Es sieht so aus, als wäre die Union das willenlose Opfer von Grünen und SPD. Doch handelt es sich vielleicht einfach um Wählertäuschung zwecks Machtgewinn? Ist die Union also doch kein Zombie, sondern ein äußerst anpassungsfähiges Chamäleon?
Obwohl SPD und Grüne mit ihrer Ampelkoalition krachend gescheitert sind und vom Wähler abgestraft wurden, scheinen sie sich in den Sondierungs- und Koalitionsgesprächen gegenüber der Merz-CDU so klar durchgesetzt zu haben, dass Noch-Verteidigungsminister Pistorius im Interview mit dem „Stern“ triumphierte: „Wir haben sie nicht eine Sekunde in unseren Vorgarten gelassen!“
Wer für diesen unerwarteten Rollentausch zwischen Wahlverlierern und (na ja: halbem) Wahlsieger eine sprachliche Metapher aus dem Tierreich sucht, stößt zunächst auf die Redewendung mit dem Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Soll heißen: Überraschenderweise dominiert der Schwächere den Stärkeren. Noch treffender ist vielleicht eine andere Metapher, die das Verhältnis zweier Insektenarten zueinander betrifft. Und da Insekten – wenn es etwa nach den Grünen geht – keineswegs eklig, sondern unser nützliches und nahrhaftes „Super Food“ der Zukunft sind, ist es auch nicht ungehörig, sie für eine Parabel zum Verständnis der politischen Entwicklung dieser Tage heranzuziehen.
Juwelwespe und Großschabe
Die giftig bunte, im Pazifikraum beheimatete Juwelwespe (Ampulex compressa) hat nämlich eine ganz besondere Weise gefunden, für die Aufzucht ihrer Brut zu sorgen. Sie bedient sich dafür der Großschabe (Periplaneta americana) als Wirtsorganismus. Trifft ein Wespenweibchen auf eine Schabe (die man sich als behäbigen Riesen vorstellen mag), setzt es zwei gezielte Stiche in deren Zentralnervensystem und Gehirn. Der im Wespengift enthaltene Neurotransmitter Dopamin lähmt die Vorderbeine der Schabe, schaltet ihre Verteidigungs- und Fluchtimpulse aus und verwandelt sie in eine gefügige Marionette. Anstatt sich zu wehren, beginnt die Schabe nun, sich unentwegt zu putzen.
Sodann beißt die Wespe einen der empfindlichen Schabenfühler ab und benutzt ihn als Strohhalm, um sich durch die entstandene Öffnung erst einmal am Blut ihres Opfers zu stärken. Da sie zu klein ist, um die um ein Mehrfaches größere Schabe zu tragen, führt sie diese an dem anderen Fühler wie ein Hündchen an der Leine zu einer vorher gefundenen Höhle. Dort legt sie ein Ei, klebt es an einem der Schabenbeine fest und verschließt die Höhle mit Zweigen. Im Laufe der folgenden Woche dringt die Wespenlarve in den Körper der Schabe ein und benutzt ihn als lebende Speisekammer, bis die Schabe schließlich verendet und die junge Wespe die Höhle verlässt.
Gesteuert vom Willen der Juwelwespe, wird hier die Großschabe zum „Zombie-Insekt“, zu einem wehr- und willenlosen Opfer, einer bloßen Hülle, in der nicht mehr das ursprüngliche Tier, sondern ein fremder Organismus lebt.
Übertragen auf die schwarz-roten Koalitionsverhandlungen wäre somit aus der CDU, die sich ja nicht nur der SPD, sondern nun auch den Grünen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hat, eine Zombie-Partei geworden. Hatte sie vor der Wahl noch vollmundig die Schuldenbremse verteidigt und eine entschiedene Migrations-Wende angekündigt, setzt sie nach der Wahl das gewohnte Programm des Links-Organismus um, den sie in sich hineingelassen hat und der sie nun unaufhaltsam von innen aushöhlt. Auf der schwarzen Hülle der Großschabe steht noch „CDU“, aber ihre Bewegungen lenkt die rot-grün schillernde Wespe.
Wer dominiert hier wen?
Der Vorgang könnte allerdings vielschichtiger sein, als er sich auf den ersten Blick darstellt. Die CDU hat ja die Bundestagswahl nur deshalb gewonnen, weil sie inhaltliche Anleihen bei ihrem erklärten Hauptfeind AfD genommen, somit – um im Bild zu bleiben – von dessen Blut getrunken hatte. Sie hatte sich im Wahlkampf sozusagen in eine AfD-light verwandelt. Nachdem sie ihr Wahlziel erreicht hat und stärkste Partei geworden ist, nimmt sie nun eben die Farben ihrer anderen ehemaligen Gegner und neuen Koalitionspartner an. „Mimikry“ nennt das der Biologe. Wählertäuschung zwecks Machtgewinn. Also doch kein Zombie, sondern ein äußerst anpassungsfähiges Chamäleon?
Wenn es überdies stimmt, dass Friedrich Merz schon vor Monaten geplant hat, SPD und Grüne mit ihren Vorschlägen nach einer Aufweichung der Schuldenbremse erst öffentlichkeitswirksam auflaufen zu lassen, nur um am Tag nach der Wahl eine noch nie dagewesene staatliche Neuverschuldung in der astronomischen Höhe von über einer Billion Euro anzukündigen, müssten wir die Rollen schon wieder vertauschen. Dann wären SPD und Grüne die Schabe gewesen und die Merz-CDU die durchtriebene Wespe.
Der manchmal eher altbacken und aus der Zeit gefallen wirkende CDU-Chef hätte sich dann als äußerst gelehriger Schüler seiner einstigen Parteifeindin erwiesen, einer unübertroffenen Großmeisterin der Mimikry. Angela Merkels Strategie war es stets gewesen, systematisch die Positionen ihrer Gegner zu übernehmen, deren Kernprojekte zu verwirklichen, Rot-Grün dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen und sich selbst an der Macht zu halten. Ihre Partei, der sie damit 16 Jahre Regierungszeit verschaffte, dankte es ihr mit devoter Unterwerfung, die bis heute wirksam ist, wie man an den erfolgreichen Interventionen der Altkanzlerin in den letzten Wochen ersehen kann. Auch im Verhältnis zwischen Merkel und der CDU passt wieder das Bild von Wespe und Schabe.
Wer wählt ein Chamäleon?
Denn der Preis für die Macht war so schwindelerregend hoch wie das jetzt von CDU, SPD und Grünen geplante „Sondervermögen“. Wenn die CDU je eine Seele hatte, hat sie sie in der Merkel-Ära verkauft und zwar unwiederbringlich, wie sich in diesen Tagen zeigt, in denen zentrale Wahlversprechen kassiert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden. Die Partei hat ihre einstige bürgerlich-konservative Identität verloren. „Wer bin ich?“, fragt sie, „und wenn ja, wie viele?“
Hin und wieder mögen einzelne Mandatsträger der CDU noch Phantomschmerzen quälen. Dann träumen sie davon, der glitschig-wendigen Amphibie, zu der ihre Partei mutiert ist, wieder ein Rückgrat einzuziehen und ihr zum aufrechten Gang zu verhelfen. Doch das bleibt ein völlig haltloser Traum. Nicht nur die eigene Substanzlosigkeit, sondern auch die selbst errichtete „Brandmauer“ gegen die AfD sowie die mit Steuergeldern reichlich ausgestattete und beliebig lenkbare rot-grüne „Zivilgesellschaft“ nebst angeschlossenen Medien versperren der CDU jede Möglichkeit der Umkehr und Rückverwandlung.
Das ist die bittere Lehre fürs nächste Mal, die dem CDU-Wähler bleibt: Du kannst einem Chamäleon nicht vorwerfen, dass es sich auch wie eines verhält. Nur solltest du einem solchen Tier niemals wieder das Schicksal des eigenen Landes anvertrauen.
Oliver Zimski ist Übersetzer und Autor. 2024 erschien sein neuer Roman „Jans Attentat“.