Chaim Noll / 13.06.2021 / 06:16 / Foto: Freud / 12 / Seite ausdrucken

„Und dennoch lächelt man.“ Jakob Hessings Studie über den jiddischen Witz

Ein Buch über den Witz in jiddischer Sprache – was kann das anderes sein als ein Abgesang? Ein Stück Nostalgie? Nicht so Jakob Hessings amüsante sprachwissenschaftliche Studie Der jiddische Witz

„Wajl man farschtejt jedes wort!“ Die Pointe eines Witzes des jiddischen Schriftstellers Schalom Asch – bezeichnenderweise bereits im Romanischen Café in Berlin angesiedelt – basiert noch auf einer geschlossenen Welt der mameloschn, jiddisch für „Muttersprache“. Wenige Jahrzehnte später, für den letzten großen Literaten dieser Sprache, Isaak Bashevis Singer, war Jiddisch, wie er in seiner Nobelpreisrede sagte, längst eine „sterbende Sprache“.

In Hessings Buch geht es nicht vordergründig um jüdische Witze. Der jüdische Witz gilt als Symbol der geistigen Selbstbehauptung des jüdischen Volkes sogar in Zeiten schwerster Bedrückung und Verfolgung. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter, die das KZ Theresienstadt überlebt hatte, irgendwann die Bemerkung fallen ließ: „Sogar im KZ haben manche Leute noch Witze gemacht“, es klang sowohl bewundernd wie kritisch – sie war Lehrerin von Beruf. Doch hier geht es nicht um die unausrottbare Neigung von Juden zum Witzeerzählen, sondern um den jüdischen Witz in einer besonderen Sprache: Jiddisch.

In dieser Sprache mögen die meisten jüdischen Witze entstanden sein, aber nicht alle. Der Witz Heines oder Tucholskys war betont, geradezu kunstvoll auf die deutsche Sprache zugeschnitten. Es gibt jüdische Scherze, die aus dem Leben der Juden in Nordamerika hervorgingen und deren Sprache Englisch ist. Und es gibt jede Menge jüdischen Witz in Israel, der sprachlich im Hebräischen verwurzelt ist. Denn Witze basieren oft, wie Hessing zeigt, auf Sprachspielen, daher ist die Sprache entscheidend, in der sie entstanden. Und die Mittel, ihnen hermeneutisch zu Leibe zu rücken, finden sich im methodologischen Arsenal der Sprachwissenschaft.

Ein Buch über den „Geist“ der ashkenasischen Juden

Dieses Buch konnte nur jemand schreiben, der in der deutschen wie hebräischen Sprache zu Hause ist, denn aus diesen beiden Sprachen entstand das Jiddische. Jakob Hessing war Professor für Germanistik an der Universität Jerusalem. Insofern ist seine Studie, obwohl sie sich mit Witzen beschäftigt, ein analytisches, ein sprach-analytisches, wenn man will: psychoanalytisches Werk. „Ich nenne mein Buch 'Der jiddische Witz', denn so, im Singular, ist das Wort vielschichtiger“, schreibt Hessing. „Es schließt die lustigen Geschichten ein, die den Gattungsnamen 'Witz' tragen, es deutet jedoch auch darüber hinaus, steht synonym für das, was man im Deutschen 'Geist', im Französischen 'esprit' nennt.“ Es ist also ein Buch über den „Geist“ der ashkenasischen Juden (später oft – nicht ganz zutreffend – „Ostjuden“ genannt), denn nur bei ihnen gibt es diesen spezifischen „Witz“.

Die Ashkenasim kommen ursprünglich aus Deutschland. Dort waren, vor allem in Süddeutschland und im Rheinland, Juden seit den Zeiten des Imperium Romanum ansässig. Hessing leitet her, wie das Jiddische ursprünglich an den Ufern des Rheins aus dem Mittelhochdeutschen entstanden ist und die Juden auf ihrer Flucht in den Osten begleitete“. Daher der weitgehend deutsche Vokabelbestand dieser Sprache, gemischt mit Hebraismen, später Slawismen. Und daher die enorme historische Erfahrung, die in diesen Witzen steckt: Sie entstanden in einer der ältesten jüdischen Gemeinschaften aller Zeiten.

Die langen Wege aus der Antike bis heute, die tiefen – oft traurigen – Erfahrungen der ashkenasischen Juden zeitigten einen Unterton von Schwermut. „Diese Schwermut“, schreibt Hessing, „gibt kein Gelächter frei, sondern nur ein Lächeln der Reflexion, und man lächelt mehrmals dabei: Zuerst, wenn man die Pointe hört, und später noch öfter, wenn ihre Kehrseite ins Licht rückt – die Traurigkeit dieser Geschichten von drohender Entfremdung und verleugneter Herkunft, von zerbrechenden Welten und verordneter Sprachlosigkeit. Und dennoch lächelt man.“

Ein Überlebenselixier von Unterdrückten und Verfolgten

Das Verdienst von Hessings Studie liegt darin, dass er sich nicht damit begnügt, jiddische Witze nachzuerzählen, sondern sie im Kontext des Lebens eines Außenseitervolkes untersucht, das sich seiner – religiös und kulturgeschichtlich bedingten – Besonderheit wohl bewusst war und zugleich mit den umgebenden Mehrheiten in Beziehung treten, sich ihnen äußerlich anpassen musste. Wodurch diese Art „Witz“ einerseits zu einem Mittel interner Verständigung wurde, andererseits zu einem Mittel der Außendarstellung. Es spricht für ihre Unwiderstehlichkeit, dass diese Witze nach außen drangen. Und in einer vergröberten, ins Deutsche transformierten Form populär wurden: als sogenannte „Judenwitze“.

Anhand zweier berühmter Bücher, Sigmund Freuds Untersuchung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten von 1905 und Salcia Landmanns Bestseller Der Jüdische Witz von 1962, verfolgt Hessing die Popularisierung, Verflachung und Entstellung jiddischer Scherze zum billigen Auslöser dröhnender Lachsalven, auf Kosten ihrer sprachlichen Substanz, ihrer in der jiddischen Urfassung bewahrten Authentizität, oft auch ihrer Tendenz, sodass sie nicht selten Stoff für antisemitische Stereotype lieferten.

Dabei waren sie das Gegenteil: ein Mittel des Schutzes. Hessing erkennt im jiddischen Witz ein Überlebenselixier von Unterdrückten und Verfolgten, ein permanentes gedankliches Trotzdem, eine unter ständigem Druck entstandene geistige Brillanz, etwas Einzigartiges, Einmaliges, dessen Zeit offensichtlich abgelaufen ist. Und da er heute in Israel lebt und den fast unglaublichen Wandel in der Mentalität des jüdischen Volkes miterlebt, möchte er verhindern, dass dieses Einmalige in einer neuen Normalität untergeht, in der Dynamik des Neuen, der mitreißenden Bewegung des Erfolgs. Er möchte diese besondere Form von Vergeistigung bewahren, die der jiddische Witz ausstrahlt, und weiß doch, dass sie nur noch von Wenigen und immer weniger Werdenden überhaupt verstanden wird.

Gespenstergeschichten und Wiederauferstehung

Isaac Bashevis Singer, einer der letzten großen Jiddisch schreibenden Autoren, sagte 1978 in seiner Nobelpreis-Rede: „Ich werde oft gefragt: Warum schreiben Sie in einer sterbenden Sprache? Ich will es in ein paar Worten erklären. Erstens: Ich liebe es, Gespenstergeschichten zu schreiben, und nichts passt besser zu Gespenstern als eine sterbende Sprache. Zweitens: Ich glaube an die Wiederauferstehung.“

Das wäre eigentlich schon die Pointe, doch Singer meinte, sie seinem Publikum in Schweden erklären zu müssen: Am Tag der Wiederauferstehung würden Millionen Jiddisch sprechende Seelen von neuem auf der Erde erscheinen und ihre erste Frage wäre: Gibt es etwas interessantes Neues in jiddischer Sprache zu lesen?

Jakob Hessing hätte er die Pointe seines Scherzes nicht erklären müssen, denn Hessing glaubt ohnehin an die Wiederauferstehung, an die Auferstehung des jiddischen Witzes.

Jakob Hessing, Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte, München (C.H.Beck), 2020, 137 S., 12,95 Euro (E-Book 9,49 Euro)

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Johannes Schuster / 13.06.2021

Schön hier wieder einmal nach recht langer Zeit von Noll zu lesen: Der Witz und das Entrücken in das Irrationale der Freude in der Widrigkeit, ich glaube, daß ist das, was die Deutschen neiden und nicht verstehen und daß der jüdische Witz, der sich auch gehörig aus der permanenten Anwesenheit der Logik des Talmud speist etwas Ungetümes haben muß, wenn man den ganzen Tag über Tugenden brütet und in ihnen frittiert.  Woran erkennt man einen Ashkenazen ? Er macht einen Witz und erklärt ihn: Ein Chasside lacht sich köstlich einen ab, geht in die Küche, lacht weiter, ist ein Stück Kuchen und trägt sich mit der Restwelligkeit des Witzes in der Unendlichkeit der Seele: Woran erkennt man deutsche Juden in Israel ? An dem, daß ihre Türe immer exakt in der Zarge liegt. So ist es mit dem Witz nicht einerlei, ob er von denen erzählt wird, die zu ihm einen Kuchen mampfen oder von jenen, die ihm immer noch einen schweren Sinn verpassen. Und eine kleine Kritik: “Den jiddischen Witz” katalogisieren wollen ist sehr deutsch, es ist das, was einem anhaftet, wie ein Bananen- Etikett was man sich angestreift hat und man es gar nicht merkt, wie man als Chiquita durch die Welt zu laufen pflegt, aber es ist so, schon wenn man deutsch spricht hat man irgendwo Chiquita kleben, ob man will oder nicht.

Silvia Orlandi / 13.06.2021

@ Herr Noll,Kennen Sie den? Antisemitismus. „ im Wiener Stadtpark sitzen zwei Juden und klagen über den Antisemitismus. Da kommt ein Vogel vorbeigeflogen und lässt etwas auf Itzigs Hut fallen. „ Siehst du“, sagt darauf Itzig bitter,“was ich dir gesagt hab: „ für die Goim singen sie!“ ( aus dem immateriellen Erbe meines Vaters)

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