Was als möglicher Wendepunkt begann, hat sich als Illusion erwiesen: Die amerikanische Ukrainepolitik unter Donald Trump hat weder zur Deeskalation beigetragen noch konkrete Ergebnisse gebracht. Im Gegenteil – die Dynamik des Kriegs hat sich weiter verschärft.
Es dürfte einer der schwersten Momente in der Laufbahn Alexander Bortnikows gewesen sein. Am 1. Juni informierte der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Präsident Wladimir Putin darüber, dass die Ukraine koordinierte Drohnenangriffe auf mehrere Ziele innerhalb Russlands durchführe. Anders als bei früheren Operationen, die meist von der russischen Luftabwehr abgefangen werden konnten, seien diesmal auch Flugplätze der strategischen Bomberflotte getroffen worden – Tausende Kilometer von der Front entfernt.
Wie Putin auf diese Nachricht reagierte, ist nicht bekannt. Ebenso wenig, welche Konsequenzen dies für einen Geheimdienstchef hat, dem es nicht gelungen ist, den ungehinderten Transport feindlicher Kampfdrohnen tief ins Landesinnere zu verhindern. Klar ist nur: Moskau kündigt massive Vergeltung an.
Kremlsprecher Dmitri Peskow teilte mit, der Präsident sei „in Echtzeit“ über die Angriffe informiert worden. Zudem habe das russische Ermittlungskomitee Untersuchungen eingeleitet, ergänzte Peskow, und verwies auf die Erklärung des Verteidigungsministeriums. Weitere Details nannte er nicht. In einem Telefonat mit Donald Trump kündigte Wladimir Putin lediglich eine „notwendige Antwort“ an.
Damit bleibt die zentrale Frage offen, in welchem Ausmaß Russland militärisch auf den Angriff reagieren wird. Ist das Land zu einem koordinierten Gegenschlag in der Lage – oder zwingen Verluste und Ressourcenmangel die Führung zu vereinzelten Nadelstichen?
In den ersten Tagen nach dem Angriff beschränkte sich Moskau darauf, von einem „terroristischen Akt“ zu sprechen. Die Ukraine hingegen feierte die Operation als Akt strategischer Selbstverteidigung. Ein großangelegter Gegenschlag blieb bislang aus. Doch Russland befindet sich in einer Phase kontrollierter Eskalation – militärisch, psychologisch und innenpolitisch eng verzahnt.
Jüngste Entwicklungen zeigen, dass Moskau nicht nur die Intensität seiner Angriffe auf das gesamte ukrainische Staatsgebiet erhöht, sondern auch gezielt neue Frontrealitäten schafft – insbesondere durch Vorstöße in der Region Sumy. Die ukrainische Reaktion reicht von technologischer Gegenwehr über territoriale Gegenoffensiven bis hin zu wachsender gesellschaftlicher Erschöpfung.
In der Nacht zum 6. Juni 2025 folgte der bislang massivste Luftangriff des Krieges. Nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte setzte Russland 407 Drohnen, 38 Marschflugkörper und sechs ballistische Raketen ein. Ziele waren nicht nur Kiew, sondern nahezu sämtliche westlichen und zentralen Regionen – darunter Lwiw, Ternopil, Poltawa, Sumy und Tscherkassy. Zwar konnte die Luftabwehr rund 200 Drohnen und 30 Raketen abfangen, doch die Zerstörungen waren erheblich.
Die russische Führung erklärte den Angriff als Reaktion auf „terroristische Akte des Kiewer Regimes“ und behauptete, militärische Einrichtungen angegriffen zu haben. Tatsächlich aber wurden auch Wohnhäuser, Schulen, Verwaltungsgebäude und U-Bahnlinien bombardiert. In Kiew kam es zu einem großflächigen Stromausfall, Teile des Metronetzes wurden durch Trümmer beschädigt. Ziel war nicht allein die militärische Infrastruktur, sondern erkennbar auch das psychologische Durchhaltevermögen der Bevölkerung.
Parallel zur Luftoffensive verlagert sich der Schwerpunkt des russischen Bodenkriegs nach Norden. In der Region Sumy – bislang ein Randgebiet der Kämpfe – besetzen russische Truppen systematisch neue Territorien. Die russische Armee ist dabei bis zu elf Kilometer tief auf ukrainisches Gebiet vorgedrungen und kontrolliert rund 155 Quadratkilometer. Etwa 60.000 Soldaten wurden demnach in die Grenzregion verlegt.
Sumy ist mehr als ein geostrategischer Punkt. Es ist Testfall und Signal zugleich: für die operative Stoßrichtung Russlands, für die Widerstandskraft der Ukraine – und für die strategische Geduld des Westens. Der russische Vorstoß im Norden wirkt weniger wie der Auftakt einer Großoffensive, sondern eher wie der Versuch, eine neue Kriegsordnung zu etablieren – eine Pufferzone als dauerhafter Ordnungsfaktor in russischer Logik.
Ob es sich bei den Entwicklungen um eine temporäre Eskalation oder um den Beginn einer strukturellen Kriegsverlagerung handelt, hängt maßgeblich davon ab, ob Moskau bereit ist, die neue Frontlinie in Sumy mit strategischem Nachdruck zu halten – oder ob der Vorstoß lediglich eine operative Finte zur Bindung ukrainischer Kräfte darstellt.
Gleichzeitig mehren sich in Russland Stimmen, die das Vorgehen als erweiterte Grenzsicherung interpretieren. Doch der Einsatz von Luftlandetruppen, Marineinfanterie, gelenkten Bomben und FPV-Drohnen spricht für ein offensives Kalkül. Die russische Taktik folgt dabei einem wiederkehrenden Muster: Aufklärungsdrohnen erfassen ukrainische Stellungen, gefolgt von Luftschlägen, Stoßtrupps auf Quads oder Motorrädern und anschließenden Angriffswellen. Panzereinheiten bleiben bewusst außen vor – offenbar zugunsten höherer Mobilität und geringerer Verwundbarkeit.
Die Ukraine reagiert mit gezielten Nadelstichen. Besonders im Raum Tjotkino in der russischen Region Kursk führte das 225. Sturmregiment koordinierte Angriffe auf russische Stellungen durch, setzte gelenkte Bomben ein und kontrolliert derzeit bis zu 20 Quadratkilometer russisches Territorium. Ziel dieser Vorstöße ist nicht allein Vergeltung, sondern die Schwächung russischer Truppenverbände entlang der Nordfront.
Generalstabschef Oleksandr Syrskyj betonte, dass Russland im Norden „seine besten Einheiten“ gebunden habe – Verbände, die ursprünglich für den Donbass vorgesehen waren. Durch die Verteidigung des Nordsektors könne die Ukraine strategische Verschiebungen erzwingen.
Trotzdem bleibt die Lage angespannt. Russische FPV-Drohnen operieren bereits in 20 bis 25 Kilometern Entfernung zu Sumy. Sollte Moskau die benachbarten Höhen einnehmen, wäre ein systematischer Beschuss der Stadt möglich. Das Institute for the Study of War (ISW) hält eine Einnahme Sumys derzeit jedoch für unwahrscheinlich – nicht zuletzt, weil Russland seit Juli 2022 keine einzige Großstadt mit über 100.000 Einwohnern mehr erobert hat.
Dieser Befund illustriert, wie erschöpft die militärische Schlagkraft der russischen Streitkräfte mittlerweile ist – und verweist zugleich auf die wachsende Bedeutung von Drohnen. Die gelenkten Flugkörper gelten inzwischen als Allzweckwaffe gegen Infanterie und gepanzerte Fahrzeuge. Ihre Effektivität ist so hoch, dass konventionelle Vorstöße in die Tiefe des Raums zunehmend sinnlos erscheinen.
Wie verheerend die russischen Verluste im Ukrainekrieg tatsächlich sind, zeigt die Jahresbilanz 2024: Laut ukrainischem Generalstab hat Russland so viele Soldaten und Waffen verloren wie in keinem anderen bewaffneten Konflikt der sowjetischen oder russischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Zahl der Gefallenen und Verwundeten belief sich auf 430.790 – mehr als in den Jahren 2022 und 2023 zusammen.
Allein im Dezember 2024 wurden 48.670 Verluste gezählt – ein historischer Höchstwert. Auch die Materialverluste erreichten neue Dimensionen: 3.689 zerstörte oder erbeutete Kampfpanzer, 8.956 Schützenpanzer, 13.050 Artilleriesysteme, 310 Mehrfachraketenwerfer, 407 Luftabwehrsysteme, 2.396 Spezialfahrzeuge und 21.345 Militärfahrzeuge gingen verloren. In mehreren zentralen Depots sind die Bestände an Kampfpanzern vollständig erschöpft; Artillerie und Munition werden zunehmend knapp.
Viele der eingesetzten Systeme stammen aus sowjetischen Altbeständen und weisen gravierende Mängel auf. Die Verluste lassen sich weder personell noch industriell kompensieren. Während die staatlich kontrollierten Medien weiterhin von Geländegewinnen berichten, verschweigen sie die militärischen Kosten. Der Krieg hat die strukturelle Schwäche des russischen Militärapparats schonungslos offengelegt – und die Armee trat ins Jahr 2025 so ausgezehrt ein wie nie zuvor.
Seitdem setzen sich die hohen Verluste fort: Im Mai 2025 verlor die russische Armee 35.370 Soldaten – das entspricht etwa drei voll ausgestatteten Divisionen und übersteigt die Gesamtstärke mancher europäischer Streitkräfte. Seit Jahresbeginn summieren sich die Verluste auf 197.760 Mann, also nahezu zwanzig Divisionen.
Gleichzeitig gingen allein im Mai 140 Kampfpanzer, 292 Schützenpanzer, 1.391 Artilleriesysteme – im Schnitt 45 pro Tag –, 26 Raketenwerfer, 25 Luftabwehrsysteme, 34 Spezialeinheiten, zwei Flugzeuge, ein Hubschrauber und 3.575 Militärfahrzeuge verloren. Am verlustreichsten war der 6. Mai, als 71 russische Geschütze zerstört wurden.
Insgesamt summieren sich die Artillerieausfälle im Jahr 2025 bereits auf 6.995 Systeme. Die außergewöhnlich hohe Gefechtsintensität unterstreicht diesen Trend: Im Mai verzeichnete die Ukraine 5.691 Kampfhandlungen – mehr als in jedem anderen Monat des Jahres. Unabhängig verifizieren lassen sich diese Angaben nicht.
Gleichzeitig hat sich die Ukraine zu einem global führenden Akteur im Drohnenkrieg entwickelt. Das Land kann mittlerweile bis zu zehn Millionen unbemannte Systeme pro Jahr produzieren – in der Luft, zu Land und auf See. Laut Vizeverteidigungsminister Oleksandr Kozenko sind ukrainische Drohnen nicht nur kampferprobt und kosteneffizienter als westliche Modelle, sondern bestreiten inzwischen rund 80 Prozent aller Gefechtsaktivitäten.
Kiew wirbt zugleich um internationale Rüstungsunternehmen: Durch gemeinsame Produktion, Technologietransfer und Finanzierung soll die Drohnenkompetenz strategisch verankert und langfristig gesichert werden – ein Ansatz, den auch Berlin unterstützt.
Die militärische Ausweitung des Krieges zeigt inzwischen auch innenpolitische Wirkung. Anfang Juni kam es im zentralen Rekrutierungszentrum in Kiew zu Unruhen unter mobilisierten Männern. Auf Videos waren Streitgespräche, Barrikadenbildungen und Aufrufe zur bewaffneten Gegenwehr zu sehen. Sicherheitskräfte mussten einschreiten. Das Zentrum sprach von einer „verzerrten Darstellung“ in sozialen Netzwerken, räumte aber ein, dass Enge und Frustration zur Eskalation beigetragen hätten.
Ein Sprecher der Landstreitkräfte bestätigte, dass das Konfliktpotenzial unter „gering motivierten“ Mobilisierten besonders hoch sei. Medien berichteten über lange Wartezeiten, unzureichende Kommunikation mit Angehörigen und zunehmenden Frust in den Sammelstellen. Der ukrainische Generalstab betonte, dass 89 Prozent der Vorfälle auf russische Desinformation zurückgingen. In 11 Prozent der Fälle seien jedoch disziplinarische Maßnahmen gegen ukrainisches Personal eingeleitet worden.
Diese Vorfälle verdeutlichen ein wachsendes Spannungsfeld: Der Verteidigungskrieg wird gesellschaftlich zwar weitgehend getragen, doch Mobilisierungsdruck und operative Überlastung führen zu sozialen Erosionserscheinungen – besonders in urbanen Zentren wie Kiew. Verschärft wird diese Debatte durch ein Video, dass die Erschießung ukrainischer Deserteure zeigen soll.
Auch auf der geopolitischen Bühne verdichten sich die Signale einer voranschreitenden Eskalation. Während Wladimir Putin nach den jüngsten ukrainischen Drohnenangriffen erklärte, es gebe weder Verhandlungen noch rote Linien, irritierte US-Präsident Donald Trump erneut mit kontroversen Aussagen.
In einem Gespräch mit Friedrich Merz sagte US-Präsident Donald Trump, es sei „manchmal besser, sie eine Weile kämpfen zu lassen, bevor man eingreift“ – eine Anspielung auf den Krieg in der Ukraine, den er gegenüber Wladimir Putin mit „zwei Kindern im Park, die sich prügeln“ verglich. Der Kreml reagierte empört: Sprecher Dmitri Peskow betonte, der Krieg gegen die Ukraine sei für Russland eine existenzielle Frage – es gehe um „die Zukunft unserer Kinder“. Trump wiederum erklärte mit Blick auf die jüngsten Drohnenangriffe, Kiew habe Moskau einen Vorwand geliefert, „die Ukraine in Grund und Boden zu bomben“.
Wenige Stunden nach dem Telefonat folgte eine neue Angriffswelle: Russland feuerte Raketen und Drohnen auf ukrainische Städte. In Cherson hinterließ ein Gleitbombenangriff ein klaffendes Loch in einem Verwaltungsgebäude. Präsident Selenskyj warnte:
„Wenn die Welt schwach auf Putins Drohungen reagiert, interpretiert er das als Bereitschaft, wegzuschauen.“ Die NATO beobachtet die russische Truppenverstärkung in der Region Sumy aufmerksam, verweist jedoch auf fehlende Hinweise für einen unmittelbaren Sturm auf die Stadt – und deutet die Schaffung einer Pufferzone als bereits länger geplanten Schritt.
Doch ist das tatsächlich das Äußerste, wozu Russland militärisch in der Lage ist? Während kremlnahe Blogger lautstark Vergeltung fordern – teils unter Verweis auf nukleare Optionen –, halten Analysten einen solchen Schritt für äußerst unwahrscheinlich, nicht zuletzt wegen des Widerstands aus Peking. Weitaus plausibler ist eine neue Welle ballistischer Angriffe sowie eine Sommeroffensive im Norden. Gelingt es Moskau nicht, vor Einbruch des Winters spürbare Geländegewinne zu erzielen, dürfte auch das dritte Kriegsjahr weitgehend ergebnislos verpuffen.
Die russischen Operationen lassen derweil keinen Zweifel an der Fortsetzung ihres strategischen Ziels: die territoriale Schwächung der Ukraine bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung innenpolitischer Kontrolle. Die Taktik bleibt hybrid – massive Drohnenangriffe zur Zermürbung der Zivilbevölkerung, schrittweiser Geländegewinn in Schlüsselregionen wie Sumy, Desinformationskampagnen im Hinterland und symbolisch aufgeladene „Antwortschläge“.
Für Washington ist das einer ernüchternde Bilanz. Nach fünf Monaten lässt sich feststellen: Die amerikanische Ukrainepolitik ist gescheitert. Statt einer sukzessiven Deeskalation kam es zu einer Ausweitung der Kampfhandlungen – bei zugleich sinkender Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten (Achgut berichtete). Die Wahrscheinlichkeit einer diplomatischen Lösung ist heute geringer als zu Jahresbeginn.
Für die NATO und ihre Partner, die sich Ende Juni in Den Haag versammeln, ergibt sich eine doppelte Herausforderung: Wollen sie ihr militärisches Engagement fortführen, müssen sie verhindern, dass Russland durch lokale Geländegewinne strategische Hebelwirkung entfaltet – und zugleich die Resilienz der Ukraine nicht nur militärisch, sondern auch gesellschaftlich stabilisieren. Gerade mit Blick auf ein mögliches Langszenario dieses Krieges.
Ob sich diese Linie durchsetzt, hängt maßgeblich von der Haltung der Vereinigten Staaten ab. Zieht sich Washington – wie viele Analysten vermuten – schrittweise zurück? Oder kommt es zu einer Wiederbelebung der Militärhilfe?
Der Ausgang dieses Krieges entscheidet sich nicht allein auf dem Schlachtfeld, sondern im Zusammenspiel von operativer Härte, gesellschaftlicher Standfestigkeit und strategischer Weitsicht. Russlands Ziel sind keine schnellen Durchbrüche, sondern eine schleichende Erosion – durch militärischen Druck, psychologische Zermürbung und gezielte Destabilisierung des ukrainischen Hinterlands. Mit neuen Frontlinien, der wachsenden Dominanz von Drohnen und zunehmendem sozialen Druck setzt der Kreml auf eine multidimensionale Erschöpfungsstrategie.
Ob sich diese Dynamik aufhalten lässt, wird nicht in der Region Sumy entschieden – sondern in Washington, Brüssel und Berlin. Denn während die Ukraine an der Front blutet, droht dem Westen die strategische Erschöpfung. Die NATO steht vor der Wahl: langfristiges Engagement bei ungewissem Ausgang – oder der schleichende Verlust von Einfluss in einer Region, die künftig mit über die sicherheitspolitische Ordnung Europas entscheiden wird.
Angesichts der geopolitischen Verschiebungen, die dieser Krieg längst ausgelöst hat, bleibt eine zentrale Frage offen: Welche politischen und wirtschaftlichen Ziele verfolgt Europa in der Ukraine – und ist es bereit, sie durchzuhalten?
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.