Die Gemengelage in der Ukraine wird immer unübersichtlicher. Das Land gerät militärisch unter Druck, Putin schickt nordkoreanische Soldaten, Selenskyj sinniert über Atomwaffen, und Donald Trumps Wiederwahl wäre ohnehin ein "Gamechanger".
Am 16. Oktober 2024 war es schließlich so weit: Nach monatelanger Geheimhaltung enthüllte Wolodymyr Selenskyj seinen umfassenden „Siegesplan“. In einer eindringlichen Rede vor der Werchowna Rada stellte er fünf zentrale Punkte vor, begleitet von drei geheimen Anhängen. Das Ziel dieses Plans ist es, mit Unterstützung der westlichen Verbündeten die Ukraine zum Sieg über Russland zu führen – und das bereits im kommenden Jahr.
Der erste Punkt fordert den sofortigen NATO-Beitritt der Ukraine. Selenskyj betonte, dass dies entscheidend sei, um die Ukraine zu schützen und Russlands geopolitischen Einfluss zu schwächen. Trotz der Skepsis westlicher Verbündeter appellierte er an die NATO, während des Krieges eine schnelle Einladung auszusprechen. In westlichen Medien wird diese Forderung jedoch als wenig realistisch eingeschätzt, da die NATO bisher keine Bereitschaft gezeigt hat, ein Land im Kriegszustand aufzunehmen.
Frankreich versucht indes, die NATO-Verbündeten von einer schnellen Einladung der Ukraine zu überzeugen. „Dies wäre der erste Schritt, ein wichtiges politisches Signal, das wir bereits jetzt senden könnten“, sagte der französische Ministerdelegierte für Europa, Bénjamin Haddad, in einem Interview mit Le Parisien. Haddad betonte, dass die Bemühungen fortgesetzt würden, auch wenn der Beitrittsprozess selbst lang und schwierig sein könnte.
Dem setzte Julianne Smith, die US-Botschafterin bei der NATO, entgegen, dass eine Aufnahme der Ukraine kurzfristig nicht realistisch sei. „Wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir der Ukraine eine Einladung aussprechen können“, sagte sie am selben Tag. Selenskyj reagierte darauf mit der Drohung, die Produktion von Atomwaffen wieder aufzunehmen, falls die Ukraine nicht in das Bündnis aufgenommen werde.
Kiew hatte bereits im September 2022 einen Antrag auf einen beschleunigten NATO-Beitritt gestellt. Der damalige Generalsekretär Jens Stoltenberg machte jedoch klar, dass ein Beitritt solange ausgeschlossen sei, wie der Krieg mit Russland andauere. Sein Nachfolger Mark Rutte erklärte Anfang Oktober, dass die Ukraine Teil der NATO werden müsse, um eine stabile Sicherheit in Europa zu gewährleisten. „Unsere Prioritäten bleiben unverändert: Die Ukraine muss als unabhängiger, demokratischer Staat bestehen bleiben“, betonte er.
Ziele innerhalb Russlands
Der zweite Punkt des Plans konzentriert sich auf die militärische Verteidigung. Hierbei geht es insbesondere um die Fortsetzung von Angriffen auf militärische Ziele innerhalb Russlands. Selenskyj fordert, dass die Ukraine westliche Unterstützung erhält, um militärische Operationen über die Grenzen hinaus durchführen zu können. Dies schließe die Zerstörung russischer Luftwaffenstützpunkte, den Einsatz von Drohnen und Raketen sowie den Zugang zu geheimdienstlichen Informationen der NATO und anderer Verbündeter ein. Ein geheimer Anhang enthält darüber hinaus spezifische Details zu militärischen Operationen, die für die Öffentlichkeit bislang nicht zugänglich sind.
Der dritte Punkt sieht die Stationierung eines „nicht-nuklearen strategischen Abschreckungspakets“ auf ukrainischem Boden vor. Dieses Paket soll sicherstellen, dass Russland auch nach einem Ende des Krieges keine erneute Bedrohung für die Ukraine darstellt. Selenskyj erklärte, dass dieses Paket eine langfristige Sicherheitsgarantie bieten und dazu beitragen könne, künftige militärische Auseinandersetzungen zu verhindern.
Der vierte Punkt fokussiert sich auf die wirtschaftliche Dimension: Selenskyj fordert Investitionen in die Rohstoffe der Ukraine und eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, um Moskaus Kriegsführung zu schwächen und die ukrainische Wirtschaft zu stärken. Es sei notwendig, dass die Ukraine nach dem Krieg wirtschaftlich in der Lage sei, sich wieder aufzubauen und ihre Rolle als Rohstofflieferant für Europa zu festigen. Selenskyj sieht in der wirtschaftlichen Stärkung seines Landes einen entscheidenden Beitrag zur Stabilität Europas.
„Die Ukraine verfügt über bedeutende natürliche Ressourcen, insbesondere kritische Metalle im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. Dazu zählen Uran, Titan, Lithium, Graphit und andere strategisch wertvolle Rohstoffe, die entweder Russland und seine Verbündeten oder die Ukraine und die demokratische Welt im globalen Wettbewerb stärken könnten“, erklärte Selenskyj im Parlament.
Die Rohstoffvorkommen des Landes
Diese Aussage birgt Sprengstoff, da sie eine Vermutung der Kritiker bestätigt: Washington könnte darauf abzielen, sich die Rohstoffvorkommen des Landes anzueignen. Im Kreml ist man darüber empört. Außenminister Lawrow beschuldigte Selenskyj, sein Land an den Westen zu verkaufen und warnte Kiew davor, sein Arsenal an westlichen Waffen weiter auszubauen.
Der fünfte Punkt befasst sich mit der Zeit nach dem Krieg. Selenskyj schlug vor, dass ukrainische Truppen nach dem Ende des Konflikts eine Rolle in der Verteidigungsarchitektur Europas übernehmen könnten. Er stellte die Möglichkeit in Aussicht, dass ukrainische Streitkräfte teilweise amerikanische Truppen in Europa ersetzen könnten, was es den USA erlauben würde, sich auf andere geopolitische Herausforderungen zu konzentrieren.
Ein zentrales Element des „Siegesplans“ sind allerdings die drei geheimen Anhänge, die Selenskyj westlichen Regierungschefs vorgelegt hat. Ihre genauen Inhalte wurden nicht öffentlich gemacht, doch es wird spekuliert, dass sie detaillierte militärische und diplomatische Schritte zur Umsetzung des Plans enthalten. Selenskyj hat in seiner Rede vor der Werchowna Rada betont, dass die dessen Ratifizierung von der Unterstützung der westlichen Verbündeten abhänge.
In Brüssel präsentierte der ukrainische Präsident den Plan beim EU-Gipfel und forderte weitere finanzielle Hilfen, um sein Land im Kampf gegen Russland zu unterstützen. Er erklärte, dass das Geld nicht nur für militärische Zwecke, sondern auch für den Wiederaufbau und die Unterstützung der Zivilbevölkerung benötigt werde. „Wir brauchen Geld“, mahnte er und betonte, dass die finanziellen Mittel unter anderem für den Bau von Drohnen und den Wiederaufbau zerstörter Infrastrukturen verwendet werden sollen.
Entscheidung über weitere Hilfen erst nach den US-Wahlen
Doch nicht alle europäischen Staaten teilen Selenskyjs Enthusiasmus. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán äußerte sich kritisch und deutete an, dass er seine Entscheidung über weitere Hilfen erst nach den US-Wahlen im November treffen werde. Orbán, ein enger Verbündeter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, könnte seine Haltung zur Ukraine-Hilfe ändern, sollte Trump die Präsidentschaft wiedererlangen.
Diese sorgte kürzlich mit der Aussage für Wirbel, Wolodymyr Selenskyj trage die Verantwortung für den Krieg. In einem Podcast mit dem YouTuber Patrick Bet-David äußerte Trump, Selenskyj hätte den Kriegsausbruch verhindern müssen. Was er damit genau meint, bleibt unklar. Es lässt sich jedoch vermuten, dass er auf die Vorgeschichte des Konflikts anspielt. Moskau rechtfertigt seinen Angriff bis heute als Reaktion auf angebliche Menschenrechtsverletzungen im Donbass, die von der ukrainischen Armee begangen worden seien.
Der Kreml reagierte erwartungsgemäß ablehnend auf Selenskyjs „Siegesplan“. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow bezeichnete den Plan als illusorisch und warf dem Westen vor, die Ukraine als Werkzeug für einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu nutzen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Leonid Sluzkij, sprach von dem Versuch, den Westen direkt in den Krieg zu verwickeln. Er behauptete zudem, Selenskyj intendiere, die Verantwortung für die Verluste der Ukraine auf die westlichen Verbündeten abzuwälzen. Der „Siegesplan“ sei nur ein „Rettungsversuch“ vor einer drohenden Niederlage.
Militärisch immer mehr unter Druck
Während Selenskyj auf internationaler Bühne um Unterstützung wirbt, gerät die Ukraine militärisch weiter unter Druck. In der Region Kupjansk haben russische Truppen in den letzten Wochen erhebliche Fortschritte gemacht. Berichten zufolge kontrollieren sie mittlerweile Teile der strategisch wichtigen Straße zwischen Kupjansk und Borowa, was die Versorgung der ukrainischen Truppen in diesem Gebiet erheblich erschwert. Die Militärverwaltung in Charkiw hat daher die Evakuierung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten angeordnet.
Diese Erfolge haben jedoch einen hohen Preis. NATO-Berichten zufolge verloren die Russen im September täglich 1.271 Soldaten durch Tod oder Verwundung – die höchste Zahl seit Beginn des Krieges. Trotz dieser hohen Verluste gelingt es Russland weiterhin, monatlich etwa 30.000 neue Rekruten zu mobilisieren und die Truppenstärke aufrechtzuerhalten. Nach Einschätzung der NATO könnte Russland für größere Offensiven jedoch bald eine neue Mobilisierungswelle benötigen.
Indes hat der südkoreanische Geheimdienst (NIS) bekannt gegeben, dass Nordkorea eine erste Gruppe von Soldaten nach Russland entsandt hat. Laut NIS wurden 1.500 nordkoreanische Soldaten an Militärstützpunkten im russischen Fernen Osten stationiert, unter anderem in Wladiwostok, Ussurijsk, Chabarowsk und Blagoweschtschensk. Dort erhielten sie russische Uniformen und gefälschte Papiere.
Seoul geht davon aus, dass insgesamt bis zu 12.000 nordkoreanische Soldaten für den Krieg vorgesehen sind. Der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanow erklärte, dass derzeit etwa 11.000 nordkoreanische Infanteristen in Russland auf den Einsatz vorbereitet werden. Die ersten 2.600 Soldaten könnten Anfang November in der Region Kursk ankommen, wo die ukrainischen Truppen bereits Geländegewinne erzielt haben.
Südkoreanische Geheimdienste berichten außerdem, dass nordkoreanische Raketenoffiziere bereits in der Ukraine aktiv sind und russische Einheiten im Einsatz unterstützen. Zur Untermauerung veröffentlichte der NIS Satellitenbilder, die die Verlegung nordkoreanischer Spezialeinheiten nach Russland zeigen sollen. Weitere Aufnahmen sollen russische Schiffe zeigen, die möglicherweise nordkoreanische Soldaten transportieren.
Ernste Bedrohung für Südkorea
Immer klarer zeichnet sich ab, dass die russische Armee unter Personalmangel leidet. Eine verstärkte Waffenproduktion soll Entlastung bringen. Moskau kann jährlich rund drei Millionen Granaten herstellen. Unterstützt wird es dabei von Iran und Nordkorea, die in den letzten Monaten zehntausende Artilleriegeschosse lieferten. Russland setzt mittlerweile auf eine Strategie, die auf großen Mengen konventioneller Munition basiert, während es westliche Sanktionen umgeht.
Laut NIS hat Nordkorea seit August 13.000 Container mit Munition, Raketen und Panzerabwehrwaffen nach Russland geschickt, darunter bis zu acht Millionen Artilleriegranaten. Diese Lieferungen wurden von westlichen Regierungen, Funden auf dem Schlachtfeld und Berichten exilierter russischer Journalisten bestätigt. Moskau und Pjöngjang bestreiten jedoch jegliche Waffenlieferungen oder den Einsatz nordkoreanischer Soldaten.
In Reaktion auf diese Entwicklungen berief der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol ein Dringlichkeitstreffen mit den Leitern des Geheimdienstes, der Armee und der nationalen Sicherheitsdienste ein. Die Regierung erklärte, dass die verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen Moskau und Pjöngjang eine ernste Bedrohung für Südkorea und die internationale Sicherheit darstellt.
Vor diesem Hintergrund wird man fragen müssen, ob Selenskyjs „Siegesplan“ tatsächlich dazu beitragen kann, die Gefahr einer weiteren Eskalation einzudämmen. Fest steht, dass seine Forderungen nicht nur militärisch motiviert sind, sondern auch das politische Ziel verfolgen, die zunehmend fragil legitimierte Regierung im Amt zu halten. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die schwindende Kampfmoral in der Ukraine. Nach zweieinhalb Jahren Krieg ist die Bereitschaft in der Bevölkerung, für die Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete im Osten zu kämpfen, stark gesunken.
Eine Umfrage des Razumkow-Zentrums von Juli zeigt, dass 44 Prozent der Ukrainer bereit sind, Friedensgespräche mit Russland zu beginnen. Auf die Frage, ob der von Präsident Selenskyj im Oktober 2022 erlassene Verhandlungsstopp mit Russland aufgehoben werden sollte, antworteten 32 Prozent mit Ja. Im Zentrum des Landes befürworten mittlerweile 49 Prozent die Aufnahme offizieller Verhandlungen, im Westen sind es nur 35 Prozent.
Den Krieg binnen 24 Stunden beenden?
Dass Kiew angesichts der sich häufenden Rückschläge mehr Waffen und sogar Nuklearsprengköpfe fordert, ist nicht verwunderlich. Allerdings ignoriert es damit die berechtigten Sorgen über eine mögliche Eskalation des Konflikts. Insbesondere die Tatsache, dass Moskau einer nuklearen Aufrüstung der Ukraine kaum tatenlos zusehen würde, wird dabei außer Acht gelassen.
Gleiches gilt für die finanziellen Belastungen, die die westlichen Partner Kiews schultern müssen. Zwischen dem 24. Januar 2022 und dem 30. Juni 2024 stellten die EU-Institutionen, darunter die Europäische Kommission und der EU-Rat, über 39 Milliarden Euro an finanzieller, humanitärer und militärischer Unterstützung für die Ukraine bereit. Der größte Beitrag kam jedoch aus den USA, die in diesem Zeitraum 75,1 Milliarden Euro an Hilfszahlungen leisteten.
Bis Juni 2024 entsprachen die bilateralen Hilfen der USA rund 0,35 Prozent des US-BIP von 2021. In diesem Zeitraum hat Washington rund 51,6 Milliarden Euro an militärischer Hilfe bereitgestellt, darunter über 5.700 Flugabwehrraketen und mehr als 1.600 Luftabwehrsysteme. Zudem waren die USA auch der zweitgrößte Geber von finanzieller und humanitärer Hilfe.
Somit geht Wolodymyr Selenskyj mit seinem „Siegesplan“ ein hohes Risiko ein. Sollte Donald Trump am 5. November zum US-Präsidenten gewählt werden, könnte die amerikanische Unterstützung für die Ukraine drastisch gekürzt werden. Donald Trump hat mehrfach versprochen, den Krieg binnen 24 Stunden zu beenden. Im Juli ließ er zudem mit einer provokanten Bemerkung über Wolodymyr Selenskyj aufhorchen: „Er ist der beste Verkäufer aller Zeiten. Jedes Mal, wenn er in unser Land kommt, bekommt er 60 Milliarden Dollar.“
Ob Selenskyjs „Siegesplan“ also die erhoffte Wende bringt, hängt entscheidend von der internationalen Unterstützung und den politischen Weichenstellungen in den kommenden Monaten ab. Die Zukunft der Ukraine bleibt damit weiterhin ungewiss.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.