„Wer heute nicht einmal als ‚umstritten‘ gilt, ist meist auch belanglos“. Ein Wort zur rechten Sache und zur rechten Zeit von einem der bekanntesten katholischen Intellektuellen Deutschlands, Professor Dr. Wolfgang Ockenfels OP. Er selbst ist „umstritten“, seit langem schon, und das in mehrfacher Hinsicht. Zum Beispiel, indem er dem Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) eine Gleichschaltung mit dem System Merkel vorwirft. Und nun auch noch deshalb, weil er, Ockenfels, Mitglied im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung geworden ist.
Der Begriff „umstritten“ erfreut sich vor allem bei Journalisten großer Beliebtheit. Man kann damit Distanz gegenüber Sachverhalten, Personen oder Ansichten ausdrücken, ohne dies objektiv begründen zu müssen. Oder zu können. Ziemlich gewieft, denn was schon sollte da wer entgegnen können? Außerdem bedeutet die Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt viel Arbeit, und am Ende läuft man Gefahr, dass genau das, was man als umstritten herausstellen wollte – oder sollte –, die überzeugendere Position ist. Hieraus die Konsequenz zu ziehen, hieße, aus dem Mainstream auszuzweigen, vielleicht sogar ganz von ihm abzufallen. Oder man kriegt (besser?) doch noch die Kurve, da andernfalls berufliche Konsequenzen drohen.
Umstritten ist letztlich alles. Oder fast alles. Nicht umstritten z.B. ist … für den Moment fallen mir gerade mal das Hebelgesetz und das Ohmsche Gesetz ein. Auch, dass Goethe ein großer deutscher Geist war, dass die Erde rund ist und um die Sonne kreist, dass … Sicher sind da noch viele weitere unumstrittene Sachverhalte und Personen zu nennen. Wo aber die Wissenschaft, die Technik und die Kunst leben, allzumal dort, wo die Politik zuhause ist, überhaupt da, wo die Fronten sind, dort wird gestritten. Um das Unstreitige herauszufinden, oder um es Anderen als solches hinzustellen. Allerdings, je komplexer ein Gegenstand ist, umso schwieriger wird es.
Schon für die Quantenphysik gilt das, obwohl sie doch so elementar ist. Erst recht, was das Wetter anbelangt oder die Klimaentwicklung gar. Noch komplizierter ist es mit der Ökologie. Nichts ist dort unumstritten, so unzählig sind die Wechselbeziehungen, die man zu berücksichtigen hätte. Ganz ausgesprochen gilt das auch für die menschliche Gesellschaft mit all den vielen Schrauben und Schräubchen, mit denen sie gesteuert werden kann oder könnte oder sollte oder muss.
Ein zelluläres Signalmolekül ist nie „umstritten“
Die Wissenschaft und die Technik leben vom Streit der Argumente. Gleich, welche Fachrichtung, jeder will es besser wissen und besser können und fährt mit neuen, möglichst handfesten Daten auf, um die Kollegen zu übertrumpfen. In der Technik wird weniger mit Worten gestritten als vielmehr mit Ergebnissen. Deren Marktfähigkeit entscheidet, was als unbestreitbar gilt, für den Moment wenigstens. Dank solcher Prinzipien verändert sich unsere Welt zusehends, oft zum Besseren, ja zum Besten hin. Doch nicht immer. Manche Fortschritte in Wissenschaft und Technik erweisen sich als recht bedenklich, ja als maligne. Auch der Krebs schreitet fort und zerstört am Ende den ganzen Körper.
Anders, wenn es Ansichtssache ist, was da als gut zu gelten hat, als ebenbürtig oder als besser oder schlechter als das Bisherige. Ganz persönliche Einstellungen entscheiden darüber, Vorlieben und Vertrauenshaltungen, und oft auch wird das, was wir mögen, durch die Pfiffigkeit der Werbung bestimmt. Wer schon wollte die Qualität all der verschiedenen Spülmittel, Zahnpasten und Diätempfehlungen bemessen, welcher Patient mit arthrotischem Hüftgelenk vermag für sich abzuwägen, ob Operation oder konservatives Vorgehen die bessere Variante ist?
Wer kann den Vorteil einer Medikamentenwirkung gegenüber dem Nachteil durch die unerwünschten Effekte beurteilen, wer im konkreten Fall die Vor- und Nachteile einer placebovermittelten Homöopathie gegenüber einer „streng akademischen“ Medikation? Überall dort, wo die Sachverhalte zur Ansichtssache werden, ist alles „umstritten“, zumindest sehr vieles. Selbst die Leute vom Fach sind da oft ratlos, vor allem dann, wenn es um sie selbst oder um ihre Familienmitglieder geht.
Bei Kontroversen in politisch neutralen Wissenschaftsbereichen ist das anders. Wenn es z.B. um alternative Strukturvorschläge für ein bestimmtes zelluläres Signalmolekül geht, dann wird kaum jemals der Begriff „umstritten“ auftauchen. Obwohl da oft sehr hart gestritten wird. Die Auffassungen mögen unterschiedlich, mögen kontrovers genannt werden, aber eben nicht in moralisierend abwertender Weise „umstritten“. Und schon gar nicht mit Bezug auf die Personen, die darüber arbeiten. Es sei denn, sie sind beim Betrügen erwischt worden.
Kein Bundestag mit Beamer und Leinwand
Sobald sich aber aus den Ergebnissen der Wissenschaft Konsequenzen ableiten lassen, die für bestimmte politische Gruppierungen unannehmbar sind, wird sogar das, was objektiv unbezweifelbar ist, „umstritten“ genannt. Die Genetik hat daran besonders zu schleppen. Schon damals in der Stalin-Ära unter dem Einfluss des Lyssenkoismus war das so. Kaum anders heute, wenn es z.B. um die Erblichkeit der Intelligenz geht. Oder um die sonstiger Begabungen oder Minderbegabungen, wie überhaupt um Persönlichkeitsmerkmale und entsprechende familiäre Häufungswahrscheinlichkeiten. Umstritten deshalb, weil bei Anerkenntnis politische Konsequenzen unausbleiblich wären. Konsequenzen, die man aus ehrenhaften Gründen scheuen mag, z.B. solchen der moralischen Art, oft genug aber auch aus rein parteitaktischen Erwägungen heraus.
Naiv, zu glauben, im Bundestag würde jemals mit Beamer und Leinwand gearbeitet, um, wie auf wissenschaftlichen Kongressen üblich, die Stichhaltigkeit von Argumenten mit Zahlen und Diagrammen zu belegen. Immerhin ist der Bundestag das Gremium, in dem es um Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen geht, die für unser Land und oft auch jeden Einzelnen von uns von enormer Tragweite sind. Die Last der Verantwortung sollte geradezu unerträglich sein. Dementsprechend auch das Pensum an Aufgaben, um alle die jeweils notwendigen Informationen zu beschaffen und zu verdauen. Doch da sieht man keine Hoffnung blinken, denn hier wie in allen anderen politischen Gremien geht es wesentlich darum, mit welchen Worten und welcher Emphase politische Leitlinien erzeugt und befolgt werden, wie etwas dort unten in der Bevölkerung ankommt, und – vor allem – wer das ist, der da was sagt.
Denken wir uns Ähnliches bei der Vorstellung eines neuen Krebsmedikaments. Die Fakten stimmten, der Erfolg des Mittels wäre überzeugend, aber: Das Medikament würde von einer Mehrheit abgelehnt, einfach deshalb, weil das Novum von einer Person oder einer Personengruppe präsentiert wird, die man aus rein taktischen Gründen missbilligt.
Und weiter: Stellen wir uns vor, da würde jemand im Bundestag mit Zahlen und Kurven aufwarten, die zwingend davon überzeugten, dass die bisherigen Auffassungen zu atmosphärischen Grenzwerten, zu anthropogenem Klimawandel oder zum Ausstieg aus der Kernenergie falsch sind. Oder mit denen die gegenwärtig gepflegten Ansichten zur Determinierung des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit ad absurdum geführt würden, oder die zu Glyphosat, zur Grünen Gentechnik, zur Eurorettung, zu den Migrationsfolgen oder zum Schengen-Prinzip unter den Bedingungen von heute. Wie stünde die bisherige Politik dann da? Als unvernünftig und völlig daneben, als scheinfromm womöglich.
Doch keine Sorge, selbst wenn die Stichhaltigkeit der Argumente sachlich nicht zu bezweifeln wäre, genügt es zur Verteidigung, sie als falsch zu brandmarken. Weil von der falschen Person aus der falschen politischen Gruppierung vorgebracht. Und diese sind nun mal alle zusammen, milde ausgedrückt, „umstritten“. Gegebenenfalls „höchst umstritten“.