Wolfgang Röhl / 22.06.2018 / 06:07 / Foto: Tim Maxeiner / 22 / Seite ausdrucken

Unbequeme Wahrheiten über das Reisen

Reisen bildet, ließ der im Zitatenranking führende Deutsche (in seinem langen Leben zumeist ein Stubenhocker) mal via Eckermann verlauten. Schränkte aber gleich ein: „Für Naturen wie die meine“. 

Egal, seine Sentenz von der Reise als Bildungs-, Berichtigungs-, Belehrungs- und Belebungsfutter war somit in der Welt. Dem Wort wuchsen im Laufe der Zeiten Flügel, länger als die Tragflächen eines Riesen-Airbus. Legionen von Goethe-Verstehern haben die Weisheit weitergereicht. Sie ist längst ins kollektive Gedächtnis implantiert. Anzunehmen, dass sie unbewusst sogar jenen im Hinterköpfchen sitzt, deren Reisetätigkeit sich üblicherweise darauf beschränkt, All-Inclusive-Herbergen an der Playa de Palma oder airbnb-Quartiere im nahen Hipsterhotspot Barcelona anzusteuern.

Weniger bekannt ist ein Aphorismus des Publizisten Johannes Gross. Er lautet (zitiert nach Gross’ stilistischem Meisterschüler Michael Klonovsky): Die Begegnung der Völker ist ihrer Verständigung nicht dienlich. 

Halt, bitte! Hier geht es nicht um die Begegnung der Völker auf vormals deutschem Hoheitsgebiet, wo das Zusammenleben bekanntlich täglich neu ausgebadet werden muss (um Katrin Göring-Eckardt aus der Lamäng zu quoten). Gross verstarb 1999. Er hatte die Jahre 2015 ff. nicht annährend auf dem Radar.

Gross spielte wohl auch nicht auf Zustände in manchen Urlaubszonen an, wo Reiseveranstalter eine Art Apartheid praktizieren. Deutsche und Briten werden zum Beispiel auf Mallorca nach Möglichkeit mit gehörigem Abstand zueinander untergebracht, zwecks Vermeidung unschöner Szenen. Doch die Niederungen des Massentourismus dürfte der feingeistige „Capital“-Herausgeber und FAZ-Kolumnist Gross nie betreten haben. 

Eine hochanstrengende, brandgefährliche Unternehmung

Was also wollte uns der Autor, ein Konservativer alten Schlages, mit der Reisewarnung sagen? Sie klang ja seinerzeit geradezu anachronistisch. Nachdem das Reisen über Jahrtausende ein lästiges Übel im Leben der Menschen dargestellt hatte – eine hochanstrengende, brandgefährliche Unternehmung, die nur auf sich nahm, wer Hunger, Klimakatastrophen, Pogrome oder Invasionen fliehen musste –, kam unter europäischen Privilegierten mit der Renaissance die Mode des Lustreisens auf. 

Heißt, der Adel und das betuchte Bürgertum begaben sich zur schieren Erbauung auf die oft mühsame Grand Tour nach Frankreich und Spanien, zu den antiken Stätten in Italien und Griechenland oder gar bis ins Heilige Land. Später kamen auch die Pyramiden von Gizeh auf den obligatorischen Besuchsplan. Wer die Grand Tour nicht absolviert hatte, war damals in tonangebenden Kreisen etwa so angesagt wie ein heutiger Jungjurist, der kein Masterstudium made in USA vorweisen kann.

Fortan wurde das Reisen anschwellend hymnisch besungen. Voltaire: „Reisen muss man, oder man kommt hinter nichts.“ Matthias Claudius: „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“ Jean Paul: „Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist.“ Marcel Proust: „Reisen veredelt den Geist und räumt mit allen anderen Vorurteilen auf.“ Auch Mark Twain, gewöhnlich ein Spötter vor dem Herrn, erklärte ernstlich, dass Reisen „tödlich“ sei, nämlich „für Vorurteile“.

Ausgerechnet Twain! Ich besitze ein vergilbtes Buch aus der Feder des Schnauzbärtigen, das geeignet war, seinen Zeitgenossen jedwede Fernreiselust auszutreiben. Das Werk heißt auf Deutsch „Die Arglosen im Ausland“ (Originaltitel von 1869: The Innocents Abroad) und ist bestimmt nicht zufällig im Aufbauverlag der ummauerten DDR erschienen. Es handelt sich um das Diarium der ersten Kreuzfahrt aller Zeiten, die Twain von New York aus auf dem Dampfer „Quaker City“ unternahm. 

Die Reise geht über Marokko und Südeuropa in den Nahen Osten und bestätigt für die Passagiere – Twain eingeschlossen – sämtliche Vorurteile über schmutziges, habgieriges Gesindel, das an den Rändern des Mittelmeeres haust, immer bereit, dem naiven Globetrotter das Fell über die Ohren zu stülpen. 

Das „Gejaule der Gondolieri“

Dringt man ausflugshalber ins Landesinnere vor, wird es keineswegs besser. Paris ist voller Betrüger und wird von Kretins bevölkert, die kein Englisch sprechen. Die französische Moral ist „nicht von der hochgeschlossenen Art“, und die „weitaus schönsten Frauen, die wir in Frankreich gesehen haben, waren in Amerika geboren und aufgewachsen.“

Und erst Italien! Tiraden über die dortigen „elenden Verbrecher“, das „Gejaule der Gondolieri“, Katzenkadaver auf den Straßen und die laxe Arbeitsmoral der Nudelmampfer („Sie arbeiten zwei oder drei Stunden hintereinander, aber durchaus nicht angestrengt, und dann hauen sie ab und fangen Fliegen“) wechseln mit Klagen über steindumme, radebrechende Fremdenführer, deren Sermon Twain aufs Polemischste nachäfft. 

Dienstbare Geister haben für ihn stets ein „speichelleckerisches Grinsen“ aufgesetzt, sie „schwitzen und riechen aufdringlich und sehen kriecherisch und gemein und unterwürfig aus. Es gibt keinen Dienst, der ihnen zu entwürdigend ist, wenn er mit Geld belohnt wird.“

Was Twain schließlich über Griechen, Damaszener („die hässlichsten, im höchsten Grade bösartig aussehenden Schurken“) oder Ägypter verbreitet, würde heutzutage zur sofortigen Facebook-Sperre führen. Reisen killt Vorurteile? Von wegen! Reisen elaboriert Vorurteile manchmal erst so richtig. Dafür gibt es Gründe. Denn an vielen Vorurteilen ist irgendetwas dran. Andernfalls blieben sie nicht im Umlauf.

Ich glaube, eben das wollte Johannes Gross ausdrücken mit seinem Diktum, die Begegnung der Völker befördere nicht notwendigerweise ihre gegenseitige Wertschätzung. Wie sagt der Angelsachse? Familiarity breeds contempt, Vertrautheit erzeugt Verachtung. 

Sicher, unter Europäern ist das heutzutage kein großes Problem. Man kennt sich, weiß um die Macken der anderen. Von gewöhnlichen Briten, Franzosen, Italienern oder Spaniern zu erwarten, dass sie eine zweite Sprache zumindest rudimentär beherrschen, fällt dem Rest Europas nicht ein. 

Wenn dem Besucher die rosarote Brille abhanden kommt

Dass man in Skandinavien und Finnland gut essen gehen kann, ohne dass hinterher die Kreditkarte glüht, glaubt ebenfalls niemand. Dass man im U.K. auf den Besuch der meisten Großstädte, London und Edinburgh ausgenommen, sehr gut verzichten kann, hat sich weithin rumgesprochen. Und dass ausländische Touristen in Deutschland vorzugsweise Bayern bereisen, um den Ruhrpott hingegen einen weiten Bogen schlagen sollten, bedarf nicht der Kommunikation.

Heikel wird es da, wo exotische Destinationen über lange Zeiten hartnäckig romantisiert wurden. Und wo die Realität dann umso ärger zubeißt, wenn dem Besucher die rosarote Brille abhanden kommt. Wer über das in Rundfunkfeatures und Reisekatalogen noch immer zur traumhaften Gewürzinsel verklärte Sansibar fährt, kommt unvermeidlich auf den Gedanken, dass genau hier das ganze Dilemma Afrikas in der Nussschale zu besichtigen ist. 

So viele Menschen, so wenig Jobs. Der explosive Bevölkerungszuwachs bildet sich in Strömen von Schulkindern am Straßenrand ab. Selbst mit Zwei- oder Drei-Schichten-Betrieb kommen die Schulen kaum gegen die Flut von Nachwuchs an. Unübersehbar: Fortschritt, gäbe es mal welchen, würde hier unverzüglich aufgefressen. Sansibar macht manche Besucher wütend. Wütend auf die Leute von Sansibar.

Andere Plätze ersticken an ihrem Müll. Wie Bali, das seit Jahrzehnten ein Tourismusgeschäft auf Teufel komm raus betreibt; kopflos, planlos, geradewegs in die Kloake mündend. Oder die einst zauberhaften thailändischen Inseln, die der großartige Fotograf René Burri in den 1960ern als Garten Eden verewigte: mittlerweile samt und sonders lärmende Ballermänner mit Gangstern, Girlie-Bars und Jet-Ski-Rasern, überrannt von Horden stumpfsinniger Westler, Russen und Chinesen. 

Am Ende weiß man nicht, wen man mehr verachten soll. Die Einheimischen, welche für den schnellen Dollar ihre schönsten Landschaften ruinieren? Die Touris, an nichts außer Selfies, Suff und Sonnenbräune interessiert? Stimmt schon: Die Begegnung der Kulturen hat im Zeitalter der Billigfliegerei mächtig an Charme verloren.

Immer genug Sprit im Tank haben

Aber warum in den Fernen Osten schweifen? Vorurteile kann man auch in den USA auffrischen. Erhebliche Teile der Staaten muten derart trostlos an, dass man besser darauf achtet, immer genug Sprit im Tank zu haben, um jederzeit weiterfahren zu können. Die Rede ist nicht nur von Detroit oder Philadelphia. Gruselig ist oft auch das rurale Amerika mit seinen schäbigen Towns. Deren deprimierender Ereignislosigkeit hat Bill Bryson in seinem Reisetagebuch „Straßen der Erinnerung“ ein satirisches Denkmal gesetzt. 

Kürzlich im Olympic National Park, Washington State: drumherum Siedlungen, gegen die mein gewiss nicht überschäumendes Heimatdorf O. wie ein pulsierendes Fleckchen Erde erscheint. Ich erinnerte mich nach einigen Übernachtungen in geisterhaften Kaffs an die Zeile aus einem Song vom „Supertramp“-Album „Breakfast in America“: Ooh, how can you live in this way?

Überhaupt bleibt, wer mit Amerika als Ordnungsfaktor grundsätzlich sympathisiert und dies auch weiterhin zu tun beabsichtigt, dem Land am besten physisch fern. Großen Teilen davon, jedenfalls. Die Rockies sind natürlich ein Muss. Kalifornien ist ein Kann. New York? Ermessenssache.

Noch ein Zitat zum Thema Reisen gefällig? Theodor Fontane, der als „literarischer Spiegel Preußens“ gilt, postulierte mal etwas altväterlich: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben“. 

Kein ganz neuer Gedanke, zugegeben. Aber auf eine Weise sehr aktuell. Schönen Urlaub!

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

netiquette:

Martin Wessner / 22.06.2018

Wenn man reist, so sollte man zumindest nicht trampen. Siehe Tagespresse.

Viola Heyer / 22.06.2018

Gute Zäune machen gute Nachbarn.

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