Die Ungarn sehen plötzlich überall Kinderschänder, die Fidesz-Partei Viktor Orbáns verliert zwei wichtige Politiker und zeigt Schwäche im Umgang mit dem erregten Volk.
Auf die Frage, welche die größte Gefahr für Politiker sei, soll Harold Macmillan, britischer Premier von 1957 bis 1963, einst gesagt haben: „Events, my dear boy, events“. Auf ähnliche Gedanken dürfte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kommen, wenn er auf die Ereignisse zurückblickt, die in Ungarn am 2. Februar 2024 ihren Anfang genommen hatten.
Das „Ereignis“, von dem hier die Rede sein soll, führte seitdem über filmreife Wendungen zum Verlust zweier wichtiger Politiker der regierenden Fidesz-Partei, dem Rücktritt des Vorsitzenden der Reformierten Synode und verunsicherte sowohl die Fidesz-Führung als auch Viktor Orbán selbst. Ob es bei einer kleinen Erschütterung bleibt oder wir am Anfang eines größeren Dramas stehen, muss sich noch erweisen. Spätestens bei den nahenden Kommunalwahlen und den Europawahlen im Juni.
An eben diesem 2. Februar war ein zunächst unbedeutender Artikel auf 444.hu erschienen, einem bei der renitenten jugendlichen Generation beliebten, Soros-finanzierten Internetmagazin. In ihm berichtete einer der hauseigenen Reporter, einem Hinweis folgend, darüber, dass die (damals noch) Staatspräsidentin Katalin Novák (ehemalige Familienministerin der Orbánschen Fidesz-Partei) den rechtskräftig verurteilten Endre Kónya im Mai 2023, also vor fast einem Jahr, anlässlich des Papstbesuches in Ungarn, begnadigt hatte.
Endre Kónya war im Rahmen eines Prozesses gegen den ehemaligen Schulleiter eines Internats in der westungarischen Kleinstadt Bicske wegen Falschaussagen, Nötigung und Behinderung der Justiz zu drei Jahren und vier Monaten Haftstrafe verurteilt worden. Der hauptangeklagte Schulleiter bekam acht Jahre, da er Schüler nachweislich über Jahre sexuell belästigt und missbraucht hatte. Seine Verbrechen wurden bekannt, als ein von ihm missbrauchter Schüler Selbstmord begangen hatte. Endre Kónya war sein Stellvertreter, der mehrere Versuche unternommen haben soll, die Verbrechen des Schulleiters zu verschleiern, unter anderem habe er Schüler unter Druck gesetzt, für den Schulleiter auszusagen. Endre Kónya, der mit den Verbrechen gegen die Kinder nichts zu tun hatte, beteuerte die ganze Zeit seine Unschuld und wandte sich schließlich – nachdem er zwei Jahre bereits abgesessen hatte – mit einem Gnadengesuch an Präsidentin Novák.
Wie sich später herausstellte, entsprach Präsidentin Novák dem Gnadengesuch Kónyas nach einer Absprache mit Bischof Zoltán Balog, dem Vorsitzenden der Reformierten Synode Ungarns. Kónya selbst stammt aus Siebenbürgen, wo es starke reformierte Gemeinden innerhalb der ungarischen Minderheit gibt. Diese Gemeinden sind zugleich auch politische Interessenvertreter der ungarischen Minderheit und pflegen sehr enge Beziehungen zur ungarischen Reformierten Kirche, in der auch Präsidentin Novák eine wichtige Rolle gespielt hat.
Familienpolitik als scheinheiliges Theater
Die damalige Justizministerin Judit Varga, Spitzenkandidatin von Fidesz für die kommende Europawahl, musste den Gnadenerlass der Staatspräsidentin gegenzeichnen, nach Meinung der meisten Verfassungsrechtler völlig unabhängig davon, ob sie damit einverstanden war oder nicht. Varga unterzeichnete nach anfänglichem Zögern.
Schon einen Tag nachdem der Artikel über die Begnadigung auf 444.hu erschienen war, zogen die linken Magazine nach. Auch wenn sie nicht direkt behaupteten, die Staatspräsidentin habe einen Pädophilen begnadigt, war dies letztendlich die Aussage: Die ehemalige Familienministerin, die wichtigste Propagandistin der konservativen, angeblich so familien- und kinderfreundlichen Fidesz-Politik, unterstützt einen Pädophilen, und die Justizministerin unterstützt sie dabei. Was natürlich die konservative Fidesz-Familienpolitik als das entlarvt, was sie wirklich ist: scheinheiliges Theater.
Es folgten tägliche Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast, mit Teilnahme aller Oppositionsparteien. Katalin Novák unterbrach daraufhin ihre Dienstreise in den Nahen Osten und gab am 9. Februar ihren Rücktritt bekannt. Am gleichen Tag trat Justizministerin Judit Varga zurück und erklärte ihren vollständigen Rückzug aus dem politischen Leben. Das war ein schwerer Schlag für Fidesz und Viktor Orbán, denn die beiden Frauen waren wichtige Sympathieträger. Insbesondere die junge Justizministerin war eine begabte und sachkundige Politikerin, die noch für eine große Zukunft in Fidesz vorgesehen war.
Doch die Partei schwieg, und der Ministerpräsident sagte nichts von Bedeutung, um die beiden angegriffenen Politiker vor der medial entfachten Empörungswelle zu schützen. Auch die Staatspräsidentin schwieg ausdauernd über ihre Motive für die Begnadigung. Es sah ganz so aus, dass sowohl Orbán als auch der ganze, bis dahin fast perfekt funktionierende Kommunikationsapparat von Fidesz von dem „Ereignis“ kalt erwischt worden wären. Sie verharrten weiterhin in Sprachlosigkeit und opferten zwei wichtige Politiker, um die Reaktionen auf das „Ereignis“ zu stoppen.
Als vorläufig letzter Kollateralschaden gab wenige Tage später Bischof Balog seinen Vorsitz der Reformierten Synode auf.
„Gott? Vaterland? Pädophilie!“
Trotz der Rücktritte lief die Pädophilen-Kampagne der Opposition ungebrochen weiter, man versuchte den Aufruhr gegen Orbán zu wenden, indem suggeriert wurde, dass er doch von alledem gewusst haben muss, ohne zu intervenieren. Das gelang zwar nicht, doch große Teile der (hauptsächlich Budapester) Bevölkerung schienen davon überzeugt zu sein, dass Ungarn die Hölle für Kinder sei, dass in jeder Schule, jedem Kindergarten auf die Kinder ungeheure Gefahren durch Sexualstraftäter lauerten, die offensichtlich ohne jede staatliche Kontrolle tun und lassen konnten, was sie wollten. Soziologen erklärten mit tränenerstickter Stimme auf Fernseh- und Youtube-Kanälen, wie schrecklich die Lage der Kinder in Ungarn sei. So sagte zum Beispiel die Expertin für Kinderschutz, Maria Herczog, dass die Lage des Kinderschutzes in Ungarn „tragisch“, die Lage in Kinderheimen „unhaltbar“ sei, und obwohl diese Verhältnisse bekannt seien, tue der Staat gar nichts, es würde alles bleiben, wie es ist. Kurzum, hinter diesen katastrophalen Verhältnissen stecke der Staat, genau gesagt, die Regierungspartei Fidesz.
Die Krone auf die Kampagne setzte eine Plakataktion jener Demokratischen Koalition auf, die vom abgehalfterten ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, dem persönlichen Erzfeind Orbáns, geführt wird und der die Zeit für einen persönlichen Rachefeldzug gekommen sah. Auf den Riesenplakaten wurde die Parole von Fidesz „Gott, Familie, Vaterland“ in „Gott? Vaterland? Pädophilie!“ umgewandelt und durch das lächelnde Konterfei von Viktor Orbán hinterlegt. Das war dann sogar einigen Verbündeten der Demokratischen Koalition zu viel.
Die öffentliche Hysterie kulminierte schließlich in einer Großkundgebung am 16. Februar auf dem Heldenplatz, an dem etwa 50.000 Menschen teilnahmen. Die Kundgebung wurde von einer Reihe Promis und Halbpromis angemeldet und durchgeführt. „Draußen streifen Ungeheuer herum – Wir kämpfen für die Opfer, die Kinder, für eine gesunde Gesellschaft“ war die Hauptparole. Diese Parole, wie auch die anderen Behauptungen der linken Medienkampagne, hatten in ihren Übertreibungen inzwischen ein bizarres Niveau erreicht. Es schien für einige Wochen, dass Ungarns größtes Problem das allgemeine und ungehinderte Wüten von Kinderschändern sei.
Wenn Emotionen hochkochen und von den Menschen Besitz ergreifen, tauchen fast gesetzmäßig die selbsternannten Rächer und Erlöser auf, so auch diesmal, in der Person des geschiedenen Ehemannes der zurückgetretenen Justizministerin. Péter Magyar, ein bis dahin völlig unauffälliger und bedeutungsloser Parteisoldat von Fidesz, erschien wie aus dem Nichts und stilisierte sich in mehreren stundenlangen Interviews zum Anführer einer angeblich starken, Fidesz-internen Unzufriedenheit mit den korrupten, von Fidesz beherrschten Netzwerken. Obwohl er bis vor wenigen Tagen selbst Nutznießer des von ihm gegeißelten Netzwerks war und für seine Anklagen keinerlei Beweise vorgelegt hat, fühlte er sich in nur einer Woche auf der Woge der volkstümlichen Erregung stark genug, um die Gründung einer neuen Partei anzukündigen, die endlich die Spaltung der Nation aufheben und die Herrschaft der üblen Personen in Fidesz beenden würde. Er drohte mit demnächst zu veröffentlichenden ungeheuerlichen Enthüllungen über die Führungsriege von Fidesz.
Wie ein Filmdrehbuch von Guy Ritchie
War das der Aufbruch zu einer neuen, authentischen Opposition? Nicht ganz. Während Orbán, die Regierung und die Parteioberen weiterhin schwiegen, wurde einem der führenden linken Magazine HVG ein Polizeibericht aus dem Jahre 2020 zugespielt. In dem wurde eine explosive Situation im Hause der Justizministerin Varga beschrieben, im Laufe dessen die vom (damals noch) Ehemann verbal und physisch bedrohte Ministerin durch ein Fenster zu dem vor dem Haus postierten Polizisten geflüchtet war. Kurzum, der aufrechte Rebell und angeblicher Verteidiger seiner ehemaligen Ehefrau entpuppte sich als ein gewalttätiger, unbeherrschter Triebtäter. Aufstand aller Wahrscheinlichkeit nach beendet.
Was sich im Nachhinein wie ein Filmdrehbuch von Guy Ritchie liest, hinterlässt doch einige Lehren. Offensichtlich gibt es eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die im gegenwärtigen System keine Artikulationsmöglichkeit findet. Die Inflation hat das Lebensniveau spürbar gesenkt. Die Russlandsanktionen haben Ungarn enormen Schaden zugefügt, ebenso die Blockade der Ungarn zustehenden Mittel aus dem EU-Haushalt. Die woke, EU-hörige Opposition ist keine Alternative, sie verbalisiert diese Unzufriedenheit nicht. Und so bricht sie sich die dort Bahn, wo sie einen Weg findet und wo sie niemand erwartet. Fidesz und Orbán hätten noch vor einem Jahr die Situation professionell gemanagt. Jetzt waren sie dazu zuerst gar nicht, und dann erst ziemlich spät, auf Kosten großer Verluste in der Lage.
Der außenpolitische Dauerstress, der Wohlstandverlust und die Pädophilen-Hysterie haben bei Orbán sichtbare Spuren hinterlassen. Am 15. März, dem ungarischen Nationalfeiertag, hat er eine ungewöhnlich farblose, schlechte Rede gehalten. Es ging ihm offensichtlich nicht gut, und in der Rede fehlte der übliche Witz, der die Zuhörer mitreißt.
Das Ende von Orbán und Fidesz sollte man deshalb noch nicht herbeiphantasieren. Aber das ist für beide kein gutes Zeichen für die Europawahl. Man wollte dort groß auftrumpfen, mehr Abgeordnete ins EU-Parlament schicken, und so für neue Mehrheiten sorgen. Nun steht man mit einem Ersatzkandidaten da und hofft, wenigstens die vorherige Abgeordnetenzahl zu erreichen. Wenn nicht wieder ein „Ereignis“ dazwischenkommt.
Krisztina Koenen war Redakteurin des FAZ-Magazins und der Wirtschaftswoche. Danach wechselte sie in die Unternehmenskommunikation. Sie ist Autorin mehrerer Bücher.