss man der Versuchung widerstehen, sich überall dort einzumischen, wo aus westlicher Sicht irgendetwas moralisch oder politisch nicht in Ordnung scheint oder ist. So kam es zu den verheerenden Interventionen in Irak, Libyen, Syrien oder Afghanistan.

Gleichzeitig muss der Westen sein Gesellschaftsmodell schützen und seine Interessen wahren. Dabei ist die größte Gefahr eine gutmenschliche Naivität, die im selbstgerechten Meinungsklima des Westens besonders gut gedeiht. Niemals darf es bei Rohstoffen und bei technischer Expertise eine existenzielle Abhängigkeit von Staaten geben, die unserem Gesellschaftssystem potenziell feindlich gegenüberstehen, und niemals dürfen wir in die Lage kommen, uns gegen militärische Bedrohungen nicht ernsthaft wehren zu können. 

Der Westen muss mit seinen Kräften haushalten

In beiden Punkten war das deutsche Versagen während der letzten anderthalb Jahrzehnte elementar: Eine zugrunde gewirtschaftete Bundeswehr, die nach der öffentlichen Aussage ihres Generalinspekteurs bei allen wichtigen Ausrüstungsgegenständen „blank“ ist. Und eine Abhängigkeit von 55 Prozent bei den Energiebezügen aus Russland. Gegenwärtig werden unsere Grenzen erst in zweiter Linie durch die NATO beschützt, vor allem aber durch den Opfermut und die Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee.

Das demografische und wirtschaftliche Gewicht des Westens in der Welt ist kleiner geworden und wird sich in Zukunft weiter verkleinern, während China und Indien an relativer Stärke zunehmen. Der Westen muss mit seinen Kräften haushalten, auch militärpolitisch sollte er sich auf das jeweils Wesentliche konzentrieren. Das ist gegenwärtig und noch für eine Reihe von Jahren die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Überfall.

Auseinandersetzungen mit China sind dagegen weder nützlich, noch kann der Westen sie gewinnen. Dazu reicht es wirtschaftlich, demografisch und militärisch nicht – und je länger, desto weniger. Kissinger und Nixon leiteten vor 50 Jahren die Aussöhnung mit China ein, indem sie sich in der Taiwanfrage flexibel zeigten. Gegenwärtig diesen Konflikt wieder hochzuziehen, wie es durch den Besuch von Nancy Pelosi auf Taiwan geschah, zeugt von einem bestürzenden Mangel an Urteilskraft bei Deutschlands größtem und wichtigstem Verbündeten.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Foto: Achgut.com

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Rainer Möller / 25.08.2022

Ich wusste gar nicht “unsere Grenzen” durch Russland bedroht und von der ukrainischen Armee geschützt werden. Herr Sarrazin, danke für den Hinweis und vielleicht können sie auch einen Beleg dafür geben?

lutzgerke / 25.08.2022

Aber Herr Sarrazin, lesen Sie denn die Verträge nicht, welche die “Hohen Vertragsparteien” miteinander ratifizieren und was die sonst noch alles beschließen? “Dieser Vertrag stellt eine “neue Stufe” bei der “Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas” dar, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden.” Wer sind die “Hohen Vertragsparteien”? Das sind Leute, die hinter unser aller Rücken ihr ganz privates Ermächtigungsding durchgezogen haben. Was bedeutet, “neue Stufe”? Was war dann die “alte Stufe”? Dieser Typen geben per amtlicher Urkunde zu, daß sie seit Jahrzehnten Teil eines globalen Komplotts sind und damit am Bürger vorbei werkeln! Was bedeutet “immer engere Union”? Es gibt wohl nichts bürgerferneres als der Brüssel-Sumpf; je größer der Staat, desto kleiner der Bürger. Zumindest soweit sollte das Nachdenken reichen. Deshalb entsprang daraus die geniale Idee: Wir müssen den Bürger mitnehmen! Daran haben Sie geglaubt?    

Heinrich Wägner / 25.08.2022

@Schneegass , ich weiß nicht ob sie meine Zeilen gelesen haben ,werder Herr Schneegass aber da gehe ich voll mit ,Stuß . MfG. G.W.

Ottmar Zittlau / 25.08.2022

@Martin Viebahn Herr Viehbahn, ich schrieb übrigens von “Gegensanktionen”...den ersten Stein haben andere geworfen!

Maria Burg / 25.08.2022

Liebe Johanna Walraven, Sie haben ja so Recht. Was unterscheidet denn die Annexion der Krim von der Annexion Ostpreußens? Richtig! Im Falle der Krim gab es eine Volksabstimmung, ob gefaked oder nicht, weiß ich nicht. Im Falle Ostpreußens gab es keine Volksabstimmung, stattdessen vielhundertausendfachen Tod, Mord und Vergewaltigung. Ich, eine gebürtige (und vertriebene) Ostpreußin, verstehe nicht den Hype um ein ersichtlich korruptes Regime. Nein, ich meine nicht Russland, ich meine die Ukraine. Ich fordere die Befreiung meiner Heimat. Ich fordere die Befreiung Ostpreußens.

Dr. Kathleen Hengstenberg / 25.08.2022

Herr Dr. Sarrazin arbeitet mit Fakten. Dazu zählt er auch die Unabdingbarkeit der Verteidigungsfähigkeit eines Landes. Es ist Fakt, dass seit memoria hominum Kriege rund um den Globus Menschen veranstaltet haben, und sie es weiterhin tun. …Wenn Jesus zu seinen Jüngern sagt (sinngemäss), „ kommt ihr in ein Haus, sagt als erstes:“Friede sei mit Euch!“. .. Wir sagen auch „Shalom“ und „Salem“, und „Peace“, „Pace“„“Paz“, „Paix“ „Paxnobiscum“ etc. zu einander. So drücken wir dem uns begegnenden Menschen den Frieden als einen höchsten Wert aus. Was ist Friede? Ist er denn ein „Wert“ des Wertewestens?  ! Über ihn ohnende offen zu sprechen und ihn zu ersehnen, zu erreichen hoffen, eine humanistische Grund-Verpflichtung ist!?!

Ulrich Kaiser / 25.08.2022

Es geht um wesentlich mehr als ein “Inselchen” von der ungefähren Größe Belgiens vor der Küste Chinas. Ähnlich wie die Ukraine nur die “Vorspeise” des russischen Imperialismus ist (um beim Bild zu bleiben: hoffen wir, dass Russland sich eine Magenverstimmung holt), wäre Taiwan nur der “Appetizer” für die “Volksrepublik”. Chinas Anrainerstaaten mit gemeinsamen Land- und Seegrenzen werden es bestätigen. Es ist deshalb inkonsequent, der Ukraine bei der Verteidigung gegen Russland materiell zu helfen, aber dafür zu plädieren, die “Volksrepublik” im Falle Taiwans nicht zu “reizen”. Und wenn es falsch war, sich ökonomisch in Abhängigkeit von Russland zu bringen, so war dies auch im Fall der “Volksrepublik” falsch - und muss korrigiert werden. Auch wenn das noch schwerer fallen dürfte.

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