Wolodymyr Selenskyjs Besuch in den Vereinigten Staaten zeigt die wachsenden Spannungen im Westen: Während der ukrainische Präsident um US-Militärhilfe wirbt, verschärft Russland seine nukleare Doktrin.
Die Reise von Wolodymyr Selenskyj nach Washington in der vergangenen Woche war alles andere als einfach. Im Weißen Haus traf er Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris, anschließend sprach er im Kongress mit führenden Vertretern der Republikanischen und Demokratischen Parteien. Im Mittelpunkt stand erneut die für Kiew existenzielle Frage der amerikanischen Militärhilfe.
Zudem suchte Selenskyj Unterstützung für seinen „Siegesplan“, der den militärischen und diplomatischen Erfolg der Ukraine im Krieg gegen Russland sichern soll. Doch während seines Besuchs sah sich der streitbare Gast scharfer Kritik der Republikaner ausgesetzt, die sowohl seine Person als auch die US-Hilfe für die Ukraine infrage stellten.
Harris, die als Vizepräsidentin und Kandidatin der Demokratischen Partei antritt, trat gemeinsam mit Selenskyj auf. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten auszudrücken. Ihre Rede kam nur einen Tag, nachdem Donald Trump mit einem harten Statement für Aufsehen gesorgt hatte. Dieser warf ihm vor, keine Verhandlungen mit Russland geführt zu haben, die den Krieg hätten beenden können.
Harris ging auf die Vorwürfe ein, ohne Trump direkt zu nennen. Sie sagte, dass diejenigen, die von der Ukraine fordern, Territorium an Russland abzutreten, „Vorschläge zur Kapitulation“ unterstützen würden. Diese scharfen Worte zeigen die tiefen politischen Gräben in den USA in Bezug auf die Unterstützung für die Ukraine.
Selbst innerhalb der US-Regierung gemischte Reaktionen
Parallel zu diesen Gesprächen kündigte Biden ein neues Militärhilfepaket für die Ukraine an. Die Zuwendung hat einen Wert von 8 Milliarden Dollar und ist Teil jenes größeren Pakets von 61 Milliarden Dollar, das der US-Kongress zu Beginn des Jahres genehmigt hatte. Die neuen Mittel umfassen die Lieferung von JSOW-Gleitbomben, eine zusätzliche Patriot-Luftabwehrbatterie und weitere Raketen. Zudem wird das Ausbildungsprogramm für ukrainische Piloten an F-16-Kampfflugzeugen erheblich ausgeweitet.
Biden erklärte, dass diese Maßnahmen notwendig seien, um die Position der Ukraine in künftigen Verhandlungen zu stärken. „Für den Erfolg der Ukraine sind zwei wesentliche Elemente entscheidend: die fortgesetzte militärische Unterstützung des Westens und die internationale Zusammenarbeit zur Sicherung langfristiger Sicherheit“, sagte Biden. Dazu gehöre auch die Annäherung der Ukraine an die EU und die NATO.
Diese jüngste Reise Selenskyjs in die USA war seine vierte seit Beginn des Krieges. Über seinen „Siegesplan“ war wenig bekannt, es handelt sich um ein bisher nicht vollständig veröffentlichtes Dokument. Das Konzept besteht aus vier zentralen Punkten: militärische Hilfe, wirtschaftliche Unterstützung, diplomatischer Druck und politischer Zwang gegenüber Russland.
Laut Berichten des „Wall Street Journal“ traf das Dokument selbst innerhalb der US-Regierung auf gemischte Reaktionen. Einige hochrangige Vertreter der Biden-Administration zeigten sich enttäuscht und besorgt über den fehlenden strategischen Tiefgang. Sie kritisierten, dass es hauptsächlich aus Forderungen nach zusätzlichen Waffenlieferungen und der Aufhebung von Beschränkungen für den Einsatz amerikanischer Raketen gegen russische Ziele bestehe. Ein Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, kommentierte: „Ich bin nicht beeindruckt, da ist nicht viel Neues.“
Ein weiteres politisches Ereignis trug zu den Spannungen bei: Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, forderte die sofortige Abberufung der ukrainischen Botschafterin in den USA, Oksana Markarowa. Johnson kritisierte den Besuch Selenskyjs in einer Munitionsfabrik in Scranton, Pennsylvania. Er warf Markarowa vor, diesen Ausflug organisiert zu haben, um die amerikanische Innenpolitik zu beeinflussen. Scranton, die Heimatstadt von Präsident Biden, liegt in Pennsylvania – einem der Schlüsselschauplätze der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Im Jahr 2020 sicherte sich Joe Biden den Sieg im „Keystone State“ mit einem knappen Vorsprung von 1,16 Prozentpunkten.
Selenskyj betonte, dass sein Besuch in Scranton dem Dank an die Arbeiter galt, die wichtige Munition für die ukrainische Armee produzieren. Viele Republikaner sahen den Termin jedoch als Teil einer Wahlkampfstrategie der Demokraten.
Fundamentale Überarbeitung der russischen Nukleardoktrin
Parallel zu Selenskyjs Besuch in den USA gab es in Moskau bedeutende Entwicklungen. Am Abend des 25. September 2024 kündigte Präsident Wladimir Putin eine fundamentale Überarbeitung der russischen Nukleardoktrin an. Diese Ankündigung kam inmitten zunehmender Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Die Unterstützung der NATO-Staaten für die Ukraine hat die Lage zusätzlich verschärft. Die neuen Änderungen betreffen den strategischen Rahmen, unter dem Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Sie erweitern die Einsatzmöglichkeiten deutlich.
Die russische Nukleardoktrin, die offiziell „Grundlagen der staatlichen Politik im Bereich der nuklearen Abschreckung“ heißt, wurde ursprünglich 2020 veröffentlicht. Ihr Ziel war es, die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen transparenter zu machen. Durch klare Richtlinien sollte die nukleare Abschreckung stabiler werden und Missverständnisse sollten vermieden werden. Doch der Krieg in der Ukraine und die zunehmende Unterstützung des Westens für Kiew haben Russland dazu veranlasst, diese Richtlinien grundlegend zu überarbeiten.
Putin erklärte, dass die Doktrin auf die „dynamischen Veränderungen der militärisch-politischen Situation“ reagieren müsse. Neue militärische Bedrohungen für Russland und seine Verbündeten hätten dies notwendig gemacht. Die zentralen Änderungen umfassen zwei wesentliche Neuerungen:
Erstens soll ein Angriff auf Russland durch ein nicht-nukleares Land, das von einem nuklearen Staat unterstützt wird, als koordinierter Angriff gewertet werden. Dies könnte eine nukleare Reaktion rechtfertigen. Zweitens wird der Einsatz von Atomwaffen nicht mehr nur bei ballistischen Raketenangriffen erwogen. Er kann nun auch bei „massiven Luft- und Raumfahrtangriffen“ erfolgen, einschließlich Flugzeugen, Marschflugkörpern, Drohnen, Hyperschallwaffen und anderen Angriffsmitteln.
„In der aktualisierten Fassung des Dokuments wird eine Aggression gegen Russland durch einen nicht-nuklearen Staat, jedoch mit Beteiligung oder Unterstützung eines nuklearen Staates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation gewertet“, erklärte Putin.
Experten sehen in diesen Anpassungen eine direkte Reaktion auf die wachsende Debatte im Westen. Es geht um die Frage, ob der Ukraine der Einsatz weitreichender Raketen gegen russisches Territorium erlaubt werden sollte (Achgut berichtete). Diese Diskussionen nahmen Fahrt auf, nachdem Kiew mehrfach um die Erlaubnis gebeten hatte, Systeme wie die amerikanischen ATACMS und die britisch-französischen Storm Shadow/SCALP gegen Ziele in Russland einzusetzen. Diese Raketen haben eine Reichweite von 250 bis 300 Kilometern. Sie könnten tief in russisches Territorium eindringen, was Russland als gravierende Bedrohung wahrnimmt.
Neudefinition dessen, was als Bedrohung gilt
Die neuen Regelungen setzen die jüngste Eskalation in der nuklearen Strategie Russlands fort. Bereits im Februar 2023 hatte Moskau sein Engagement im New-START-Vertrag ausgesetzt, dem letzten großen Rüstungskontrollabkommen mit den USA. Dieses Abkommen regulierte die nuklearen Arsenale beider Länder.
Die Entscheidung, sich von diesem Vertrag zurückzuziehen, wurde von Experten als Zeichen gewertet, dass Russland mehr strategische Freiheit im Umgang mit seinem Nukleararsenal anstrebt. In der jüngsten Überarbeitung der Doktrin sieht Russland seine nukleare Abschreckung nicht nur als Schutzschild für das eigene Territorium, sondern auch als Antwort auf konventionelle Angriffe, die als existenzielle Bedrohung bewertet werden.
Diese neuen Bestimmungen beinhalten auch eine entscheidende Neudefinition dessen, was als Bedrohung gilt. Putin erklärte, dass Russland bereits auf „glaubwürdige Informationen“ über einen massiven Angriff reagieren könnte. Dies bedeutet eine erhebliche Absenkung der Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen. Laut der neuen Doktrin könnten bereits Starts von Drohnen, Hyperschallwaffen oder Flugzeugen als ausreichender Grund für einen nuklearen Gegenschlag gewertet werden. Damit verschiebt sich die rote Linie deutlich. Die Gefahr von Missverständnissen, die zu einer nuklearen Eskalation führen könnten, steigt.
Während Russland die Änderungen als notwendige Anpassung an die veränderten Bedrohungen darstellt, sehen westliche Beobachter darin eine besorgniserregende Abkehr von bisherigen Prinzipien der nuklearen Stabilität. Dennoch gilt, dass die neuen Bestimmungen die Einsatzmöglichkeiten von Atomwaffen zwar konkretisieren, die Gründe für deren Einsatz jedoch bestehen bleiben. Die Formulierungen sind nun aber flexibler und ermöglichen eine breitere Interpretation.
Putins Ankündigung folgt auf eine Reihe von nuklearen Demonstrationen und Drohungen, die seit Beginn des Krieges die internationale Gemeinschaft alarmierten. Bereits im Februar 2022 hatte der russische Präsident die Nuklearstreitkräfte in „besondere Alarmbereitschaft“ versetzt. Dies löste international Besorgnis aus. Im März 2023 kündigte Russland an, taktische Nuklearwaffen in Belarus zu stationieren. Dies geschah als Reaktion auf die Lieferung von Uran-Munition an die Ukraine.
Technische Rückschläge
Diese Schritte untermauern Moskaus Bereitschaft, seine nuklearen Kapazitäten als Machtinstrument einzusetzen. Zusätzlich zu den Anpassungen der Nukleardoktrin gab es allerdings auch technische Rückschläge. Ein mutmaßlicher Fehlschlag beim Test der neuen interkontinentalen Rakete „Sarmat“ auf dem Weltraumbahnhof Plessezk führte zu erheblichen Schäden an der Startanlage.
Die „Sarmat“ ist eine strategische Waffe, die mit bis zu zehn nuklearen Sprengköpfen bestückt werden kann. Putin erklärte, dass diese Rakete die Fähigkeiten Russlands, auf Bedrohungen zu reagieren, erheblich stärken soll. Die Rakete wurde jedoch nach nur einem erfolgreichen Test in den Einsatz übernommen. Experten sehen dies als außergewöhnlich riskant und unvorbereitet an.
Könnte es sein, dass hinter der Verschärfung der russischen Nukleardoktrin mehr steckt, als der Kreml offiziell preisgibt? Es ist anzunehmen, dass diese Entwicklung nicht ausschließlich auf die Diskussion über den Einsatz ballistischer Mittelstreckenraketen zurückzuführen ist. Putin hat immer ein Gespür für die Schwächen seiner Gegner gezeigt, was sich auch im schwindenden Rückhalt für Selenskyj in den USA widerspiegelt. Dessen Rede vor der UNO fand wenig Anklang, und im US-Kongress suchten nur noch seine treuesten Unterstützer den Kontakt.
Im Weißen Haus erhielt Selenskyj zwar viel Zuspruch, allerdings wirkten diese Worte bei genauerem Hinhören inhaltslos. Präsident Joe Biden verkündete zwar pathetisch: „Russland wird nicht siegen. Die Ukraine wird siegen, und wir werden weiterhin an eurer Seite stehen, bei jedem Schritt des Weges!“, doch die Realität spricht eine andere Sprache. Die Ukraine befindet sich derzeit auf einem schwierigen Kurs, und die US-Regierung sieht keine Notwendigkeit, ihre zögerliche Unterstützung zu überdenken.
Seit Kriegsbeginn gibt es unterschiedliche Interessen im westlichen Lager, doch in den letzten Tagen sind die Risse zwischen der Ukraine und der NATO, innerhalb der NATO und unter den westlichen Führungsmächten deutlicher geworden. Eine Vielzahl von Faktoren spielt dabei eine Rolle. Der amerikanische Wahlkampf lenkt die Aufmerksamkeit der US-Regierung von der Ukraine ab und zwingt die Demokraten, ihren politischen Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten.
Hohe Verluste auf beiden Seiten
Die Verschärfung der Nukleardoktrin könnte ebenso als Antwort auf die schweren Verluste und Rückschläge der russischen Streitkräfte gewertet werden. Im Donbass, wo Moskaus Truppen kontinuierlich vorrücken, fallen täglich rund 1.400 russische Soldaten. Schätzungen zufolge belaufen sich Russlands Gesamtverluste mittlerweile auf 350.000 Mann, wobei offiziell etwa 70.000 Todesfälle bestätigt sind.
Zahlreiche dieser Verluste betreffen unerfahrene Kämpfer, die nur wenige Tage Ausbildung erhalten hatten, bevor sie an die Front geschickt wurden. Die russische Armee setzt zunehmend auf Freiwillige und eingezogene Soldaten, die schlecht vorbereitet sind und hohe Verluste erleiden. Diese Probleme, kombiniert mit dem Verlust wichtiger Offiziere, haben die russischen Streitkräfte stark belastet. Die Anpassung der Nukleardoktrin könnte den Versuch darstellen, Stärke zu zeigen und die Schwäche an der Front durch nukleare Abschreckung zu kompensieren.
Zugleich steht aber auch die Ukraine vor erheblichen Herausforderungen durch hohe Verluste unter ihren Rekruten an der Front. Ein Bericht der „Financial Times“ offenbart, dass viele Soldaten kurz nach ihrer Ankunft im Einsatzgebiet entweder verwundet oder getötet werden, während andere die Flucht ergreifen. Besonders betroffen ist die Infanterie, deren Truppen unter Erschöpfung und sinkender Moral leiden. Dies führt laut Frontkommandeuren zunehmend dazu, dass Positionen aufgegeben werden und Russland dadurch Geländegewinne erzielen kann.
Laut Schätzungen lokaler Kommandeure fallen bis zu 50 bis 70 Prozent der Infanteristen aus, noch bevor sie ihren ersten Einsatz antreten. Ein zentrales Problem liege in der Auswahl der Rekruten – viele seien nach Einschätzung ukrainischer Offiziere nicht für den Kampfeinsatz geeignet. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sehr die Ukraine auch personell unter Druck steht.
Während die ukrainische Armee mit der Herausforderung kämpft, die personellen Verluste zu kompensieren, liegt es an Präsident Selenskyj, weiterhin internationale Unterstützung zu mobilisieren. Sein jüngster Besuch in Washington sowie die Verschärfung der russischen Nukleardoktrin unterstreichen die zunehmende Fragilität der globalen Lage. Kiew bleibt auf die militärische Hilfe des Westens angewiesen, während Russland nukleare Drohungen gezielt als strategisches Druckmittel einsetzt.
Wie groß das Risiko einer nuklearen Eskalation tatsächlich ist, vermag niemand zu sagen. Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass die Bedrohungen, die Putin Ende 2021 als Begründung für den bevorstehenden Einmarsch in die Ukraine heranzog, zu diesem Zeitpunkt weitgehend hypothetisch und kaum realistisch waren. Erst im Laufe des Krieges wurden viele von ihnen zur Realität, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin ein Problem geschaffen, das zuvor nicht existierte. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich dieser Mechanismus auch bei nuklearen Bedrohungen wiederholen könnte. Die Gefahr einer möglichen Eskalation verdeutlicht erneut, wie dringend internationale Diplomatie und klare Strategien erforderlich sind.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.