Der Karfreitag heißt bei uns in den USA Good Friday. (Wer sich für die Etymologie dieser Begriffe interessiert, kann’s leicht googeln.) Da dieser Tag in den USA nicht als amtlicher Feiertag begangen wird (wie’s auch weder 2. Ostern noch 2. Weihnachten noch sowas wie ein offizielles Pfingsten gibt), lief gestern alles seinen üblichen Gang: Büros, Ämter, Uni, Geschäfte—ja, vor allem in den Läden, von denen manche 365 Tage im Jahr offen sind und viele nur für Thanksgiving und Weihnachten schließen, kam das Oster-business auf Hochtouren, begleitet vom üblichen seichten Musikgedudel und Osterhasen in allen Farben, Formen und Größen: eßbar, aus Plüsch, unter Geplärr mit den langen Löffeln wackelnd, dazu gefärbte Hühnereier und Nougatkugeln undsoweiter - eigentlich nicht viel anders als im deutschen Kaufrausch. Meine persönlichen Favoriten sind pinke und purpurne Marshmellow-Hühnchen, denen vor allem Kinder am liebsten zuerst die Köpfe abbeißen. (Ich stopfe sie mir ganz in den Mund.)
Mein Handy klingelte, als ich mich gerade auf den Weg zum Fitnesscenter gemacht hatte. Dran war meine Tochter Aviva, Kunst- und Kulturgeschichtlerin, die seit Jahren an einer Universität im Staat New York mit ihrer Dissertation über—grob umrissen—Aspekte der Fernsehrezeption ringt und eine kulturwissenschaftliche Online-Zeitschrift redigiert. Ich hatte sie in einer Voice Mail gebeten, mich kurz wegen ihrer Steuererklärung zurückzurufen, an der ich gerade fummele. (Als Sohn eines Finanzbeamten und jemand, der selber in den Semesterferien Mitte bis Ende der Sechziger auf einem Kölner Finanzamt kumulativ etwa zwölf Monate lang Einkommensteuererklärungen bearbeitete, habe ich es mir auch in den USA nie nehmen lassen, selber unsere Steuersachen zu erledigen—früher von Hand, in den letzten anderthalb Jahrzehnten per Computer. Und der Abgabetermin ist hier immer der 15. April.)
“Ich hab nicht viel Zeit, hab nur ‘ne kurze Kaffeepause”, sagte sie, “die Konferenz…” Ach ja—ich hätte fast vergessen, daß sie dieses Wochenende an ihrer Uni eine Fachkonferenz organisiert.
“Wie läuft’s?” fragte ich.
“Nicht schlecht. Auch die Teilnehmer aus Kalifornien sind trotz des Schnees wohlbehalten eingetroffen.” In Avivas nördlichen Gefilden regte sich nach einigen milden Tagen der Winter wieder. “Übrigens, danke fürs Osterpäckchen, ich hab’s selbstverständlich noch nicht aufgemacht.” Jedes Jahr schicken wir ihr zu Ostern denselben Süßigkeitenfirlefanz, den sie schon als Kind vernaschte; wir kaufen alles doppelt, damit wir auch was davon haben.
“Übrigens, Ostern und so”, setzte sie hinzu, “also ich meine auch die Tage davor, Good Friday, wo die Christen Last Supper und Kreuzigung Jesu zelebrieren undsoweiter, das sind in Deutschland Feiertage, stimmt’s? Wie ernst nehmen das die Deutschen eigentlich?”
“Naja, kommt drauf an. Ein paar Leute werden wohl schon in den Kirchen hocken und Tränen über ihren Heiland vergießen, und die anderen malen Eier an. Jedenfalls ist sonst alles dicht. Warum fragst du?”
“Hab ich euch von meiner verheirateten portugiesischen Kommilitonin erzählt? Sie ist sehr nett, und ich hab mich öfter gut mit ihr unterhalten. Aber diese Woche sprach sie mich recht verärgert an, sie könne leider nicht an der Konferenz teilnehmen, weil sie sich in der Karwoche ihrer Familie widmen müsse, und überhaupt fände sie es unmöglich, die Konferenz ausgerechnet auf diese heiligsten Tage anzuberaumen.”
“Es zwingt sie ja keiner zur Teilnahme, oder kriegt sie etwa Schwierigkeiten mit ihren Professoren, wenn sie sich nicht sehen läßt?”
“Nein, natürlich nicht. Ich hab gesagt, so freundlich wie möglich, daß es bei uns separation of church and state gibt; das mag zwar in Portugal anders sein, aber wir sind hier nicht in Portugal. Da meinte sie, wir sollten mehr Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen und uns das nächstemal solche Termine besser überlegen. Ich hab erwidert, wir hätten uns diesen Termin sehr gründlich überlegt und seien dabei rein logistisch vorgegangen; andere Erwägungen hätten an einer akademischen Institution wie der unseren nichts zu suchen.” Aviva zögerte einen Moment, aber dann brach es doch aus ihr heraus: “Was denkt sie sich eigentlich, kommt hierher als Gast und will uns Vorschriften machen. Statt auf die Gepflogenheiten der Gastgeber Rücksicht zu nehmen oder sie wenigstens zu tolerieren, verlangen die Gäste, daß wir uns an deren Gebräuche anpassen. Das wäre ja noch schöner.”
“Ja”, pflichtete ich bei, “ganz deiner Meinung. Das ist so wie mit dem Schwimmbad in Hannover.” Und dann mußte ich meiner Tochter die ganze Tragikomödie vom bürokratisch sanktionierten und moslemisch motivierten Frauentag erzählen, bis die Kaffeepause ihrer Konferenz vorüber war.