Michael Wolffsohn, Gastautor / 01.10.2010 / 22:06 / 0 / Seite ausdrucken

Über unsere Freiheit

Von Michael Wolffsohn

Festrede in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Berlin, 27. 9. 2010 auf der Veranstaltung: „20 Jahre Deutsche Einheit - 20 Jahre Schließung des Stasi-Gefängnisses Berlin-Hohenschönhausen“.

“Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.” Bertolt Brecht, „Das Leben des Galilei“, verfasst 1939 im dänischen Exil. Weil unfrei, brauchte die DDR Freiheitshelden. Sie, die ehemaligen Stasi-Häftlinge von Hohenschönhausen und anderen DDR-Gefängnissen, waren die Freiheitshelden der DDR. Ironie der Geschichte: 1939 unwissend der DDR-Zukunft zugewandt, hatte Bert Brecht, späterer DDR-Nationalpreisträger, vorhergesehen, was die DDR wurde: ein unglückliches Land, sie hatte Helden nötig. Seit zwanzig Jahren ist ganz Deutschland in Freiheit vereint und Hohenschönhausen sowie andere DDR-Gefängnisse geschlossen. Nicht zuletzt Ihnen sei dafür Dank.

Mehrere hundert Gefängnisjahre sind hier und heute in diesem Raum versammelt. Sie, hoch zu verehrende Ex-DDR-Häftlinge, haben bewiesen: Freiheit ist mehr als ein Wort. Des Menschen? Den meisten Menschen fehlt der Mut zur Freiheit. „Lieber rot als tot“, hieß der selbsttröstende, selbstbetrügerische Alibireim in Ost und West. Davor war die Mehrheit,ohne Reim, lieber braun als tot, und das war keine deutsche Besonderheit, denn Franzosen fragten 1939: „Mourir pour Danzig? Für Danzig sterben?“ Die Antwort war eindeutig: Nein. Einen „Drolligen Krieg“ führte dann das „realistische“ Frankreich gegen Deutschland seit September 1939. Am 10. Mai 1940 hörte der „Spaß“ auf. „O hätten wir doch früher“, katzenjammerten die kuschenden Realisten und Pazifisten, die gemeint hatten, Freiheit gäbe es zum Nulltarif. Die Mehrheit, nicht nur im besetzten Frankreich, kuschte weiter und kollaborierte mit dem NS-Verbrechersystem der Unfreiheit. „Danach“ stilisierte man sich zu einem Volk des „Widerstands“, der „Résistance“, „Resistenza“ und so weiter und so weiter.
Sie, die ExDDR-Häftlinge, Millionen Gulag-Gefangene, und andere Freiheitshelden im kommunistischen Europa hatten wirklich aus der Geschichte der Unfreiheit gelernt. Sie zahlten einen hohen Preis: DDR, 17. Juni 1953;  Polen und Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968. Der Westen weinte und nahm´s trotzdem leicht.
1968 zum Vergleich: Im Osten, in der Tschechoslowakei, „Prager Frühling“, Widerstand und Freiheitskampf. Gulags, Hohenschönhausen und andere DDR-Gefängnisse, Stasi, Mauer, Stacheldraht, strikter Schießbefehl „auf Menschen und Hasen“. In der Volksrepublik China lässt Mao seit 1966 sein Volk millionenfach abschlachten. Rot und tot.
Im Freien Westen: „Widerstand“ de luxe. Freiheit und Wohlstand im Aufstand gegen sich selbst. Studentenrevolte gegen die demokratisch legitimierte und kontrollierte Staatsmacht. Die Kinder der städtisch-bürgerliche Elite inszenieren sich selbst als „Proletariat“ oder als Aufstand der verelendeten Drittwelt-Landmassen gegen „die Stadt“ „der Reichen“ – genau in diesen Städten der Reichen. Im freien, schwarz-rot-goldenen, Deutschland proben sie den risikofreien roten Widerstand, den ihre Eltern, des Risikos wegen, gegen die Braunen nicht gewagt hatten.
Wie ihre Eltern recken und strecken sie einen Arm aus und hoch. Jubelnd halten die Nachgeborenen dabei Mao-Bibeln in der Hand. Seine millionenfachen Morde nehmen sie so selten zur Kenntnis wie die Eltern, die nichts von NS-Masenmorden wissen wollten. Nach der Enttäuschung über den wilden Mao wurden sie behäbigger und entdeckten den vermeintlichen Charme des Recht-und-Ordnung-Kommunismus à la Sowjetunion und DDR.
Trotzdem oder gerade deshalb: Staatsterror kann das Leben der Widerständigen vernichten, nicht ihren Geist, den Geist der Freiheit. 1980: Das Wunder von Polen. Solidarnosc. Schließlich 1989/90: Das Wunder der Sanften DDR-deutschen und dann osteuropäischen Revolution. Das war nicht zuletzt Ihr Verdienst, hochzuverehrende DDR-Häftlinge.
Die osteuropäischen Freiheitskämpfer, Sie, gingen voran, die Massen folgten. Die Massen folgten aber erst, weil und nachdem sich Fundamentales verändert hatte: Gorbatschows Glasnost und Perestroika als Folge der kommunistischen Niederlage im Wettbewerb der Weltwirtschaft und diese als Ergebns der NATO-Nachrüstung. Große Teile der Weltgemeinschaft liebten Deutschland damals so sehr, dass sie gerne zwei davon behalten wollten. Die völlig unerwartete Staatskunst zweier Westpolitiker, Helmut Kohl und George W. Bush senior, haben 1989/90 das, ja, wieder,Wunder vollbracht, aus dieser Zweiheit die heutige Einheit in Freiheit zu gestalten.
Von Ausnahmen, wie Ihnen, abgesehen triumphierte 1989/90 der Westen zwar als Wirtschaftssystem, nicht jedoch als Idee. Der „Körper siegte, nicht der Geist, die Seele. Wie viele, in West und Ost, verwechselten die Freie Welt mit Freizeitwelt und „Selbstverwirklichung“ mit Selbstbestimmung? Noch 1988 blickte der Westen in den Spiegel und gähnte sich selbst gelangweilt an. Dann 1989, der Historische Urknall.
*
Unfreiheit bestraft den Willen zur Freiheit rechtmäßig, doch ohne Gerechtigkeit; ohne vökerrechtliiche, naturrechtliche oder gottesrechtliche Gerechtigkeit; ohne Menschlichkeit, ohne Ethik. Im Rahmen der Unfreiheit ist Recht nicht Gerechtigkeit, weil ohne und gegen die Freiheit. So gesehen, waren der rote und braune Staat deutscher Unfreiheit durchaus „Rechtsstaaten“, an „Recht und Gesetz gebunden“, an ihr Recht und ihre Gesetze, obwoh gleich
zeitig die Menschen- und Bürgerrechte völkerrechtlich galten. Ihr Papier war geduldig.
Manche behaupten, die DDR und sogar das Dritte Reich wären keine „Unrechtsstaaten“ gewesen. Sie übersehen: DDR und Drittes Reich waren „Rechtsstaaten“ ohne Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit in den Fragen des menschlichen Wesens und Seins, wenngleich das tägliche Dasein durchaus rechtlich, ja, sogar im Unwesentlichen gerecht regelnd: Ladendiebe und Verkehrssünder wurden „gerecht“ bestraft. Rechtmäßig NS- oder DDR-Gesetze anwendend, aber fundamental ungerecht, weil gegen Leben und Freiheit des Menschen gerichtet, entschieden die Richter des „Volksgerichshofes“ oder der DDR-Gerichte.
Tempi passati. Hohenschönhausen gibt es nur noch als Gedenkstätte, und das in Freiheit vereinte Deutschland ist seit 20 Jahren kein Wintermärchen.
Uns „geht es gold“, wenngleich nicht alles, was glänzt, Gold ist. Ist die Goldschicht unserer Freiheit dünner als uns scheint? Große, grundsätzliche Sorgen plagen mich. Sie sind einerseits hochaktuell, andererseits so alt wie die Geschichte der Freiheit. Warum persönlich werden, wenn es ums Grundsätzliche geht? Am Beispielhaften sei das Grundsätzliche gezeigt – entstehende Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und aktuellen Situationen sind nicht zufällig.
Das Grundsätzliche erkennt man, weil nicht betroffen, bestens am zeitlich oder räumlich fernsten Beispiel. Aufs Brecht´sche Theater übertragen spricht man vom „Verfremdungseffekt“.
Der befreienden ebenso wie der beklemmenden Wirkung der Freiheit begegnen wir schon im ersten Buch der Bibel, Genesis. Eva, mehr als Adam, befreit sich von der göttlichen Bevormundung bzw. Unfreiheit. Die Kinder Israels „emanzipieren“ sich von Moses (in seiner Abwesenheit) und tanzen ums Goldene Kalb. Die Folgen im natürlich fiktionalen Mythos sind bekannt.
Von der biblischen Fiktion zu den historischen Fakten: Das Alte Athen in der kurzen Epoche der Demokratie: Die vollständige Freiheit des Volkes, die Volksherrschaft, die „Demokratie“, genossen nicht alle Einwohner, sondern nur Vollbürger. Untrennbar gehörten zur, wohlgemerkt, direkten, umfassenden und sozusagen permanenten Demokratie Athens Demagogie und Denunziation in einem vorher und nachher nicht gekannten Ausmaß. In der Stunde totaler Freiheit schlug zugleich die Stunde der totalen Manipulation der Freien, die durch die Demagogie in der Demokratie freiwillig ihre Freiheit aufgaben – und sich weiter frei wähnten. Äußerlich blieben sie frei, innerlich hatten sie sich den Demagogen freiwillig versklavt.
Waren die Demagogen die Öffentliche Meinung, die Meinung der meisten, der Mehrheit, oder „machten“, prägten, manipulierten sie die Öffentliche Meinung, indem sie vorgaben, den Willen der Allgemeinheit zu vertreten, was immer der „Wille der Allgemeinheit“ gewesen sein könnte?
Begrifflich habe ich Jahrhunderte übersprungen. Vom „Willen der Allgemeinheit“, der „volontée généralle“, und dem „Willen aller“, der „volontée de tous“, sprach erst Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert, doch der Problemkern ist identisch. Er ist zeitlos und am Beispiel Athens beosnders gut erkennbar.
*
Ich nehme den öffentlichen Diskurs in unserer deutschen Freiheit so wahr: Erst das Ereignis, die Aktion ggf. Provokation der Person. Dann die medialen und politischen Reaktionen. Selten übermitteln die medialen Multiplikatoren Nachrichten pur. Meistens werden Nachricht und Meinung intensiv vermischt, sogar in vermeintlichen „Nachrichtensendungen“, was bei öffentlich-rechtlichen Anbietern noch unseriöser als sonst ist.  Die Meinung der Multiplikatoren mehr illustrierend als illuminierend, also erhellend,  werden „der einfache Mann oder die einfache Frau auf der Straße“ befragt. Zitiert werden dabei meistens die genehmen Antworten und die nicht genehmen von selten wirklich besser wissenden Besserwissern kommentiert. Multiplizierend kommen gleichzeitig und zusätzlich die jeweils zuständigen Verbände und Experten zu Wort. Für Autos ist der ADAC zuständig, für Arbeitnehmer die Gewerkschaften, für Arbeitgeber deren Dachorganisation, für die Moral (Schein oder Sein?) die Kirchen. Moral-Joker ist der Lautsprecher im Zentralrat der Juden in Deutschland.
Als Experte gilt meistens, wer die Grundeinstellung der Multiplikatoren teilt. Eine Variante sind Gesprächsrunden, „Talk Shows“, in denen meistens ein Ketzer oder Bösewicht einer Mehrzahl von „Anständigen“ gegenübergestellt wird. Keiner ist unmittelbar physisch gefährdet, jeder frei. Im Vergleich zu den tödlichen Gladiatorenkämpfen im Alten Rom ist das sehr human.
Die Positionen der Provokateure oder Politiker, Publizisten, Jedermänner, Experten und Gladiatoren werden von den jeweiligen Anhängern nachredend und nachlaufend, weniger nachdenkend oft wörtlich übernommen.Die Sympathien wechseln häufig und schnell. All das geschieht unter den äußeren Rahmenbedingungen unserer vollständigen Freiheit.
Die „Schweigespirale“ erklärt den massenpsychologischen Mechanismus. „Schweigespirale“, das ist der geniale Begriff, den Elisabeth Noelle prägte. „Schweigespirale“, das ist die moderne Variante des Mitläufertums in Freiheit. Unfreiheit kann Mitlaufen und Mitmachen mit staatlichen Machtmitteln erzwingen. In der Freiheit folgt das Mitlaufen und Mitmachen den Mechanismen der Schweigespirale. Man kann sie wie folgt umschreiben: „Ich denke, was ich denke, das die meisten denken, weil ich dann so nicht isoliert bin.“
In seiner nur scheinbar absurden und deshalb so wahrhaftigen Erzählung sowie dem gleichnamigen Theaterstück „Die Nashörner“ hat der rumänisch-französische Schriftsteller Eugène Ioneso 1957 die Mechanismen der Schweigespirale dargestellt. Zuerst wurde nur ein Mensch freiwillig Nashorn, dann immer mehr, dann war „man“ Nashorn. Nur ein Einziger passte sich nicht an. „Ich kapitulire nicht!“ ruft er am Ende. Alle Anderen konnten sich dem Isolationsdruck nicht entziehen.
Isolationsfurcht und die Angst vor dem Pranger sind die Triebkraft der Nashorn-Verwandlung, des Mitläufertums in der Freiheit, ganz ohne staatliche Unfreiheit. Ein Mitläufertum aus Isolationsangst und der alten, schon vom großen Königsberger Kant benannten Angst, selbständig, frei, zu denken, sich „seines eigenen Verstandes zu bedienen“, sich aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Nicht unser Staat, nicht nur unsere Politiker oder Medien, wir alle, haben nicht diesen Mut. Hoch leben die Ausnahmen. Es gibt sie. Vor allem hier, in diesem Auditorium, SIE, verehrte Ex-Häftlinge. Sie sind das Vorbild, nicht die Vordersten, Obersten und Höchsten. Sie, die sie selbständig dachten, gegendachten und nicht mitmachten, isoliert und in Unfreiheit geworfen die einzig Freien blieben.
  Demokratie und Populismus. Zwei Seiten derselben Medaille. Demokratie ist gut, Populismus verächtlich. So bei uns die allgemeine Wahrnehmung und Darstellung. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist jeweils das Volk, „Demos“ auf griechisch, „populus“ auf lateinisch. So gesehen, bestimmt das Volk den jeweiligen Inhalt, sowohl in der Demokratie als auch im Populismus.
Bezogen auf die Demokratie gilt bei uns allgemein und ohne religiöse Schwingungen: „Die Stimme des Volkes gleicht Gottes Stimme.“ Die Römer sagten „vox populi, vox dei.“
Das Römer-Wort „populus“ für „Volk“ ist bei uns negativ belegt und „Volkes Stimme“ im „Populismus“ – unausgesprochen-  so dargestelllt: „Vox populi, vox Rindvieh.“
Man muss sich entscheiden: Gilt Volkes Stimme? Ist in der „Volksherrschaft“, ist in der Demokratie, das Volk der kluge Souverän oder der Idiot vom Dienst? Je nach Windrichtung und -stärke, wie es gerade passt, erst hü, dann hott, ´mal ja, ´mal nein, das kann nicht sein. Das ist logisch Unsinn, moralisch verwerflich und führt ins politische Chaos.
War 1933 die Machtübergabe an Hitler „populistisch“ oder „demokratisch“? Seine Verbrecher-Partei war seit 1930 die stärkste in Deutschland und bei den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 stimmten knapp 44 Prozent für die NSDAP. Weitere 8 Prozent der Deutschnationalen sicherten der NSDAP-DNVP-Koalition 52 Prozent der Wähler.
Eines der damaligen Argumente zu Hitlers Gunsten lautete: Man könne eine, die stärkste, demokratisch gewählte Partei nicht dauerhaft isolieren.Die Folgen snd bekannt..
Ich frage trotz all der Unterschiede: Wenn 1933 die Einbindung der wählermächtigen NSDAP in die politische Verantwortung falsch war, warum ist dann die Einbindung der 1989 nur umbenannten und ab 2004 teilerweiterten SED richtig? Seien Sie sicher, als Historiker und Nachfahre von Holocaustüberlebenden,  kenne auch ich die Unterschiede zwischen NSDAP und SED, Drittem Reich und DDR.
  Volkes Rolle wird teilweise schizophren konzipiert: Einerseits werden Plebiszite, Volksbefragungen, sogar bei Konservativen immer beliebter. Andererseits warnen (die zum Teil selben) Befürworter von Volksbefragungen vor „Populismus“. Je nach Erfolgsaussichten oder Ergebnissen Jubel oder Katzenjammer. Anschauungsunterricht boten allein 2009/2010: die Schweiz (Moscheen ohne Minarette), Hamburg (Schulpolitik), Bayern (Rauchverbot), Stuttgart 21. Die Geister, die sie riefen.
Volkes Stimme, Volkes Freiheit: Volkes Stimme als vox dei („Gottes Stimme“) oder vox populi, vox Rindvieh?
Ein ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: „Na wissen Sie, wenn Sie das Volk dazu fragen, dann…“ Dann, meinte er, geschähe der größte Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das weder vorher noch nachher gehört.
Weniger brutal, aber inhaltlich identisch ist die Verwendung des Begriffes „Populismus“. Wir haben das gerade in den letzten Wochen erlebt. Die – natürlich guten – „Demokraten“ haben es dem – natürlich bösen – „Populisten“ gezeigt und nach der Verdammung seine „Verbannung“ eingeleitet.
Auch das erinnert an Antikes, Altbekanntes, Athenisches: den Ostrazismus.
Ostrazismus, das Scherbengericht, das die Volksversammlung, verstanden als Vollversammlung des Volkes, ganz demokratisch, in Freiheit, vollzog, wenn unliebsame Bürger aus dem politischen Leben des Staates entfernt und für zehn Jahre verbannt werden sollten. Eine Riesenmehrheit war dafür notwendig. Auch damit waren im antiken, basisdemokratischen, freien Athen Demagogie und Denunziation Tür und Tor geöffnet. Weil Missbrauch, Manipulation und Beliebigkeit so offensichtlich waren, gab man dieses im Jahre 487 vor Christus eingeführte Verfahren der Mehrheitstyrannei in Freiheit nach siebzig Jahren auf.
Freiheit ist also mehr als Herrschaft der Mehrheit, denn nur als Herrschaft der Mehrheit kann Freiheit zur Tyrannei der Mehrheit umschlagen. Diesen Gedanken hat vor allem Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ beschrieben. Man lese vor allem Kapitel 9 über die „Allmacht der Mehrheit und ihre Wirkungen“, wo er auch die „Tyrannei der Mehrheit“ beschreibt.
Diesem Problem widmete sich der Brite John Stuart Mill 1859 in seinem zeitlos gültigen, immer noch utopischen Essay „Über die Freiheit“. Beim Wiederlesen dieses Textes hatte ich das Gefühl, John Stuart Mill beschriebe Deutschland, Anfang September 2010.
Einige Kerngedanken und –sätze seien vorgestellt.
„Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheiit anerkennen zu lassen.
Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßnahmen dagegen sind ebenso geboten wie gegen jeden anderen Missbrauch der Gewalt.“i
„ Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich..“ii
Und weiter: „Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit. Es umfasst als erstes das innere Feld des Bewußtseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur.“iii Mill nennt noch die Freiheit in Wort und Schrift sowie die Gedankenfreiheit. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ ließ Friedrich Schiller bereits 1787 den Marquis von Posa in „Don Carlos“ fordern. Noch etwas früher, 1780, hatte das deutsche Volkslied als Naturrecht festgestellt, was deutlich später deutsches Recht wurde: „Die Gedanken sind frei.“
Zurück zu John Stuart Mills: Nur wenn jemand die Gesellschaft unmittelbar bedrohe, haben Staat und Gesellschaft das Recht, einzugreifen. Ansonsten gelte die unbedingte Freiheit des Individuums vor und von Staat und Gesellschaft.
Atemberaubend ist das Kapitel „Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion“. Ich zitiere: „Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.“iv „Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum und Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.“v
John Stuart Mill geht hier erhebliich weiter als die gern zitierte Rosa Luxemburg. Diese hatte Lenin 1918 (zurecht) belehrt: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken, sich zu äußern.“ Ihre rechtsterroristischen Mörder gewährten ihr nicht einmal das. Für „Rosa“ war Freiheit Umgangsform der Diskussion, für John Stuart Mill (und ich hoffe für uns alle) ist Freiheit Lebensform und Lebensinhalt. „Bis in den Tod“ wollte sich der 1788 gestorbene französische Aufklärer Voltaire für die Meinungsfreiheit einsetzen: „Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen.”
Soviel, in gebotener Kürze, zur Freiheit des Einen gegenüber Gesellschaft(smehrheit) und Staat. Was aber, wenn der Eine mit der Gesellschaftsmehrheit anders denkt, fühlt und Anderes will als „der“ Staat, „die“ Politik“ und „die“ medialen Multiplikatoren? Was, wenn eine dicke Mauer zwischen dem Einen mit dem Volk und der Minderheit aus Politik und Medien steht? Müssen dann der Eine plus Volk gegen diese Mauer aus Politik und Medien rennen?
Für jenen Einen wird, egal ob alle oder nur Teile Teil von Politik und Medien sich auf ihn stürzen, das Leben mordsgefährlich. Subjektiv wollen Politik und Medien diese Gefahr natürlich nicht verursachen, doch objektiv sind sie Auslöser dieser tödlichen Gefahr. „Es war einmal“ im September 2010. Einen, hatte die Einheitsfront von Staat und Medien an den Pranger gestellt. Dem Einen stimmte weit mehr als das halbe Volk zu. Galt vox populi als vox Rindvieh? Einerlei.
Als unbeabsichtige Folge bekam jener Eine Morddrohungen. Gegen die selbst herbeigerufenen Geister schützte nun derselbe Staat den vom Volk getragenen Einen durch ein riesiges Sicherheitsaufgebot, welches das Volk zahlt. Staatsphilosophisch war das erste, diesbezügliche Staatshandeln absurd, denn die vornehmliche Seinsberechtigung jedes Staates besteht darin, das Leben seiner Bürger nach innen und außen zu schützen und nicht die Geister zu rufen, die Bürger gefährden - einen, viele oder alle.
Zurück zum Problem Politik plus Medien gegen den Einen plus Volk: Verbarrikadieren sich jene hinter einer „Mauer“ und bewerfen scheinbar nur den Einen, tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie Duckmäusertum. Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk, formen? Ihre Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische und Berliner Mauer. Sie wird auch deshalb Risse bekommen, weil (wann?) einige (wer und wie viele?) der sich hinter der Mauer Verbarrikadierenden zum Volk überlaufen, um eine neue Partei (gar „Volkspartei“?) zu gründen.
Kann - ein anderes Bild -  jener Volksmeinungsstrom überhaupt noch kanalisiert werden? Auch Dämme brechen, nicht nur Mauern. Werden dann Staat, Politik und Medien nach dem Dammbruch durch Überfultung weggerissen? Historische Veränderungen können sich dann anbahnen: Unsere historisch gewachsene Freiheit basiert als Phänomen des „Überbaus“ auf der Grundannahme, dass gesellschaftliche Konflikte in den Institutionen, vor allem im Parlament, ausgetragen werden. Dabei ersetzt das Wort die Waffe, und jede Partei vertritt nur einen Teil (lateinisch: pars, partis) des Volkes, und das Parlament repräsentiert (wörtlich „vergegenwärtigt“) in seiner Gesamtheit die ganze Gesellschaft.  Was aber, wenn kein oder nur ein Volksteil durch Parteien im Parlament vertreten wird?
Möglich ist auch dann nur, was denkbar ist: Denkbar ist, siehe oben, die Gründung einer neuen Volkspartei oder, je nach Isolation von Politik und Medien, eine friedliche Revolution unter dem Motto: „Wir sind das Volk!“ Das soll es vor zwanzig Jahren in Deutschland schon einmal gegeben haben… Und auch damals hat keiner damit gerechnet.
 
Kommunismus: Von Anfang bis Ende Unfreiheit; unterschiedlich intensiv oder mörderisch. Kommunismus in Freiheit gab es nur in den Kibbutzim Israels, und die haben, weil frei, den Kommunismus längst abgeschafft.
Nationalsozialismus: Vor ihm die Freiheit. Der Freiheit seine Macht verdankend, schaffte der unverzügliich einsetzende NS-Terror eben diese Freiheit ab. Folgte das Volk den Freiheitsräubern? Eine Mehrheit von etwas mehr als 50 Prozet ja, bis zum Wendepunkt Stalingrad. In unserem Buch „Die Deutschen“ haben Thomas Brechenmacher und ich diese Entwicklung mit den Mitteln der von uns entwickelten „Historischen Demoskopie“ nachgezeichnet, empirisch quantifizierend belegt und historisch erklärt.vi
Über Unfreiheit und Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus ist eigentlich längst alles gesagt; auch über die nicht nur theoretisch mögliche „Tyrannei der Mehrheit“ in Freiheit.
Ich wollte unsere zeithistorischen und tagespoltischen Erfahrungen grundsätzlich verstehen, historisch und politisch-philosophisch: Vor allem die Situation, in sich Einer plus Volk(smehrheit) sowie Staat und Medien gegenüberstehen.
Der auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter den Rahmenbedigungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet.
„Du bist die Aufgabe, kein Schüler weit und breit.“ Franz Kafka. Ich frage bang: Welcher Schüler löst die Daueraufgabe unserer bundesdeutschen Freiheit? Sie, verehrte DDR-Häftlinge, hatten den Mut und die Kraft, in der DDR-Unfreiheit die Ewige Freiheitsaufgabe anzupacken. Sie sind die Lehrmeister, wir Ihre Schüler. Wir haben es fundamental leichter als Sie. Werden wir Schüler unseren Lehrmeistern folgen? Die Antwort ist offen. „Du bist die Aufgabe, kein Schüler weit und breit.“

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