Manfred Haferburg / 26.02.2022 / 06:08 / Foto: Pixabay / 85 / Seite ausdrucken

Ukrainische AKWs sofort runterfahren!

Voller Angst berichten die Hauptstrommedien von der nuklearen Bedrohung durch die Einnahme der Sperrzone um das 1986 havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine durch russische Fallschirmjäger. Dies wird als eine so große Bedrohung der eigenen Sicherheit wahrgenommen, dass den sonst so eifrigen Angstaposteln förmlich die Tinte im Füller gefriert. 

Um es gleich vorweg zu schicken, das Szenario ist alles andere als harmlos. Kernkraftwerke sind, wie alle Industrieanlagen, nicht für den Betrieb in Kriegszonen gesichert. Und schon gar nicht der große Sicherheitseinschlusscontainer um den zerstörten Reaktor des Tschernobyl-Blockes 4 herum. Er würde zwar einem Tornado widerstehen, aber keinem Lenkraketeneinschlag oder einer verirrten Artilleriegranate. Ein Tarnnetz würde bei einer Höhe von 100 Meter, einer Breite von 250 Meter und einer Länge von 160 Meter auch nicht helfen. 

Aber so ein Artillerie- oder Panzergeschoss, das sicherlich die Hülle durchdringen würde, könnte nicht zu größerer Verbreitung radioaktiver Stoffe führen. Dann hätte der neue Sicherheitscontainer ein Loch und die Unterdruckhaltung des Lüftungssystems würde beeinträchtigt. Aber das radioaktive Inventar bliebe im Großen und Ganzen dort liegen, wo es ist. Davor braucht in Deutschland niemand Angst zu haben. Schlimm wäre es allerdings, wenn ein größerer Luftangriff mit Bomben oder großen Raketen die Schutzhülle großflächig zerstören und zusätzlich ein großes Feuer im Inneren entzünden würde. Dann würde die aufsteigende Hitze eine erhebliche Menge radioaktiver Partikel in große Höhen mitreißen und mit dem Wind weiträumig verteilen. Dann hätten wir ein zweites Tschernobyl.

15 Druckwasser-Reaktoren in vier Kernkraftwerken

Anhand dieser kleinen Betrachtung merken wir schon, dass man ein bisschen systematischer an die Bedrohung der Kernkraftwerke in der Ukraine herangehen muss. Wir müssen unterscheiden zwischen unbeabsichtigtem Treffer oder absichtlichen Angriff, sowie zwischen stillgelegtem oder arbeitendem Kraftwerk. 

Die drei weiteren Blöcke 1 bis 3 des Kernkraftwerkes Tschernobyl sind abgeschaltet und weitgehend brennstofffrei. Sie befinden sich in der Anfangsphase des Rückbaus. Damit sind keine unsicheren Tschernobylreaktoren vom Typ RBMK in der Ukraine mehr in Betrieb. Unweit des Kernkraftwerkes wurde mit internationaler Hilfe ein gebunkertes Zwischenlager für die sichere Einlagerung der 21.000 verbrauchten Brennelemente in Betrieb genommen, die hier für die nächsten hundert Jahre in doppelwandigen Behältern gelagert werden. Von ihnen geht keine Gefahr durch verirrte Geschosse aus. Wohl aber durch einen absichtlichen Angriff, der die Bunker bricht und die Container zerstört. 

Die Ukraine ist trotzdem ein Land, das mehr als 50 Prozent seines Stroms mit Kernkraft produziert. Es sind 15 Druckwasser-Reaktoren in vier Kernkraftwerken in Betrieb: Kmelnitzky 3x1000 MW, Rovno 2x400 und 2x1000 MW, Saporoshje 6x1000 MW und South-Ukraine 3x1000 MW. Auch hier gilt es, zu unterscheiden zwischen unbeabsichtigten Artillerie-Treffern – die kaum die massiven Betonhüllen durchdringen könnten – und absichtlichen Angriffen, die mit bunkerbrechenden Raketen oder Bomben die Reaktoren beschädigen könnten, was zu erheblichem Reaktivitätsaustritt führen würde. 

Ich möchte noch ein bisschen darüber nachdenken, ob es im Interesse des russischen Aggressors ist, absichtlich Kernkraftwerke oder die Tschernobyl-Ruine in eine „schmutzige“ Bombe zu verwandeln. Die Antwort ist aus meiner Sicht eindeutig „nein“. Erstens würde die unkontrollierte Verteilung von Radioaktivität sowohl die eigene Armee als auch das eigene Territorium und die eigene Bevölkerung akut gefährden. Und zweitens verfügt die russische Armee über mehr als genug nukleares Kriegsmaterial, um ohne diese Eigengefährdung gezielte Schläge führen zu können. 

Ein einzigartiger Naturpark

Bisher wurde keine ernstzunehmende Erhöhung der Strahlenwerte in der Sperrzone des havarierten Kraftwerkes Tschernobyl gemessen, obwohl mehrere Medien am Freitagmorgen von erhöhten Werten aus einem Überwachungssystem des ukrainischen Umweltamts berichteten. Diese würden zeigen, dass die radioaktive Strahlung seit Donnerstagabend von 3.200 Nanosievert pro Stunde (nSv/h) auf 65.500 nSv/h gestiegen ist. Dies sind äußerst geringe Werte, die durch von Militärfahrzeugen aufgewirbelten Straßenstaub hervorgerufen sein dürften. Die Hauptbelastung kommt aus dem Cäsium 137-Fallout, das eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren hat. Die Hälfte der Cäsium-Belastung in der Sperrzone ist schon auf natürlichem Wege verschwunden. 

Die Sperrzone um Tschernobyl war in den letzten Jahren ein beliebtes Touristenziel, da sich ein einzigartiger Naturpark entwickelt hat, in dem alle möglichen seltenen Tierarten gedeihen. In den 30 Jahren seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat sich die Natur die Todeszone zurückerobert – überall wachsen Sträucher und Bäume, auch in Europa selten gewordene Tiere leben dort wieder. Bären, Wölfe, Luchse und Elche – wer solche selten gewordenen Tiere sehen möchte, findet sie in Tschernobyl. Als die Menschen gingen, kam die Natur. Allerdings wurde schon vor einer Woche wegen der drohenden Kriegsgefahr die Sperrzone für Touristen geschlossen. 

Wie stets im Krieg ist wohl das erste Opfer die Wahrheit. Die ukrainische Seite befürchtet, dass die Russen absichtlich Radioaktivität freisetzen könnten. Die russische Seite beschuldigen die Ukrainer mit der gleichen Absicht. Glaubwürdig für mich ist beides nicht. Nach Pressemeldungen wird das KKW Tschernobyl derzeit von russischen Fallschirmjägern bewacht. 

Für die laufenden Kernkraftwerke in der Ukraine wünsche ich mir, diese Anlagen während der aktiven Kriegshandlungen sofort abzufahren und abzukühlen, was zu einem erheblichen Sicherheitsgewinn führen würde. Da dann aber die Versorgung des Landes mit Elektroenergie gefährdet wird, sollte es ein Akt der Solidarität und des Eigeninteresses der friedlichen Anrainerstaaten sein, die Ukraine über die Stromleitungen von außen, so weit es geht, zu versorgen. Ob von der Politik so weit gedacht wird, entzieht sich meiner Kenntnis. 

 

Manfred Haferburg ist Autor des autobiografischen Romans „Wohn-Haft“ (5 Sterne bei 177 Bewertungen). Er wuchs in Sachsen-Anhalt auf und studierte in Dresden. Er arbeitete im Kernkraftwerk Greifswald, einem der damals größten Atomkraftwerke der Welt. Durch seine sture Weigerung, in die SED einzutreten, fiel er der Staatssicherheit auf. Als er sich auch noch weigerte, Spitzel zu werden, erklärte ihn die Partei zum Staatsfeind. Von seinem besten Freund verraten, verlor Manfred erst seinen Beruf, dann seine Familie und zuletzt die Freiheit. Ein Irrweg durch die Gefängnisse des sozialistischen Lagers begann, der im berüchtigten Stasigefängnis Hohenschönhausen endete. Hier gehörte er zu den letzten Gefangenen, die von der Stasi entsorgt wurden. Manfred Haferburg lebt heute mit seiner Frau in Paris.

Foto: Pixabay

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Karsten Dörre / 26.02.2022

Kriegsberichterstattung ist immer Propaganda von allen Seiten, weil Ausnahmezustand. Während ein Staat gerade von der Landkarte ausradiert und von einem Nachbarstaat assimiliert wird, suggeriert man, dass die Russen von AKWs keine Ahnung hätten. Wieder ein Grund mehr für die Lebensvernichter in Deutschland die letzten AKW früher als geplant abzuschalten. Swift als Waffe ist auch in Ordnung, weil Deutschland dann kein Geld für Erdgas nach Russland überweisen kann. Mal im Ernst: die Ukraine ist so von der “Weltgemeinschaft” verloren, wie die Krim am ersten Tag beim Handstreich 2014. Die Begründungen Putins mit Nazis, Faschisten und Genozid sind viel zu weit hergeholt, dass die Russen freiwillig aus der Ukraine wieder abziehen.

lutzgerke / 26.02.2022

Ein typischer Haferburg, muß man ja schon sagen? Aber jetzt mal Butter bei die Fische: Die Ukraine ist kein souveräner Staat. Die hat keine anerkannten Grenzen und sie hat auch versäumt, bei der UNO einen Antrag zu stellen, als souveräner Staat anerkannt zu werden. Die Kiewer Rus war der Vorläuferstaat des heutigen Russlands. In der Ukraine ist Russland gegründet worden. Und Rußland war immer ein Vielvölkerstaat. Zudem lag in der Ukraine die Kornkammer der Sowjetunion. Nachdem Gorbatschow uns die Freundlichkeit der Wiedervereinigung erwiesen hat und russische Soldaten auch sofort abgezogen worden sind, sollten wir so freundlich sein, Rußland die Ukraine zurückzugeben (die Amerikaner hängen noch immer in Deutschland herum). Nach dem Zusammenbruch ist die Ukraine plötzlich übriggebleiben, der Westen hat sich wieder mal als scheußlicher Raubtierkaptalist erwiesen und die Ukraine ohne Mandat an US, chinesische und europäische Agrokonzerne verkauft. Die Verträge sind anfechtbar, denn ohne einen Staat kann Land gar nicht verkauft werden. Es handelt sich hier ziemlich klar um Landraub. / Man muß sich ja auch nicht dumm stellen, weder die USA noch irgendein anderes Land würde das für sich durchgehen lassen. Der Westen jedenfalls ist wohl die allerschwerste Enttäuschung.    

Richard Rosenhain / 26.02.2022

Laut „electricitymap“ sind in der Ukraine derzeit rund 56% der installierten KKW-Leistung am Netz. Export nach Ungarn und Rumänien, Import von Slowakei und Moldawien.  Also offensichtlich kein Inselbetrieb.

Richard Rosenhain / 26.02.2022

„ Da dann aber die Versorgung des Landes mit Elektroenergie gefährdet wird, sollte es ein Akt der Solidarität und des Eigeninteresses der friedlichen Anrainerstaaten sein, die Ukraine über die Stromleitungen von außen, so weit es geht, zu versorgen.“ Soweit ich weiß, war von ukrainischer Seite schon seit ein paar Wochen (also lange vor Ausbruch der Kampfhandlungen) beabsichtigt, das Land vom 24.-27. Februar aus dem internationalen Elektroenergieversorgungsnetz zu nehmen und „im Inselbetrieb“ zu betreiben. Ich weiß allerdings nicht, ob das jetzt auch gemacht wurde.  Weiß jemand, ob das passiert ist?

Bernhard Obermoser / 26.02.2022

„Dann hätten wir ein zweites Tschernobyl.“ An dieser Stelle muss ich Ihnen ausnahmsweise widersprechen: Im Gegensatz zum damals laufenden Reaktor gibt es heute in Tschernobyl fast keine radioaktiven Stoffe mehr, die sich gasförmig ausbreiten können: Kein Xe-137 (das zu Cs-137 zerfällt), kein Kr-90 (das zu Sr-90 zerfällt) und kein I-131 (das zu Schilddrüsenkrebs führen kann). Im Vergleich zur damaligen Explosion wäre eine heutige Ausbreitung fester radioaktiver Partikel infolge Großbrand von Deutschland aus gesehen daher bei weitem nicht so besorgniserregend.

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