Michael Wolffsohn, Gastautor / 06.12.2014 / 14:58 / 24 / Seite ausdrucken

“Unglücklich das Land, das Helden nötig hat”

Michael Wolffsohn

Es ist die Kernaufgabe des Staates, seine Bürger zu schützen. Wenn er aber von ihnen Zivilcourage verlangt, bringt er sie oft in tödliche Gefahr. Der Fall von Tugce A. ist ein trauriger Beweis dafür.

Lang und länger wird die Opferliste der Zivilcourage. Jetzt Tugce A., vor fünf Jahren Dominik Brunner. Die junge, mutige, hilfsbereite, schöne deutschtürkische Studentin Tugce A. wollte jungen Frauen helfen, die von Männerpack belästigt wurden. Das Männerpack wurde dann zum Mordpack. Tugce war ihr Opfer.

Ähnlich erging es Dominik Brunner im September 2009 auf dem Bahnhof des Münchner Nobelviertels Solln. Er hatte vier Schüler vor drei Jugendlichen in der S-Bahn schützen wollen. Die Angreifer wandten sich schließlich ihm zu. Er wurde ermordet. Nach seinem Tod erhielt der ermordete Schutzengel Dominik Brunner zahlreiche Auszeichnungen für seine Zivilcourage. Gleiches erwartet – nach ihrem Tod – Tugce A.

Ich bewundere und verehre diese beiden Menschen. Als Menschen wollten sie Menschen gegen Angriffe von oder gar Mord durch Unmenschen schützen. Ich wage und belege aber eine scheinbar ketzerische These: Diese beiden Helden der Menschlichkeit sind nicht nur Opfer von Unmenschen, sondern auch von wohlmeinenden Gutmenschen, die immer wieder von den Bürgern Zivilcourage fordern und sie – ungewollt, versteht sich – quasi in den Selbstmord treiben.

Vor sechs Jahren habe ich einen Text veröffentlicht und genau diese im wahrsten Sinne des Wortes mordsgefährliche Entwicklung vorhergesagt. Natürlich wurde allseits heftig widersprochen. O, wäre ich doch durch den Gang der Dinge widerlegt worden. In meinem Artikel hieß es: “Zivilcourage zeigen!”, rufen Politik, Polizei und Publizistik den Bürgern zu. Das hört sich gut an und wird auch gut von guten Bürgen angenommen, denn “Zivilcourage” ist etwas Gutes, und wer wollte nicht zu den Guten gehören?

Doch Vorsicht, jener vielstimmige Aufruf ist nicht stimmig, denn Politik, Polizei und Publizistik gefährden damit gerade die zivilcouragierten, mitmenschlich gesinnten, guten Bürger. Besonders Politik und Polizei, also “der Staat”, schiebt auf diese Weise seine elementare Verantwortung ab. Der Staat ist für die Bürger da, nicht die Bürger für den Staat, wenngleich natürlich ohne Bürgereinsatz und Bürgersinn “kein Staat zu machen ist”.

Bezüglich der Schutzfunktion des Staates gibt es nichts zu rütteln. Seine Grundaufgabe war, ist und bleibt: der Schutz seiner Bürger nach innen und außen. Nur deshalb kam es, historisch betrachtet, überhaupt zur Gründung von Staaten oder staatsähnlichen Gebilden. Wenn der Staat den Bürgerschutz den Bürgern zuschiebt, stellt er seine Grundaufgabe von den Füßen auf den Kopf – und damit die “Wurzel” seiner selbst, seiner Staatlichkeit, infrage.

Diese “radikale” Sichtweise ist hierzulande verloren gegangen, und sie hat, jenseits des Radikalen, im Alltagsleben fatale (also wörtlich “schicksalhafte”) Folgen. Die vom selbst abdankenden Staat zur “Zivilcourage” aufgeforderten Bürger werden tödlichen Gefahren ausgesetzt.

Das war der “Lohn” für seine Zivilcourage: Der gebürtige Ghanaer Kofi A. (51) wollte in Berlin eine Mutter und ihre Tochter vor böllernden Jugendlichen beschützen. Jetzt geht er an Krücken. Ähnliches passiert auch in Bayerns scheinbar braven Hauptstadt ständig. Doch unverdrossen ermuntert Münchens Polizeipsychologe die Bürger, “Zivilcourage” zu zeigen. Landauf, landab dominieren diese scheinklugen Empfehlungen.

Wegschauen? Um Himmels Willen. Hinschauen? Ja! Aber nicht selbst total falsch zu verstehende und falsch verstandene “Zivilcourage” zeigen. Jeder Bürger soll “den Staat” verpflichten, seine Pflicht zu erfüllen: die Bürger zu schützen. Daher: Sofort die Polizei rufen. Die Polizei kann natürlich nicht überall sein. Das ist die eine Seite. Die andere: Die Polizei ist überfordert und unterfinanziert. Das wiederum ist nicht nur schuld “der” Politik, sondern auch und vor allem der Bürger selbst.

Die Mehrheit der deutschen Bürger will nämlich vom Staat Soziales und Sicherheit. Zwar ist jetzt die Staatskasse voller als zuvor, aber nicht voll genug, um diese beiden und andere wichtige Staatsaufgaben zu erfüllen.

Wenn die Bürger, A sagend, zu Recht mehr “Sicherheit” fordern, müssen sie auch B sagen und auf Staatsaufgaben in anderen Bereichen verzichten. Auch die vom Staat angebotene “Speisekarte” kann keiner aufessen, man muss wählen. Das tun die Bürger in unserer Demokratie. Sie müssen entscheiden, was sie wollen. Alles bekommen sie nicht. Die Angebote der Parteien für die “Speisekarte” sind, trotz aller Gemeinsamkeiten der Demokraten, klar unterscheidbar.

Der gute alte BB, Bert Brecht, wusste es genau: Er beklagte nicht den Staat, der keine Helden hat, sondern der Helden braucht. Auch deshalb war der im Jahre 2000 in Deutschland staatlich inszenierte “Aufstand der Anständigen” eine leichtfertige Gefährdung der Staatsbürger. Auch deshalb ist der Ruf nach Zivilcourage nicht nur die Abdankung des Staates als Beschützer seiner Bürger nach innen und außen. Er ist die Aufforderung des versagenden Staates an seine Bürger, Selbstmord zu wagen, weil der Staat Mord nicht verhindern kann.

Zuerst erschienen in DIE WELT

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Leserpost

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Sabine Maier / 08.12.2014

@Horst Jungsbluth, was soll Broder können???? Darüber hinaus kann ich nicht erkennen, dass Herr Wolffsohn in seinem Beitrag an irgend einer Stelle das alles geschrieben haben soll, was Sie zitieren.

Dr.Hans-Joachim Radisch / 08.12.2014

Die Effekte der durch unsere Politiker scheinheilig gefeierten und geforderten Zivilcourage sind noch viel schlimmer als ein sich in seinen Kernaufgaben selbst aufgebender Staat: Erkennbar lassen feige Politiker, denen die Preisgabe des Schutzes der Bürger durch den Staat zugunsten des Scheines eigenen Gutmenschentums gegenüber Verbrechern ein Herzensanliegen ist, gerade diese Verbrecher eine Drecksarbeit erledigen, die für die sich die Politiker selbst (noch) zu schade sind. Sie lassen Zivilcourage mit den wenigen, die sie noch an den Tag legen, öffentlichkeitswirksam ausrotten und beweisen mit Krokodilen die Opfer. Tatsächlich sind es couragierte Menschen wie diese Opfer, die sie mit Recht am meisten fürchten; wären sie doch diejenigen, die bürgerverachtende Politikern, die wehrlosen Bürgern den staatlichen Schutz vor Verbrechen verweigern, am ehesten in die Schranken verweisen könnten. Solange marodierende Schläger aufrechte Bürger ungestraft erledigen können, muß sich keine unserer staatstragenden Parteien mit der potentiell imageschädigenden Beschäftigung eigener Schlägertrupps angreifbar machen, um den Bürgern die notwendige Fügsamkeit in die politisch gewünschte Botmäßigkeit beizubringen.

Axel Knappmeyer / 07.12.2014

“Engagiert euch in Vereinen - das Ehrenamt!” Dieser Aufruf geht in die gleiche Richtung: Alles machen und das dann kostenlos. Als Nachtwächterstaatanhänger plädierte ich nichtsdestoweniger für eine starke Polizei, die - gemäß R. Giulianis “Zero Tolerance”-Strategie - jenes Mordpack so gut es geht am Kragen packt, um es schnurstraks einem ordentlichen Gericht zuzuführen - ohne Ansehen der Person. Ob nun der autochthone “White-Trash” oder allochthone Pöbel, mit oder ohne Migrationshintergund: im Vordergrund steht blanker (Selbst)Hass und Verachtung von universellen Mindeststandards, die es mit unvermittelter Härte zu verteidigen gilt. Hier schrieb einer pointiert, dass man den Friedliebenden und Verständnisvollen schwierig deren sehr sympathischen Lebenssichten nehmen könne, um sie temporär verteidigungsbereit zu sehen - sprich zur Not mit Gewalt den Hassliebenden und Blindwütigen zu stoppen. Deswegen braucht’s den Staat (oder wem der Begriff nicht gefällt, zB den modernen Kommunisten, die ja alle Angst auf den Staatsfetisch projizieren, mag ja einen anderen wählen: Organisation? Verein? Administration? Verwaltung?), der Individuen dazu befähigt, in Uniform den Verächtern der Demokratie und der Freiheit des Einzelnen klare Kante zu zeigen: bis hier her und nicht weiter, sonst Knast. Der Dank gilt den Polizeibeamten, die das tagtäglich unterbezahlt vollziehen.

Horst Jungsbluth / 07.12.2014

Man kann Herrn Prof. Wolffsohn nur zustimmen zu seiner Analyse. Besonders folgende Feststellungen bringen es auf den Punkt: Gehören Sie auch zu den Zeitungslesern und TV-Zuschauern, die sich darüber wundern, wie über Israel und den Palästina-Konflikt berichtet wird? Wenn es schon stimmen soll, wie Broder behauptet, durch seinen Schwanz furzen zu können, so sollte dies nicht zum Anlass genommen werden, gehässig und von dem Wunsch getrieben, Israel möge endlich von der Landkarte verschwinden. Halten Sie es für möglich, dass die Journalisten beieinander abschreiben und nicht das berichten, was sie sehen, sondern was sie sehen wollen bzw. sollen?” Wir sind aufgefordert, in uns zu gehen, und uns nicht vor der Presse zu verbeugen. Nein, das hat die tapfere junge deutsche Frau mit Migrationshintergrund nicht verdient.

Peter Germann / 07.12.2014

Leider präsentiert Herr Wolffsohn vollkommen unkritisch das schöne Bild der schönen heldenhaften Türkin mit mustergültigem Integrationshintergrund. Es ist kennzeichnend für den katastrophalen Zustand unserer Medien, dass sich sachliche, um Aufklärung bemühte Auseinandersetzungen mit den Geschehnissen um Tuğçe Albayrak ausschließlich in Internet-Blogs finden.

Wolfgang Pfeiffer / 07.12.2014

@ Michael Lorenz: Der Tagesspiegel (1.9.2013) zumindest hat die Herkunft der Polizistenprügler damals bekannt gegeben: “Die beiden türkischstämmigen Brüder Bahadir und Ilyas Ö. hatten in der Karl-Marx-Straße die Fahrerin eines Streifenwagens nach Polizeiangaben erst angebrüllt, sie solle schneller fahren und dann den Wagen ausgebremst.  Die 26 und 19 Jahre alten Neuköllner stiegen aus; im Verlauf dieser Auseinandersetzung bekam die 33-jährige Kommissarin einen Schlag ins Gesicht verpasst.” Was ist da eigentlich los: Sind Polizisten in Deutschland neuerdings schutzlos unbewaffnet? Oder dürfen sie ihre Waffen nicht mehr benutzen? In dieser Logik - Schläger müssen von Polizisten ohne Waffen gestoppt werden - wird die Forderung an Zivilisten, ebenfalls wie Polizeibeamte ihr Leben zu riskieren, nachvollziehbar. Irre, aber logisch.

Markus Sommer / 07.12.2014

Tugce A. mag in der Toilette jemanden geholfen haben. Allerdings zu einem späteren Zeitpunkt ging sie auf dem Parkplatz, ohne ersichtlichen Grund, auf einen Wüterich zu, der von seinem Freund mit Mühe in Schach gehalten wurde und erlitt dabei einen tödlichen Faustschlag. Ohne Not begibt man sich doch auch nicht in die Nähe eines gefährlichen Tieres.

Joachim Wahl / 07.12.2014

Bedauerlicherweise ist es besser für den “Mutigen”, bei seinem Einsatz zu versterben. Falls ein Angreifer zu Schaden kommen würde, stünde dem Retter die gesamte Staatsmacht entgegen. Die Verlogenheit des Staates kennt keine Grenzen. Soviel zur “Zivilcourage”.

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