Cora Stephan / 26.05.2009 / 13:14 / 0 / Seite ausdrucken

Unantastbares Grundgesetz?

Wir haben es jetzt seit 60 Jahren und wir sind gut gefahren mit ihm. Sicher: es hat nicht das Pathos der französischen Verfassung mit ihrem Bezug auf die Französische Revolution. Es hat nicht die Dignität der amerikanischen Federal Convention von 1787 mit ihrem Lob des „Glücks der Freiheit“. Aber das Grundgesetz, in dem sich Deutschland verpflichtet, „dem Frieden der Welt zu dienen“, war und ist eine solide Grundlage für den zweiten Versuch der Deutschen mit der Demokratie seit der Weimarer Republik.

Wir haben es jetzt seit 60 Jahren und wir sind gut gefahren mit ihm. Sicher: es hat nicht das Pathos der französischen Verfassung mit ihrem Bezug auf die Französische Revolution. Es hat nicht die Dignität der amerikanischen Federal Convention von 1787 mit ihrem Lob des „Glücks der Freiheit“. Aber das Grundgesetz, in dem sich Deutschland verpflichtet, „dem Frieden der Welt zu dienen“, war und ist eine solide Grundlage für den zweiten Versuch der Deutschen mit der Demokratie seit der Weimarer Republik.
Damit ist eigentlich alles gesagt – und es wird ja auch in diesen Tagen immer wieder gesagt: Keine Revision eines Erfolgsmodells. Dabei läßt doch das Grundgesetz auch seine Schattenseiten durchaus erkennen – es trägt die Spuren seiner Herkunft, denn es stand nicht nur für etwas, sondern zunächst vor allem gegen etwas: gegen die Weimarer Republik und gegen das Dritte Reich.
„Bonn ist nicht Weimar“, hieß der Schlachtruf in den 50er Jahren, ein „glücklicherweise“ war dabei mitgedacht. Der Befund: Weimar litt unter zu wenig Demokraten und zuviel Demokratie. Theodor Heuss etwa meinte in Erinnerung an jene Abstimmungskampagnen während der Weimarer Republik, in denen mächtige Lobbies populistisch für ihre Interessen agitierten, direkte Demokratie schaffe nur „Prämien für Demagogen“. Und endete die Republik nicht damit, daß die Deutschen Hitler wählten?
Doch die Weimarer Demokratie hatte nur vierzehn Jahre Zeit – und sie scheiterte nicht an ihrer Verfassung und auch nicht am „Volk“, sondern an der mangelnden Wertschätzung durch die Parteien. Sogar für die SPD kam damals noch immer die Revolution an erster und die Demokratie höchstens an zweiter Stelle. Vom „Glück der Freiheit“ ganz zu schweigen. Übrigens hat auch nicht das Volk Hitler gewählt. Es waren die Parteien, die ihm den Staat auslieferten.
Nun, nach dem dreckigen Dutzend Jahre unter Hitler war wenigstens die Revolution nicht mehr gefragt, die hatte man gehabt. Doch die Demokratie liebte die Mehrheit wohl ebensowenig – allerdings hatte man weder im Osten noch im Westen diesbezüglich die Wahl. Im Osten wurde der Bevölkerung ein „demokratischer Sozialismus“ aufgenötigt, der wenig mit Demokratie zu tun hatte, und im Westen nahm man nolens volens aus der Hand der Siegermächte entgegen, was in anderen Ländern und zu anderen Zeiten mit Überzeugung und Begeisterung erkämpft werden mußte. Die Demokratie war ein Geschenk, das nicht jeder haben wollte. Manche empfanden es als Oktroy, als aufgzwungen.
Das alles sieht man dem Grundgesetz an: es sollte vor 60 Jahren einem Volk Demokratie angewöhnen, dem man nicht traute. Schon deshalb begünstigte es die indirekte, die Parteiendemokratie.
Heute wiederum scheint das Volk sein Mißtrauen aufgegeben zu haben. Während aktuellen Umfragen zufolge ganze 36 % der Deutschen „keine besonderen Gefühle“ haben, wenn sie nach ihren Empfindungen zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik gefragt werden, finden immerhin 86 Prozent der Deutschen, daß sich das Grundgesetz bewährt habe – das sind 88% im Westen und 75 % im Osten. Und Bewährtes soll man beibehalten, oder?
Doch ist das Grundgesetz deshalb unantastbar? Es ist in all den Jahren ja keineswegs unverändert geblieben. Auch seine Schöpfer sahen in ihm einen vorübergehenden Behelf, die deutsche Teilung sollte ja nicht endgültig sein. In Artikel 146 heißt es deshalb: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Warum haben wir sie also nicht längst, die vom Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung? Schon möglich, daß es der deutschen Einheit besser bekommen wäre, hätte man sie bereits 1990 mit einer neuen Verfassung gekrönt. Einen „Anschluß“ der DDR hat jedoch damals nicht die Bundesregierung „angeordnet“, es war vielmehr die erste freigewählte Volkskammer, und damit auch die letzte, die den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschloß. Getragen womöglich von der weisen Einsicht, daß es besser wäre, es beim Rahmen des Grundgesetzes zu belassen, als eine Verfassung den vielfältigen Wünschen nach inhaltlicher Auffüllung zu öffnen – etwa mit den Rudimenten sozialistischer Utopien.
Das muß indes niemanden daran hindern, erneut über die Verfassungsfrage nachzudenken. Es wäre ja nicht das erste Mal, man denke an die 80er Jahre, als die Grünen in den Bundestag zogen. Die basisdemokratischen Phantasien der Grünen der ersten Stunde waren allerdings eher geeignet, jenes Mißtrauen gegen plebiszitäre Elemente zu bestärken, das sich auf die Weimarer Republik berief. Die grünen Basisdemokraten sahen sich nicht als Partei wie jede andere, sondern als Vertreter von Gattungsinteressen. Insofern schien es nur plausibel, wenn man in Volksabstimmungen für „grüne“ Anliegen eine Möglichkeit sah, Zusatzlegitimation zu gewinnen, die den geringen grünen Anteil an Wählerstimmen hätte ausgleichen können. Paradoxerweise nahmen die Grünen mit Rotation und Zwangsspenden ihre Parlamentarier noch schärfer an die Kandare, als es die anderen Parteien mit ihrem Fraktionszwang bereits taten. Ein Mehr an Demokratie bedeutete das gewiß nicht.
Warum das grüne Experiment mit seiner basisdemokratischen Attitüde zunächst auf soviel Wohlwollen traf? Vielleicht, weil es längst spürbar geworden war, daß das Grundgesetz die Demokratie an die Parteien abgetreten hatte aus Mißtrauen gegen das Volk.
Und dennoch denkt niemand daran, das zu ändern? Das fürchtet Spiegelkorrespondent Gabor Steingart in seinem jüngsten Buch: er behauptet, die Parteien hätten das Grundgesetz zu eigenem Nutz und Frommen für sakrosankt erklärt. Das Grundgesetz beschränke den Einfluß der Wähler nämlich nicht nur, was die direkte Demokratie betrifft. Es stärke auch auf andere Weise die Macht der Parteien. Denn nur die Hälfte aller Abgeordneten hat ein Direktmandat, ist direkt gewählt, ist also im eigentlichen Sinn Volksvertreter. Die andere Hälfte gelangt über einen Listenplatz ins Parlament, und über diese Liste befindet die Partei.
Die Kriterien für die Qualitäten dieser Abgeordneten folgen der Natur der Sache nach den Interessen der Partei. Mit einem Platz auf der Liste belohnt sie Loyalität, Ergebenheit, Anpassungsbereitschaft, also: Profillosigkeit – kurz: den braven Parteisoldaten mit Vergangenheit, nicht den Politiker, der tatkräftig und innovationsfreudig an die Zukunft Deutschlands denkt.
Und wen wiederum repräsentiert die Partei, die solche grauen Gesellen ins Feld schickt? Noch immer sind die meisten Parteigenossen Männer, gern auch Rentner, aktuell und ehemals öffentlicher Dienst. Ihr Alltag heißt Antragsformular und Rentenbescheid, ihre Lebensziele sind Gleitzeit und Vorruhestand. Es sind ihre Interessen, die die Interessen der Parteien bestimmen, reiner „Machterwerbsagenturen“, in denen beizeiten alles aussortiert wird, was nicht dazugehört – der nicht unerhebliche produktive und kreative Rest der Gesellschaft, der die Zeche zahlen muß.
Wer sich und seine Interessen im Wahlkampf der Parteien nicht wiederfindet, weil er weder Rentner, Hartz-IV-Empfänger, im öffentlichen Dienst noch in anderer Weise transfereinkommensabhängig ist, sollte sich nicht wundern, sondern nachrechnen: bereits jetzt gehört die Mehrheit der Wähler zu einer dieser Kategorien. Als Potential sind diese Wähler jedoch noch viel mächtiger, denn es ist anzunehmen, daß viele der anderen sich in der drittgrößten politischen Kraft wiederfinden: in der Partei der Nichtwähler, die bei der Bundestagswahl 2005 mit 13,8 Millionen Wahlstimmen gar nicht so weit hinter der Union mit 16,6 Millionen und der SPD mit 16,2 Millionen lag.
Die wachsende Zahl der Nichtwähler ist ein Indiz dafür, daß das Vertrauen der Wähler in die Parteiendemokratie schwindet. Hier zeigt sich die Kehrseite der Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes: die Legitimation der parlamentarischen Demokratie erodiert. Insofern wäre es an der Zeit, nach sechzig Jahren auf jenes im Grundgesetz verankerte institutionelle Mißtrauen in die Wähler zu verzichten, das die Parteien nicht nur unvorteilhaft begünstigt, sondern sie zugleich unflexibel, kurzatmig und unrepräsentativ macht.
Doch für eine Veränderung des Grundgesetzes braucht man die Parteien. Sie werden sich vor einem selbstzugefügten Machtverlust hüten. Ob sich das ändert, sollte die Partei der Nichtwähler einmal die stärkste Kraft geworden sein? Oder wird sich die Unzufriedenheit ihren Kanal in einer populistischen Rebellion graben?
Es lebe das Grundgesetz. Aber: Es hat sich schon manches Erfolgsmodell zu Tode gesiegt.
Wir haben es jetzt seit 60 Jahren und wir sind gut gefahren mit ihm. Sicher: es hat nicht das Pathos der französischen Verfassung mit ihrem Bezug auf die Französische Revolution. Es hat nicht die Dignität der amerikanischen Federal Convention von 1787 mit ihrem Lob des „Glücks der Freiheit“. Aber das Grundgesetz, in dem sich Deutschland verpflichtet, „dem Frieden der Welt zu dienen“, war und ist eine solide Grundlage für den zweiten Versuch der Deutschen mit der Demokratie seit der Weimarer Republik.

Gedanken zur Zeit, NDR, 17. Mai 2009

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