Ungarn ist – trotz medialer Verteufelung – ein schönes und vor allem sicheres Land für alle, die irgendwie anders sind.
Am Ausgang der Flughafenhalle, gleich neben der gläsernen Drehtür, stehen zwei junge Juden, deutlich als solche erkennbar, mit Kipa, Schläfenlocken, aufgeschlagenen Büchern in Händen, wahrscheinlich lesen sie die Minchah, das Nachmittagsgebet. Sie werden von niemandem besonders beachtet, daher wirken sie völlig entspannt, heiter, in ihren Text vertieft. „How are you?“, frage ich im Vorübergehen. „Oh, we are great“, antwortet einer, sieht mich kurz an, grinst und blickt zurück ins Buch.
Ich gestehe: Ich habe für Ungarn eine Schwäche. Seit meiner Jugend. Zum ersten Mal war ich hier mit zwanzig, das ist fünfzig Jahre her. Wenn man so will, ist Budapest eine Jugendliebe, und nun kehre ich zurück, treffe sie erneut, Jahrzehnte später, was immer heikel ist. Das Wiedersehen kann eine Enttäuschung sein, eine unwillkommene Ernüchterung, die den früheren Zauber infrage stellt und, schlimmer noch: die eigene Urteilsfähigkeit. Bei meinem ersten Besuch kam ich aus Ost-Berlin und empfand sofort ein starkes Gefühl der Befreiung, der Erleichterung.
„Budapest war damals ein Ort der Sehnsucht für Ostblock-Kinder“, schrieb ich 2014 in meinem Erinnerungsbuch Schmuggel über die Zeitgrenze. „Die vergleichsweise liberale Wirtschaftspolitik des Landes duldete private Unternehmen und machte das tägliche Leben leichter und lustiger. Die relative Bewegungsfreiheit, auch in westliche Länder, die der ungarische Staat zumindest den als ‚zuverlässig‘ geltenden Staatsbürgern einräumte, nahm den Menschen in diesem Land einen Gutteil des psychischen Drucks, unter dem die meisten Ostdeutschen litten. Daher war die Stimmung in Ungarn ungleich entspannter, heiterer als in der DDR, weniger Verbote und Einschränkungen, weniger grimmige Gesichter und sinnlose Schikanen, obwohl sich auch dieses Land ‚sozialistisch‘ nannte und zum Warschauer Pakt gehörte.
Budapest ist mir als generös, südlich-sonnig, voller Bewegung in Erinnerung. In den warmen Sommernächten lagen in den Parks am Donau-Ufer die Liebespaare, überall, ganz offen, auch wir lagerten uns dort irgendwo – in Ost-Berlin hätte uns wahrscheinlich die Volkspolizei weggeschafft. Die ganze Reise war eine Erkundung von Unerlaubtem, zu Hause Undenkbarem. (…) Wir taten in Ungarn vieles, was 'man nicht tun soll', trampten ohne Geld zum Balaton, übernachteten in Heuschobern und leeren Scheunen und schlossen Bekanntschaft mit jungen Leuten aus dem Westen…“
Verdammung als die beste Empfehlung
„Ungarn ist anders“ heißt ein Buch meines Gastgebers Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts am Corvinus Collegium Budapest, einer Bildungseinrichtung für junge Leute. Ich hielt dort einen Vortrag und stellte mich der lebhaften Diskussion. Der Ort eine Art Studentencafé, lockere Sitzordnung, Kommen und Gehen, Campus-Atmosphäre. Ich war gewarnt worden, das Corvinus Collegium sei „umstritten“, „rechts“ und stünde Viktor Orbán nahe, dem von deutschen Medien verteufelten Premierminister Ungarns. Ich erinnere mich an den Aufschrei linker deutscher Meinungswächter, als Tübingens Bürgermeister Boris Palmer dort eine Einladung annahm. Auch aus diesem Grund bin ich hingeflogen. Man hat diese Art deutsche Alleswisser inzwischen so satt, dass eine Verdammung durch sie die beste Empfehlung ist.
Und dann war natürlich viel Neugier im Spiel und, wie gesagt, Erinnerungen. Die Frage, ob ein Ort, der auf mich als Zwanzigjährigen solchen Zauber ausübte, mir immer noch sympathisch ist. Schon im Flugzeug umfing mich viel Heiterkeit, unter den Mitfliegern auffallend viele Deutsche, ältere und jüngere. Tausende Deutsche wandern jährlich nach Ungarn aus, einen von ihnen, einen Jugendfreund meiner Frau, inzwischen um die Siebzig wie wir selbst, sollte ich am Abend treffen. Er lebt auf dem Land, wo man gute, geräumige Häuser für weniger als hunderttausend Euro kaufen kann, die Krankenversicherung beträgt einen Bruchteil der deutschen, dabei ist das Gesundheitswesen nicht schlechter, auch die Steuern halten sich in humanen Grenzen. „Wir haben alle diese Sorgen nicht mehr“, sagte der alte Freund. „Wir haben eigentlich keine Probleme.“
Ungarn ist anders – schon vom Individuellen her. In seinem Buch beschreibt Bence Bauer seine zehn Millionen Landsleute als „zehn Millionen Freiheitskämpfer“. Es sei daher immer wieder ein Problem für fremde Vorherrschaft gewesen, Ungarn zu unterwerfen. Im Lauf der Jahrhunderte wurden Eigensinn und Eigenständigkeit feste Bestandteile der ungarischen Identität. Der durchschnittliche Ungar – eine solche Figur einmal zwecks Generalisation kurz angenommen – sei kein Mitläufer und Anpasser wie anderswo, sondern ein potenzieller Rebell. „Seine Höhepunkte fand der ungarische Freiheitsdrang“, schreibt Bauer, „in der Geschichte in Revolten, Aufständen und Revolutionen gegen Osmanen, Habsburger und Sowjets.“ Daher ist der Widerstand dieses kleinen Landes gegen die erdrückende Bevormundung durch die Europäische Union ganz und gar ungarisch, in der Tradition dieses Volkes, und die Politik Viktor Orbáns, die diesem Freiheitsdrang Rechnung trägt, in Ungarn überaus populär.
Ungarisch-jüdisches Leben
Im täglichen Umgang sind die meisten Ungarn auffallend höflich und galant. Man sagt dort immer noch zur Begrüßung einer schönen oder respekteinflößenden Dame csókolom, „Küss die Hand“. Über Ungarn liegt, auf den ersten Blick, eine bewährte Nonchalance. In der Budapester Luft ist immer noch ein Hauch der „Donaumonarchie“ Österreich-Ungarn, des Kaiserreichs der Habsburger, ein Hauch Wiener Walzer, Csárdás-Fürstin und Joseph Roth. Der fabelhafte Roda Roda, eigentlich Sándor Friedrich Rosenfeld, hat die amüsantesten Anekdoten dieser versunkenen Welt in deutscher Sprache überliefert. Auch Ignaz Goldziher kommt aus Ungarn (aus Székesfehérvár, damals Stuhlweißenburg), der zeit seines Lebens deutsch schreibende, wohl scharfsinnigste westliche Analyst des Islam, Autor der „Mohammedanischen Studien“, erster jüdischer Professor an der Universität Budapest. Er war Ungarn so zugetan, dass er die Bitte seines Budapester Schulfreundes, des Zionisten Max Nordau, ausschlug, eine Professur an der Universität Jerusalem zu übernehmen. Und wie selbstverständlich stammte auch Nordaus Kampfgefährte Theodor Herzl, der die zionistische Idee zum Triumph führte, aus Budapest.
Aus Budapest kommen aber auch John von Neumann, Wegbereiter der Informatik, oder die Kernphysiker Eugen Wigner (Nobelpreis 1960) und Edward Teller – sie leisteten ihre bahnbrechenden Arbeiten erst in den USA, wohin sie als Juden emigrieren mussten. Denn Ungarn verlor wie Deutschland, Österreich und andere europäische Nationen einen beträchtlichen Teil seines geistigen Potenzials durch die Vertreibung und Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Doch anders als die deutsche Regierung, die ihre schwindende jüdische Minderheit erneut in Gefahr bringt, versucht man heute in Ungarn, an die große Tradition ungarisch-jüdischen Lebens anzuknüpfen.
Die Juden in Budapest, die ich sah – und man sieht sie überall in der Stadt –, tragen die Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur ältesten monotheistischen Kultur der Welt ganz offen: man sieht Kipa, Schläfenlocken, heraushängende Talliot oder modische Halsketten mit Davidstern, die zu zeigen heute auf U-Bahnfahrten durch Berlin-Neukölln lebensgefährlich wäre. In den jüdischen Restaurants und Cafés der Stadt herrscht Hochbetrieb, die Synagogen sind keine verschlossenen Festungen, sondern offen zugänglich, wie Gotteshäuser sein sollen, es gibt jüdische Schulen, Kindergärten und Hochschulen, vor denen keine Polizeiwagen wachen müssen wie in Deutschland, Frankreich oder Belgien.
Hochgeschätzte traditionelle Werte
Ungarn ist anders – aus jüdischer Sicht ein Glücksumstand. Der Grund für die Sicherheit der ungarischen Juden ist ganz einfach: Die Regierung Orbán verhindert jede unkontrollierte, erst recht illegale muslimische Einwanderung. Es gibt Muslime in Ungarn, aber in begrenzter Zahl, unter Kontrolle der Behörden, keine Clan-regierten Stadtviertel, muslimisch dominierten Schulen und wuchernden „Parallelgesellschaften“ wie im krisengeschüttelten Deutschland. Das kommt auch der allgemeinen Sicherheit des Landes zugute, denn bekanntlich beschränkt sich die Aggressivität militanter Muslime nicht auf Juden, sondern gilt auch Christen oder Atheisten, Frauen oder Homosexuellen, kurz gesagt: allen, die „anders“ sind. Und Ungarn ist anders. Auch in dieser Frage. Für ihre vom EU-Diktat abweichende Flüchtlingspolitik wird die Regierung Orbán in den deutschen Einheitsmedien seit Jahren bösartig attackiert.
Und das ist nicht alles, was linke Gesinnungswächter Ungarn vorzuwerfen haben. In diesem rebellischen kleinen Land werden Patriotismus, Geschichtsbewusstsein, Familiensinn und andere traditionelle Werte hochgeschätzt, die in westeuropäischen Ländern, Deutschland voran, in Verachtung geraten sind. Bauer betont in seinem Buch „das Bemühen um eine familien- und kinderfreundliche Sozialpolitik (für die eigenen Bürger – C.N.), eine ablehnende Haltung zu unkontrollierter Massenzuwanderung“, ferner „die unmissverständliche Frontstellung gegen alle wohlfeilen Wiederbelebungsversuche realsozialistischer oder postkommunistischer Problemlösungen, wie sie in nicht wenigen west- und südeuropäischen Ländern erneut Gehör gewinnen“. Es ist klar, dass nichts davon den Beifall der derzeitigen deutschen Regierung oder der ihr verpflichteten Medien gewinnen kann.
In den zwei Tagen, die ich in Budapest war, habe ich einige anregende Menschen getroffen, darunter auch deutsche Landsleute wie den Hamburger Staatsrechtler Reinhard Merkel, einen Deutschen der angenehmsten Art, oder – unvermutet auf der Straße – Kai Diekmann, den früheren Chefredakteur der Bild-Zeitung, zu Besuch bei seinem Sohn Kolja, der gerade am Corvinus Collegium ein Volotariat absolviert, sogar einen Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, der nichts dafür kann, dass mich seine Stiftung in Deutschland mit Bann belegt hat und von dem mir die Frage im Ohr geblieben ist: „Was meinen Sie, Herr Noll, ist Deutschland noch zu retten?“ Und ich lernte meine Budapester Gastgeber kennen, den Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts Bence Bauer, seinen Mitarbeiter Tamás Fonay, der meinen Trip perfekt organisiert hatte, den Generaldirektor des Corvinus Collegiums Dr. Szalai, den kundigen Interviewer Philipp Sajthy, den Parlamentsabgeordneten Imre Ritter und zum Abschluss, in der prachtvoll restaurierten Synagoge von Obuda, den orthodoxen Rabbiner Jonatan Megyeri.
Sanfter Zauber der Budapester Tage
Dieses Gespräch verblüffte mich durch eine Klarheit der Aussagen, wie ich sie sonst nur aus Israel kenne. Der Rabbi redete Tacheles, offen und geradezu. Ungarn sei derzeit das sicherste Land für Juden in Europa. Der Grund dafür: die Politik der Regierung Orbán, die keinen Zustrom illegaler Einwanderer aus Nahost dulde. Denn militante Muslime wären derzeit die größte Gefahr für die europäischen Juden. Das zu verschleiern, wie es die deutsche Regierung mit manipulierten Statistiken versucht, nütze wenig, da sich die muslimische Aggression gegen Juden inzwischen ganz offen auf Deutschlands Straßen zeige, auf den Schulhöfen, auf dem Campus der Universitäten. Rabbi Megyeri betonte Ungarns pro-israelische Haltung, die es nicht bei schönen Worten belasse, wie die deutschen Politiker, sondern sich auch im Abstimmungsverhalten in der UN und bei anderer Gelegenheit bewähre. Damit würde sein Land nicht nur für junge deutsche Juden interessant, die bekanntlich in großer Zahl ans Auswandern denken, sondern auch für junge Israelis – sie hätten hier jedenfalls keine Anfeindungen und Attacken auf Grund ihrer Nationalität zu befürchten wie derzeit in Deutschland.
Insgesamt gilt, und nicht nur aus jüdischer Sicht: Mit seinem Anderssein erfüllt Ungarn in der Europäischen Gemeinschaft eine wichtige Funktion. Als Symbol für Widerstand, für einen eigenen Weg. In der EU herrscht sonst eine Neigung zum Konformismus, zur Preisgabe des Eigenen an die Diktate eines abgehobenen Apparats. Der diese Selbstpreisgabe fördert, durch Hilfsgelder, Subventionen oder deren Entzug. Die meisten Regierungen unterwerfen sich dem Druck der EU-Bürokratie, sie opfern im Zweifelsfall die Interessen ihrer eigenen Nationen denen der Brüsseler Administration und lassen diese, eben durch ihre Unterwerfung, durch das ständige Opfer ihrer nationalen Interessen, zu einem Moloch anwachsen, zu einer übermächtigen, lebensfernen, zunehmend lebensfeindlichen Despotie.
Nun liegen die Budapester Tage einige Zeit zurück, doch ihr sanfter Zauber umfängt mich noch immer, die heitere, zwanglose Stimmung in dieser Stadt, ihre Zuversicht, das wahrhaft Europäische, das sie ausstrahlt und in diesen Tagen nachdrücklicher bewahrt als Berlin, Paris oder Brüssel. In Budapest ist Europa noch vital und hoffnungsvoll, nicht nur eine hohle Fassade, ein aussterbendes Museum wie anderswo. Die Stimmung ist optimistisch, der Wille zur Selbstbehauptung klar erkennbar. Ungarn steht auf dem festen Grund einer Identität, die man sonst im heutigen Europa vergebens sucht. Ungarn ist anders, Gott sei Dank.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel“.