Dass wir moderne Menschen vielleicht immer reicher, mächtiger und prächtiger, aber eben nicht menschlicher, freundlicher und anständiger wurden, diese Ansicht ist längst zum Gemeinplatz geworden. Dass das 20. Jahrhundert das blutigste der bisherigen Geschichte gewesen sei, das wagt kaum jemand noch zu bezweifeln.
Ich sehe fünf Gründe für diese Wahrnehmung:
1. Das 20. Jahrhundert ist am besten dokumentiert. Es gab keine größere Gewalttat, die nicht Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hätte. Außerdem tragen die Medien immer schärfere Bilder aus immer mehr Kriegsgebieten und Diktaturen in immer mehr Wohnzimmer.
2. Das 20. Jahrhundert ist uns näher. Wir alle kennen die Geschichten und Bilder der verschiedenen Gewaltsysteme. Viele von uns kennen wenigstens ein Opfer oder auch einen Täter persönlich.
3. Wir können diese Gewalttaten allemal besser verstehen als etwa die im alten Ägypten, dessen Kultur uns weitgehend unbekannt und völlig fremd ist.
4. Beim Stichwort ‘Gewalt im 20. Jahrhundert’ denkt jeder sofort an Auschwitz, die meisten Menschen denken auch an Stalin oder Pol Pot und einige an Ruanda oder Jugoslawien. Wir haben Szenen vor Augen, die uns den untersten Kreis der Danteschen Hölle halbwegs erträglich erscheinen lassen. Das bedeutet aber auch, dass wir dazu neigen, die schlimmsten Regime der Moderne mit einem ‘gewöhnlichen’ Krieg der Antike oder des Mittelalters zu vergleichen, bzw. mit dem Bild, das wir uns von einem solchen machen - und das ist meist ohnehin verharmlosend.
5. Moderne Gesellschaften sind sehr bevölkerungsreiche Gesellschaften. Die absolute Zahl der Gewaltopfer wird die jeder unterentwickelten Gesellschaft weit in den Schatten stellen. Diese Zahl sagt aber wenig über die Gewalttätigkeit einer Gesellschaft aus, wenn sie nicht in Relation zur Größe der Gesellschaft gesetzt wird. Wenn in einer Stammesgesellschaft von 800 Menschen 30 davon einem Massaker zum Opfer fallen, dann käme diese Katastrophe einem Megaterroranschlag mit 3 000 000 Toten im heutigen Deutschland gleich. Trotzdem würden wir das letztere Ereignis intuitiv als mächtigen Beweis für die These von der grausamen Moderne werten.
Steven Pinker, dessen Meisterwerk “Das unbeschriebene Blatt” ich nicht müde werde zu empfehlen, schreibt für The New Republic Online über einige neue Forschungsarbeiten zum Thema:
WE’RE GETTING NICER EVERY DAY. A History of Violence
“Social histories of the West provide evidence of numerous barbaric practices that became obsolete in the last five centuries, such as slavery, amputation, blinding, branding, flaying, disembowelment,
burning at the stake, breaking on the wheel, and so on. Meanwhile, for another kind of violence—homicide—the data are abundant and striking. The criminologist Manuel Eisner has assembled hundreds of homicide estimates from Western European localities that kept records at some point between 1200 and the mid-1990s. In every country he analyzed, murder rates declined steeply—for example, from 24 homicides per 100,000 Englishmen in the fourteenth century to 0.6 per 100,000 by the early 1960s.
On the scale of decades, comprehensive data again paint a shockingly happy picture: Global violence has fallen steadily since the middle of the twentieth century. According to the Human Security Brief 2006 the number of battle deaths in interstate wars has declined from more than 65,000 per year in the 1950s to less than 2,000 per year in this decade. In Western Europe and the Americas, the second half of the century saw a steep decline in the number of wars, military coups, and deadly ethnic riots.
Zooming in by a further power of ten exposes yet another reduction. After the cold war, every part of the world saw a steep drop-off in state-based conflicts, and those that do occur are more likely to end in negotiated settlements rather than being fought to the bitter end. Meanwhile, according to political scientist Barbara Harff, between 1989 and 2005 the number of campaigns of mass killing of civilians decreased by 90 percent.”
Auch empfehlen kann ich die ausführlichen Untersuchungen des Ethnologen Lawrence H. Keeley:
War before Civilization: The Myth of the Peaceful Savage