Während zuhause die Mäuse auf dem Tisch tanzten, warb Olaf Scholz in New York für den UN-Zukunftspakt und "eine gerechtere, inklusivere und kooperativere Welt". Dabei kamen 56 Seiten heraus. Was in der Endfassung drin steht und was nicht.
Am 22. September nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York einen dreiteiligen Reformplan an: den sogenannten Zukunftspakt zur Reform der internationalen Ordnung, der teilweise unter Führung Deutschlands ausgehandelt worden war (achgut berichtete hier und hier). Neben dem eigentlichen Zukunftspakt enthält die UN-Resolution noch einen globalen Digitalpakt und eine Erklärung zu künftigen Generationen. Das offizielle Dokument liegt bislang in sechs Sprachen vor. Deutsch zählt nicht dazu.
In der Pressemitteilung der Vereinten Nationen wird vollmundig hervorgehoben, dass es sich bei dem „Zukunftspakt“ um das umfassendste internationale Abkommen seit vielen Jahren handele. Ziel des Pakts sei vor allem sicherzustellen, dass internationale Institutionen angesichts einer Welt, die sich seit Gründung dieser Institutionen dramatisch verändert habe, ihre Aufgaben erfüllen können. Die Vereinbarung des Pakts stelle insbesondere ein starkes Bekenntnis der Länder zu den Vereinten Nationen dar. Der Pakt sei darauf ausgelegt, die Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Nachhaltigkeitsziele voranzutreiben.
Während der Digitalpakt und die Erklärung zu künftigen Generationen jeweils zweimal überarbeitet wurden, wurde vom eigentlichen Zukunftspakt noch eine vierte revidierte Version angefertigt. In der Erklärung zu künftigen Generationen, die sich u.a. auf den UN-Migrationspakt stützt, haben sich die Mitgliedstaaten – wie zu erwarten – nun tatsächlich dazu bereit erklärt, die Zusammenarbeit zwischen den Staaten zu verstärken, „um eine sichere, geordnete und reguläre Migration zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern zu gewährleisten, unter anderem durch die Verbesserung und Diversifizierung der Verfügbarkeit und Flexibilität von Wegen für die reguläre Migration, unter Anerkennung der positiven Beiträge von Migranten zu integrativem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung“. Auch zum „Schutz des Rechts auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben sich die Staaten verpflichtet. Dazu zähle etwa der „gleichberechtigte Zugang zu sicheren, erschwinglichen, wirksamen und qualitativ hochwertigen Arzneimitteln, Impfstoffen, Therapeutika und anderen Gesundheitsprodukten“.
Die UN-Mitgliedstaaten versichern, die getroffenen Vereinbarungen in ihre nationale Politikgestaltung umzusetzen und zu überwachen. Die zentralen „Aktionen“, die in der Erklärung formuliert sind, klingen beinahe so, als wären sie direkt von einschlägigen Pharma- und Digitalkonzernen bestellt worden. Auch der Digitalpakt deckt sich wunderbar mit den Interessen global agierender Investoren. Hier beabsichtigen die Länder, alle „digitalen Klüfte zwischen und innerhalb von Ländern“ zu schließen – unter besonderer Berücksichtigung von Entwicklungsländern. Wörtlich heißt es: „Wir verpflichten uns, alle Menschen an das Internet anzuschließen. Wir sind uns bewusst, dass dies starke Partnerschaften und verstärkte finanzielle Investitionen in den Entwicklungsländern seitens der Regierungen und anderer Interessengruppen, insbesondere des Privatsektors, erfordert.“ Digitale Technologien könnten darüber hinaus dazu beitragen, die Umsetzung der Agenda 2030 zu beschleunigen, wobei mehr Daten erhoben werden müssten, um die Überwachung und die Politikgestaltung zur Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda zu verbessern.
Wer kümmert sich um die Informationsauswahl?
Wichtig seien auch die „Entwicklung und Durchführung nationaler Erhebungen zur digitalen Inklusion mit nach Einkommen, Geschlecht, Alter, Ethnie, Migrationsstatus, Behinderung und geografischem Standort aufgeschlüsselten Daten sowie anderen im nationalen Kontext relevanten Merkmalen, um Lernlücken zu ermitteln und Prioritäten in bestimmten Kontexten zu setzen“. Die Länder wollen zudem ausdrücklich „alle Formen von Hassreden und Diskriminierung, Fehlinformation und Desinformation“ im Internet bekämpfen. Sie verpflichten sich dazu, bis 2030 Lehrpläne für digitale Medien- und Informationskompetenz einzuführen, „um die Widerstandsfähigkeit gegen die schädlichen Auswirkungen von Fehlinformationen und Desinformationen zu erhöhen.“ Journalisten und Medienschaffenden sollen dadurch unterstützt werden, dass ihnen „unabhängige“ und „faktenbasierte“ Informationen bereitgestellt werden - vor allem in Krisensituationen.
Da darf man gespannt sein, wer diese Informationsauswahl vornehmen und kontrollieren wird. Jedenfalls seien grenzüberschreitende Datenströme ein entscheidender Motor der digitalen Wirtschaft, der sich offenbar niemand mehr entziehen können soll. Auch in Hinsicht auf Künstliche Intelligenz möchten die Vereinten Nationen Einfluss erhalten. So ist zu lesen: „Wir sind der Auffassung, dass die internationale Steuerung der künstlichen Intelligenz ein flexibles, multidisziplinäres und anpassungsfähiges Multi-Stakeholder- Konzept erfordert. Wir erkennen an, dass die Vereinten Nationen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung, Ermöglichung und Unterstützung einer solchen Governance spielen müssen.“ Daher müsse innerhalb der Vereinten Nationen ein „unabhängiges“ internationales wissenschaftliches Gremium für KI eingerichtet werden.
Entscheidend sind jedoch die Passagen im „Zukunftspakt“, die den Umgang mit „komplexen globalen Schockereignissen“ regeln – also mit Krisensituationen wie Pandemien, Klimanotständen oder Cybervorfällen. Hier wird nun als Aktion 54 („Wir werden die internationale Reaktion auf komplexe globale Schocks verstärken“) ausgeführt:
„Wir sind uns der Notwendigkeit einer kohärenteren, kooperativen, koordinierten und multidimensionalen internationalen Reaktion auf komplexe globale Schocks und der zentralen Rolle der Vereinten Nationen in dieser Hinsicht bewusst. Komplexe globale Schocks sind Ereignisse, die schwerwiegende Störungen und nachteilige Folgen für einen beträchtlichen Teil der Länder und der Weltbevölkerung haben und zu Auswirkungen in mehreren Sektoren führen, die eine multidimensionale und regierungs- und gesellschaftsübergreifende Reaktion erfordern. Komplexe globale Schocks wirken sich unverhältnismäßig stark auf die ärmsten und verletzlichsten Menschen in der Welt aus und haben in der Regel katastrophale Folgen für nachhaltige Entwicklung und Wohlstand.“
Und weiter: „Wir werden die Rolle des Generalsekretärs aufrechterhalten, die unter anderem darin besteht, die Mitgliedstaaten einzuberufen, die Koordinierung des gesamten multilateralen Systems zu fördern und mit den einschlägigen Akteuren auf Krisen zu reagieren. Wir ersuchen den Generalsekretär, Ansätze zu erwägen, um die Reaktion des Systems der Vereinten Nationen auf komplexe globale Schocks im Rahmen der bestehenden Befugnisse und in Absprache mit den Mitgliedstaaten zu stärken, die die Reaktion der Hauptorgane der Vereinten Nationen, der zuständigen Organisationen der Vereinten Nationen, der Koordinierungsstellen und -mechanismen der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen, die mit der Reaktion auf Notfälle beauftragt sind, unterstützt, ergänzt und nicht dupliziert, und zwar unter uneingeschränkter Achtung der koordinierenden Rolle, die den Vereinten Nationen bei der Reaktion auf humanitäre Notfälle zukommt.“
Diese umständliche Formulierung verdeutlicht, wie offenbar um diesen Punkt gerungen wurde. Denn im dritten Entwurf des Zukunftspakts vom 27. August war unter Aktion 57 noch vorgesehen, dass der UN-Generalsekretär „Notfallplattformen“ einberufen können sollte. Wörtlich war zu lesen: „Wir ersuchen den Generalsekretär, den Mitgliedstaaten Protokolle zur Einberufung und operativen Umsetzung von Notfallplattformen auf der Grundlage flexibler Ansätze zur Reaktion auf eine Reihe unterschiedlicher komplexer globaler Schocks vorzulegen, einschließlich Kriterien für die Aktivierung und das Auslaufen von Notfallplattformen, wobei sicherzustellen ist, dass Notfallplattformen für einen begrenzten Zeitraum einberufen werden und keine ständige Einrichtung oder Instanz darstellen.“
Jetzt darf UN-Generalsekretär Guterres also doch nicht allzu eigenmächtige Entscheidungen treffen, sondern muss sich bei „globalen Schocks“ zumindest formal mit den Mitgliedstaaten einigen. Immerhin. Das ist im Vergleich zu den von Deutschland und Namibia ausgearbeiteten Entwürfen in der Tat eine bemerkenswerte Abmilderung, wobei Guterres in seiner Ansprache zur Eröffnung des Zukunftsgipfels in New York allerdings noch einmal darauf hinwies, dass der Pakt Maßnahmen für eine sofortige und koordinierte Reaktion auf komplexe globale Schocks vorsehe. Vor allem geht es Guterres aber offenbar um den „gerechten Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe“.
Im Pakt ist denn auch die Beschleunigung der Maßnahmen „zur Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels“ beschlossen worden, einschließlich der Bereitstellung von mehr Finanzmitteln, um Ländern bei Investitionen in erneuerbare Energien zu unterstützenen. Um bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichn, soll von fossilen Brennstoffen abgerückt werden. Zudem soll die Einführung einer globalen Mindestbesteuerung für vermögende Privatpersonen geprüft werden. Und Entwicklungsländern soll mehr Mitspracherecht bei Entscheidungen in internationalen Finanzinstituten eingeräumt werden. Dazu soll eine bessere Finanzierung durch multilaterale Entwicklungsbanken mobilisiert werden, damit Entwicklungsländer nachhaltige Kredite aufnehmen können, wobei IWF, UN, G20 und andere wichtige Akteure zusammenarbeiten sollen. Die „internationalen Finanzarchitektur“ soll also nach wie vor transformiert werden.
Auch Absichtserklärungen gegen ein Wettrüsten im Weltraum sind im Pakt festgehalten worden. UN-Generalsekretär Guterres betonte, der Pakt öffne Wege zu neuen Möglichkeiten und Chancen für Frieden und Sicherheit. Bundeskanzler Scholz erklärte dazu, dies sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Reform des Sicherheitsrates, bei der auch Deutschland einen ständigen Sitz im höchsten UN-Gremium beanspruche. Insgesamt verpflichten sich die Staaten im „Zukunftspakt“ zu einem Neuanfang im Multilateralismus: Das multilaterale System mit denVereinten Nationen im Zentrum müsse gestärkt werden. Ungleichheiten innerhalb der Länder und zwischen den Ländern müssten abgebaut werden. Der globale Süden müsse gestärkt und die Entwicklungshilfe der Industrieländer auf 0,7Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöht werden. Auch die Anstrengungen zur Wiederherstellung der Natur müssten intensiviert werden. Um die globalen Herausforderungen zu bewältigen, welche die gesamte Menschheit bedrohen könnten, sei eine Umgestaltung der Global Governance (Weltordnungspolitik) unerlässlich.
Nicht zuletzt bekräftigen die Staaten, „kulturelle Vielfalt und das kulturelle Erbe sowie Sprachen, Wissenssysteme und Traditionen“ zu würdigen, und sie fordern „Anerkennung, Achtung, Förderung und Schutz der Rechte indigener Völker, ihrer Territorien, Ländereien und Ökosysteme unter Wahrung ihrer Traditionen, ihres spirituellen Glaubens und ihres angestammten Wissens“ sowie die „Stärkung ihrer eigenständigen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen“. Ob darauf wohl auch die indigenen Einwohner europäischer Länder Anspruch haben?
Quelle: UN-Resolution („Zukunftspakt“)
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.