Von Bernd Ole Oster.
Seit etwa einem Jahr wird kaum eine Nachrichtensendung ohne „Die Zahlen!“ gesendet. Täglich erfahren wir, dass der Lockdown notwendig ist, weil „Die Zahlen!“ es gebieten. Aber warum sind die Zahlen wichtig? Und warum „Die Zahlen!“? Die Antwort darauf ist meiner Meinung nach zweigestaltig. Erstens offenbaren (aussagekräftig zusammengestellte) Statistiken eine Wahrheit, die wirklicher ist als die Wirklichkeit selbst, weil sie über das unmittelbar Erfahrbare, das unmittelbar Erlebbare hinausgeht. Weil sie Zusammenhänge bildet, die dem bloßen Auge verborgen bleiben. Zweitens lassen sich mit (wieder: aussagekräftigen) Statistiken große Organisationen steuern. Deshalb sind die Controlling-Abteilungen in den Unternehmen so mächtig. Oder es lassen sich Aspekte der Gesellschaft steuern.
Die Bundesregierung versucht, das Land durch die Pandemie zu steuern, indem sie sich einer Kennzahl bedient. „Die Zahlen!“, das sind die Inzidenzen. Gemeint sind die täglich gemeldeten positiven Testergebnisse. Gerne auch im 7-Tage-Durchschnitt, also geglättet. Das ist dann die 7-Tage-Inzidenz.[1] „Die Zahlen!“ sind deshalb wichtig, weil die Regierung annimmt, dass „Die Zahlen!“ eine Vorhersage der Belastung des Gesundheitssystems erlauben. Konkreter, dass sie die Belastung der knappen Intensivstationen erlauben.[2]
Die Belastung der Intensivstationen ist deshalb wichtig, weil genau hier die Begründung für alle Maßnahmen liegt, die seit einem Jahr alternativlos erscheinen. Schulschließungen, Geschäftsschließungen, Kontaktbeschränkungen, Versammlungsverbote und so weiter und so fort erfolgen offiziell aus diesem einen Grund: das Gesundheitssystem, genauer: die Intensivstationen müssen vor Überlastung geschützt werden. Und als Frühwarn-Indikator für die Belastung von Intensivstationen dienen der Regierung „Die Zahlen!“.[3]
Wenig schwere Atemwegserkrankungen
Interessant ist bei der Betrachtung von „Die Zahlen!“ auch folgendes: Das Robert-Koch-Institut, RKI, klassifiziert COVID-19 als schwere Atemwegserkrankung. Abseits der Kennzahl „Die Zahlen!“ hat das RKI zur Beurteilung der bundesweiten Lage in Bezug auf die Häufigkeit schwerer Atemwegserkrankungen auch eine eigene Arbeitsgruppe. Die Arbeitsgruppe Influenza. Diese Arbeitsgruppe hält engen Kontakt zu so genannten „Sentinel-Praxen“. Diese Sentinel-Praxen melden schwere Atemwegserkrankungen an das RKI. So entsteht ein realitätsgerechtes Lagebild zur Verbreitung schwerer Atemwegserkrankungen im Bundesgebiet. Ruft man die Website der Influenza-Arbeitsgruppe auf, so kann man dort sehr transparent einsehen, wie die aktuelle Lage im Land ist.
Bei der Lektüre der Website erfahren wir, dass zurzeit eine sehr geringe Verbreitung von schweren Atemwegserkrankungen vorliegt. Und weiter, dass COVID-19-Erkrankungen ca. 60 Prozent dieser aktuell wenigen schweren Atemwegserkrankungen ausmachen.
Hier passt etwas nicht zusammen
Hier wird ein krasser Widerspruch sichtbar: Auf der einen Seite betrachtet das RKI COVID-19 als schwere Atemwegserkrankung und stuft das gesamte Aufkommen schwerer Atemwegserkrankungen als „normal“, also niedrig [4] ein. Auf der anderen Seite verwendet die Bundesregierung „Die Zahlen!“ zur Begründung und Rechtfertigung schwerer Grundrechtseingriffe.
Entweder stimmt die Einschätzung der Influenza-Arbeitsgruppe, dann bewegt sich das Grippe- und COVID-19-Aufkommen im vollkommen normalen, unspektakulären Rahmen. Oder die Bundesregierung hat recht. Dann können wir von Glück reden, wenn wir im Sommer ein paar Wochen ohne drakonische Einschränkungen leben können, bevor es wieder in den nächsten (Wellenbrecher-)Lockdown geht.
Das ist aber nicht der einzige Widerspruch. Denn auch die Todeszahlen stimmen bedenklich. In den Medien erfahren wir täglich, wie viele Menschen inzwischen „an oder mit Corona“ verstorben sind [5]. Das COVID-19-Dashboard des RKI zeigt die Altersverteilung aller im Laufe der Pandemie positiv Getesteten und der Verstorbenen. Auf den ersten Blick zeigt sich hier nichts Besonderes. Aber eine kleine Division verändert das Bild: Wenn man nämlich die Zahl der Verstorbenen jeder Alterskohorte durch die Zahl der positiv Getesteten der gleichen Alterskohorte teilt, dann erhalten wir für diese Alterskohorte ein Maß für die altersspezifische Gefährlichkeit der Krankheit.[6] In der medizinischen Literatur wird von Case-Fatality-Rate, CFR oder Fallsterblichkeit gesprochen.[7]
Diese Zahlen ergeben folgendes Bild: Von den erkrankten Männern [8] sterben im Alter von
• 14 bis 34: 0,02 Prozent
• 35 bis 59: 0,36 Prozent
• 60 bis 79: 6,67 Prozent
• 80 und älter: 29,99 Prozent
Das ist der Stand vom 08. März 2021. Diese Werte verändern sich seit Wochen kaum. In Bundesländern, in denen die Zahlen feiner aufgegliedert erfasst werden, zeigt sich, dass zwischen 60 bis 69 und 70- bis 79 Jahren eine Verdreifachung der Sterblichkeit zu beobachten ist.[9]
Wer ist wirklich gefährdet?
Wenn „Die Zahlen!“ mit den Grundrechenarten untersucht und mit den Zahlen schwerer Atemwegserkrankungen anderer Grippe-Saisons verglichen werden, dann ergibt sich folgendes Bild: Eine Erkrankung mit COVID-19 endet für Menschen unter 70 in der Regel nicht tödlich. Besonders gefährlich ist die Erkrankung für über 80-Jährige. Insgesamt ist die aktuelle und vergangene Grippesaison nicht außergewöhnlich. Ohne die COVID-19-Erkrankungen wäre es eine außergewöhnlich milde Grippesaison.
Wir haben es also mit einer Pandemie zu tun, die vor allem Menschen jenseits des Erwerbslebens stark bedroht. Insgesamt aber stellt sie für die meisten Menschen kein lebensbedrohliches Risiko dar. Hinzu kommt: In Amerika sind 75 Prozent der hospitalisierten COVID-19-Patienten übergewichtig oder schwer übergewichtig. Die stark erhöhte Gefährdung Übergewichtiger, schwer an COVID1-9 zu erkranken, betrifft alle Altersgruppen.
In den obigen Absätzen wurden die kumulativen Zahlen betrachtet. Im Zeitverlauf ergibt sich ein weiteres, unschönes Bild: Die Fallsterblichkeit der über 80-jährigen erkrankten Männer steigt langsam aber kontinuierlich an. Mitte Dezember lag sie bei knapp unter 20 Prozent, heute dagegen bei etwa 25 Prozent. Das kann bedeuten, dass eine spürbare Anzahl COVID-19 Erkrankter lange Zeit mit der Krankheit dahinsiechen und schließlich sterben. Alternativ kann es bedeuten, dass die Medizin wenig Fortschritte bei der Behandlung früher Stadien von COVID-19 macht.
Evidenzbasierte Maßnahmen ohne Evidenz
Es gibt keine belastbaren Zahlen, die ein erhöhtes Ansteckungsrisiko in Restaurants, Eiscafés, Friseursalons oder Baumärkten belegen. Die nach Alterskohorten differenzierte CFR deutet mit großer Sicherheit darauf hin, dass Schulen und Kindergärten der großen Nähe wegen zwar Ansteckungsherde sind, die Betroffenen jedoch wenig gefährdet sind, schwer oder tödlich an COVID-19 zu erkranken. Zugleich ist das Risiko für pflegebedürftige Senioren als sehr hoch einzuschätzen, egal ob in Pflegeheimen oder in ambulanter Pflege.
Die Bundesregierung jedoch ergreift auch heute noch keine gezielten Maßnahmen zum Schutz der Alten. Auch der unbequeme, aber inhaltlich untadelige Ökonom Dr. Daniel Stelter kommt auf seinem Blog und auf Twitter zu diesem Schluss. Stattdessen fokussiert sie die Stilllegung der Wirtschaft, um Menschen zu schützen, die der Zahlenlage nach nicht gefährdet sind, schwer zu erkranken.
Man kann die Maßnahmen der Regierung in aktive und passive Maßnahmen unterteilen. Passive Maßnahmen sind Verbote, aktive Maßnahmen sind die Organisation von Masken, Tests, Impfstoffen. Es ist festzustellen, dass die Regierung die passiven Maßnahmen wirksam durchsetzen kann. Polizei und Ordnungsämter sind hier sehr effektive Mittel. Die aktiven Maßnahmen jedoch wollen nicht gelingen. Egal ob Maskenbeschaffung, Teststrategie oder Impfkampagnen: Nichts klappt so wie beabsichtigt.
Fazit: Falsche Zahlen, falsche Maßnahmen
Die Wahl der Kenngröße bestimmt das Handeln. In der New Economy vor 20 Jahren ging es in erster Linie um Wachstum. Rentabilität hielt man für überbewertet. Die Folge waren zahlreiche und spektakuläre Firmenpleiten.
Heute sehen wir, wie die Bundesregierung ihre Politik an „Die Zahlen!“ ausrichtet. Das Ergebnis sind Maßnahmen, die die Wirtschaft schwer schädigen und gleichzeitig die Risikogruppen schutzlos lassen. Zu allem Überfluss sind die aktiven Maßnahmen zumeist ineffektiv und ineffizient umgesetzt.
In Anlehnung an Karl Kraus möchte man ausrufen: „Es reicht nicht, auf der Basis falscher Kennzahlen falsche Maßnahmen zu beschließen. Man muss auch unfähig sein, die falschen Maßnahmen umzusetzen.“
Fußnoten:
[1] Die Glättung über 7 Tage ist deshalb nützlich, weil die Pandemie zwar die gesamte Bevölkerung in ihrer Gesundheit gefährdet, diese Bedrohung jedoch nicht so schwer wiegt wie die Arbeitszeitregelungen deutscher Behörden.
[2] Es wird viel darüber diskutiert, ob die Tests zuverlässig sind, ob ein positiver Test tatsächlich eine Erkrankung darstellt. Zu dieser Diskussion habe auch ich eine Meinung. Die ist aber für diesen Artikel nicht interessant. Deshalb lasse ich sie weg.
[3] Wie die Frage nach der Zuverlässigkeit der Tests, ignoriere ich auch die Frage, warum ausgerechnet während einer „Pandemie von nationaler Tragweite“ die Gesamtkapazität der Intensivbetten gesenkt werden.
[4] Normal ist die niedrigste Stufe in der Visualisierung der Lage durch die Influenza-Arbeitsgruppe des Robert-Koch-Instituts.
[5] Die Diskussion darüber, ob jeder Corona-Tote auch an Corona gestorben ist, gehört nicht hierher, so interessant zum Beispiel die Erkenntnisse der Pathologie des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) auch sein mögen.
[6] Der aufmerksame Leser hat es sofort bemerkt: Nicht jede schwere COVID19-Erkrankung endet mit dem Tod. Was ist also mit den schwer Erkrankten, die nicht sterben? Hierzu gibt es leider keine öffentlichen Zahlen über das COVID-19-Dashboard des RKI. Vermutlich, weil diese Zahlen nicht bundeseinheitlich erhoben werden. Deshalb müssen die Todeszahlen genügen. Sie sind der beste Indikator für die Häufigkeit schwerer Krankheitsverläufe, der öffentlich verfügbar ist.
[7] Die wissenschaftlichen Bemühungen rund um die CFR fokussiert derzeit vor allem die Vorhersage in Bezug auf die Auslastung der Krankenhäuser, weniger der Eingrenzung der Risikogruppen.
[8] Warum Männer? Weil diese den Worst Case abbilden. Frauen sterben nicht so leicht an COVID-19 wie Männer.
[9] vgl. Berlin, Lageso
Bernd Ole Oster ist Ingenieur, IT-Projektmanager und Unternehmer. Seine „Déformation Professionelle" ist es, die Prämissen von Entscheidungen zu hinterfragen, um seine Projekte und sein Unternehmen wirksam führen zu können.