Fred Viebahn / 26.02.2007 / 12:42 / 0 / Seite ausdrucken

Und der Oscar geht an… Die West Bank Story!

Letztes Jahr sahen meine Frau und ich die Live-Fernsehübertragung von den Academy Awards in einem texanischen Hotel, nachdem wir am Vortag noch einem Freund, Oscar-Preisträger Morgan Freeman, in Los Angeles bei der Arbeit an seinem neuesten Film zugeschaut hatten; die so dicht beieinanderliegenden Eindrücke von der öden und letztlich langweiligen Sekundenstückelei, mit der sich das umfangreiche Filmteam eine ganze Nacht um die Ohren schlug, und von der von modischen Geschmacksverwirrungen strotzenden Glitzershow im Kodak Theatre wurden jedoch einen weiteren Tag später radikal aus meinem Hirn radiert, als wir uns in New Orleans mit dem Horror der flächendeckenden Katrina-Zerstörungen konfrontierten. Deshalb habe ich nicht mehr die geringste Erinnerung daran, wer 2006 welchen Oskar gewann.
Nun, dieses Oscar 2007-Wochenende machten wir es uns zuhause vor der Röhre gemütlich. (Obwohl—“Röhre” ist eigentlich nicht mehr der richtige Ausdruck und wird wohl bald aus dem zeitgenössischen Wortschatz verschwinden: In Zukunft guckt keiner mehr in die Röhre, sondern wir kleben nur noch am Bildschirm aus Plasma oder flüssigem Kristall.) Da wir uns bewußt waren, wie subjektiv, manipuliert und “ungerecht” manche der Oscarentscheidungen ausfallen und auch, daß einige der besten cinematographischen Werke des Jahres bereits bei den Nominierungen übergangen wurden, packten wir die Gelegenheit beim Schafittchen, im Schutz der eigenen vier Wände über diese oder jenen zu meckern oder uns über die Selbstdarsteller auf Bühne und im Publikum lustig zu machen, ala: Mensch, kannst du’s glauben, so ein Schreckschraubenkleid! Guck mal, der ist jetzt doppelt so dick wie früher! Er-sie-es ist aber echt gealtert, da hilft auch nicht, daß auf einmal die Krähenfüße alle wieder weg sind—ob sie-er-es wieder beim Doktor Sowieso in Palm Springs unterm Messer war, von dem es-er-sie bei dem Dinner in New York den Mund so vollnahm, als er-es-sie ansonsten nur eine einzige Blaubeere aß? (Sie-es-er, eigentlich ein Film- und Fernsehstar mit Witz und Verve und sogar Selbstironie, saß bei dem Dinner neben meiner Frau, der das Chicken Kiev trotz des Schulterschlusses mit dem magersüchtigen Gerippe schmeckte.) Regisseure, denen das Sichinszenesetzen seltener zu Kopf steigt als Schauspielern, sahen weniger beängstigend verändert aus als die Leinwandgrößen—zum Beispiel George Lucas, der als Tischnachbar meiner Frau bei einem Abendessen mal das Steak in Stücke geschnitten hatte (sie trug den rechten Arm wegen einer Verletzung in einer Schlinge, und ich war an einem anderen Tisch plaziert, wo ich die schlaffen Anekdoten eines damals noch berühmten, später nach einem Korruptionsskandal berüchtigten Football coach ertragen mußte), oder Martin Scorsese, mit dem wir uns zu Clintons Amtszeit nach einem gemeinsamen Dinner im Weißen Haus im Aufzug des Hay-Adams Hotels drängelten.
Zurück zur Oskarnacht, bevor mein Name Dropping allzu penetrant wird (wenn es das nicht schon ist—dabei kann ich nichts dafür, daß wir diese Leute kennen, es ist alles meine Frau schuld): George Lucas hat zwar noch nie einen Oskar gewonnen, aber immerhin hatte er gestern abend auf der Bühne des Kodaktheaters in Hollywood Gelegenheit, sich selber darüber lustig zu machen, als er gemeinsam mit zwei Kollegen, den in Vorjahren oskargeschmückten Steven Spielberg und Francis Ford Coppola, Martin Scorsese dessen allerersten Goldburschen als bester Regisseur überreichte. Nein, nein, ich halte mich ja schon zurück und erzähle keine Silbe von unserem Power-Lunch mit Spielberg und dem Abend, an dem meine Frau mit Coppola auf der Bühne des Mirage Hotel in Las Vegas auftrat… Ich schweige auch diskret von den old times bei den Gores in der Residenz des Vizepräsidenten, obwohl uns bei Als Oskarauftritt für “An Inconvenient Truth” das Paradox auffiel, daß er trotz allen Grünzeugs reichlich Speck angesetzt hat.
Als deutschstämmigem Amerikaner hätte bei mir nun doch wirklich patriotischer Stolz aufwallen sollen, als das Stasidrama “Das Leben der Anderen” preisgekrönt wurde. Stattdessen war ich ein bißchen enttäuscht, daß “Pan’s Labyrinth” leer ausging —obwohl ich bislang weder den einen noch den anderen Film gesehen habe, nur kurze Szenenausschnitte. Ich war schon immer gern konträr; wenn mich mein Vater—da war ich acht oder neun—zu Heimspielen des 1. FC Köln mitnahm und unison mit all den Männern um uns herum den “Eigenen” zubrüllte und um jeden kölschen Torschuß einen Hexentanz aufführte, blieb ich still sitzen und wünschte mir, daß die auswärtige Mannschaft gewann. Schließlich gab mein Vater auf und ließ mich zuhause, was mir nur recht war, denn da brauchte ich mich nicht mehr schuldig zu fühlen.
“Schon wieder ein deutscher Film”, sagte meine Frau anerkennend, “den sollten wir so bald wie möglich sehen; ob der wohl so fantastisch gut ist wie ‘Nirgendwo in Afrika’?” Der Regisseur mit dem schönen Loreroman-Namen Florian Henckel von Donnersmarck war mir zwar völlig unbekannt, aber als er auf die Bühne hastete, erinnerten mich seine Körpergröße und sein Überschwang an den porschefahrenden Produzenten Ralph Cotta, der mich in den Siebziger Jahren mal dafür bezahlt hatte, am Drehbuch einer Simmelverfilmung zu basteln, aus der nie was wurde. Und auf einmal taumelte ich ein bißchen zurück in alte deutsche Film- und Theaterzeiten, als ich (Warnung: Name Dropping!) mit Otto Sander in der Berliner Kneipe Terzo Mondo des späteren Fernsehwirts Kostas Papanastasiou klönte, oder als Angela Winkler bei mir übernachtete, oder wie ich während der Dreharbeiten für die “Blechtrommel” meine Wohnung am Berliner Savignyplatz an ... na, wie hieß er noch, der Kleene… und seine Familie vermietete, während ich nach Amerika fuhr—na, den…den kleinen Oskar eben!
Ah, Oscar, olala! Im Ernst: Neugierig geworden bin ich gestern abend vor allem auf den Gewinner der Kurzfilmkategorie: “West Bank Story” der jungen kalifornischen Filmemacher Ari Sandel und Kim Ray, eine einundzwanzigminütige musikalische Liebesgeschichte zwischen David, einem israelischen Soldaten, und Fatima, einer palästinensischen Falafelverkäuferin—wobei die Story dadurch kompliziert wird, daß auch Davids Familie einen Falafelstand unterhält, den Kosher King, und zwar genau gegenüber von Fatimas Hummus Hut. Die Lage verschärft sich, als eine neue Backmaschine des Kosher King ins Gebiet des Hummus Hut drängelt. Da zerstören die Palästinenser das Gerät, und die Israelis üben Vergeltung, indem sie eine Mauer zwischen den beiden Fast Food-Etablissements errichten. Wird Davids und Fatimas Liebe die immer weiter eskalierende Gewalt überwinden können? Trotz des parodierten Vorbilds, Leonard Bernsteins “West Side Story”, dessen Filmfassung vor genau fünfundvierzig Jahren mit zehn Oscars ausgezeichnet wurde und die wiederum auf “Romeo und Julia” basiert (beider dramatische Entwicklung nicht gerade happy endend), bleibt uns hier schon deshalb etwas Hoffnung, weil es unter anderem zum Überfall auf ein Kamel namens Stormy kommt…
Ich kann’s kaum erwarten, die “West Bank Story” zu sehen. Einundzwanzig Minuten - genau die richtige Länge. Ein Musical—genau das richtige Format. Da schiebe ich lieber alle anderen Streifen auf die lange Bank. Nein, ich kenne die jungen Leute nicht, die den Kurzfilm produziert haben—doch ihrem Thema gemäß und zu Ehren ihres Oscars möchte ich diesen Artikel dem Andenken an meinen Freund Harold Rosenthal widmen: Eines Abends in den Mittsiebzigern traf ich mich mit Hal am Lincoln Center in Manhattan, da kam er auf eine Idee; er war ein spontaner Typ. “Möchtest du Leonard Bernstein kennenlernen? Wir sind gerade vor seinem Haus.” War es Name Dropping? Jedenfalls kannte ihn der Door Man, der für ihn durchklingelte. “Mr. Rosenthal ist hier”, sagte der Door Man in die Sprechanlage. “Hi, Hal,” antwortete eine Stimme, “Lenny ist leider nicht zuhause, er ist auf Probe.”
Ich lernte Leonard Bernstein nie persönlich kennen. Hal Rosenthal wurde kurz darauf, am 11. August 1976, von palästinensischen Terroristen ermordet, als sie im Flughafen von Istanbul eine El Al-Maschine zu entführen versuchten.

Siehe auch:
http://www.westbankstory.com/

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