Über geklaute Kindheiten und gestohlene Träume

Von Michal Kornblum.

Wenn Sie denken, dass es in diesem Artikel um die „Generation Greta“ gehen soll, dann liegen Sie falsch. Jede Zeitung, jedes Magazin und jeder Radiosender überschlägt sich zur Zeit mit Meldungen, Kommentaren und Kommentaren zu den Kommentaren über Gretas Auftritt beim UN-Klimagipfel. Am liebsten würde ich Greta „How dare you!“ fragen, nämlich wie sie es wagt, die Welt für ihre geklaute Kindheit und gestohlenen Träume verantwortlich zu machen. 

Ich möchte aber über eine Generation der wirklich geklauten Kindheiten und gestohlenen Träume schreiben. Es geht dabei um die Generation meiner Großeltern, die Generation der Kriegskinder, bei der die Welt tatsächlich schuld am Elend war und bei der die Gesellschaft heutzutage nicht in der Lage zu sein scheint, Verantwortung für das Wohl dieser Generation zu übernehmen. 

Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen. Meine Familie mütterlicherseits stammt ursprünglich aus Weißrussland und kam 1993 als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Ich bin zwar über 50 Jahre nach Kriegsende in Deutschland zur Welt gekommen, aber der zweite Weltkrieg war für mich durch meine Großeltern immer präsent. Sie wurden 1932 in Weißrussland geboren. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion durch die Nazis war die glückliche Kindheit meiner Großeltern zu Ende. Mit tausenden anderen Flüchtlingen haben sie versucht, zu Fuß, mit Pferden, wenn sie Glück hatten, mit dem Zug oder dem Schiff zu fliehen. Die deutsche Armee rückte sehr zügig immer weiter ins Landesinnere vor, und die Flüchtlingszüge wurden aus der Luft bombardiert. Durch die polnischen Flüchtlinge erfuhren die Familien meiner Großeltern, was mit den polnischen Juden in Polen passierte. Meine Großmutter erzählt, dass sie gedacht haben (sie war zu diesem Zeitpunkt 9 Jahre alt), dass sie entweder durch die Bomben sterben oder im KZ umgebracht werden.

Auch hat sie mir erzählt, wie sie sich bei einem Luftangriff im Wald versteckt hat. Nachdem sie aus dem Wald herausgekommen sind, lagen auf der Straße Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Sie sah in der Luft flatternde Fotografien aus glücklichen Zeiten, festlich angezogene Männer und Frauen und Familienfotos mit kleinen Kindern. Es wirkte, als würde die glückliche Vergangenheit durch den Wind verweht werden. Danach kamen Hunger, Malaria und Typhus. Meine Oma ging mit ihrer Mutter damals nachts 10 Kilometern hin und zurück, um gefrorene Kartoffeln aus der Erde zu hacken und die Reste von Weizenähren zu sammeln. Im stalinistischen Russland waren diese „Beutezüge“ strengstens verboten, und beim Erwischen drohten Konsequenzen bis zur Todesstrafe.

Alle Cousinen und Cousins meiner Oma wurden ermordet

Da Bildung für die Familie trotzdem sehr wichtig war, besuchte meine Oma während der Flucht fast jedes halbe Jahr eine andere Schule, wenn sie überhaupt eine Schule besuchen konnte. Russisch ist ihre Muttersprache, aber während dieser Zeit war sie auch auf einer tatarischen und einer ukrainischen Schule, wo sie notgedrungen unter diesen Umständen noch die neuen Sprachen lernen musste. 

Nach Kriegsende kam die Familie meiner Großmutter wieder zurück in ihr Schtetl. Sie waren die einzige Familie aus einer großen Verwandtschaft, die überlebt hatte. Alle Cousinen und Cousins meiner Oma waren ermordet worden. Die Dorfbewohner haben erzählt, wie die Cousine meiner Oma an ihren Haaren an den Schweif eines Pferdes gebunden und durch das ganze Dorf gezogen wurde. Sie ist gerade mal 16 Jahre alt geworden. 

Mein Großvater ist ein großer, stattlicher Mann. Er ist gestandener Bauingenieur, und wenn er einen Raum betritt, wird jeder merken, dass er eine Autoritätsperson ist. Seit ich denken kann, erzählt mein Großvater, wenn im Fernsehen ein Kriegsfilm läuft oder der „Tag des Sieges“ am 9. Mai naht, über den ersten von ihm erlebten Flugzeugangriff auf seinen Flüchtlingszug. Jedes Mal bricht er in Tränen aus und wiederholt, wie seine Mutter ihn unter dem eigenen Körper versteckt hat und er geschrien hat, dass er nicht sterben will und dass seine Mutter ihn retten soll. Obwohl ich das schon viele Male gehört habe, kann ich mich nicht daran gewöhnen, meinen Opa so zu sehen. 

Nach meinem Abitur habe ich ein Praktikum in einem geriatrischen Krankenhaus absolviert und dort die andere, also deutsche Seite der Kriegskinder gesehen. Ich habe nicht eine Person getroffen, die über die Kriegszeit mit Freude und Euphorie berichtet hat. Einige haben von der Flucht erzählt, andere von Bomben und von dem Brand und der Zerstörung in Lübeck. Einige können nicht mit geschlossener Tür schlafen, weil sie Angst haben, wieder verschüttet zu werden, andere haben Angst vor körperlicher Nähe. Insbesondere bei dementen Menschen habe ich einige Male erlebt, dass sie sich in ihre traumatische Kindheit im Krieg zurückversetzt fühlen. Einmal hat mich eine Frau bei der morgendlichen Körperpflege bei dem Versuch, ihr zu helfen, sich das Gesicht zu waschen, angefleht, sie nicht zu schlagen, während sie stark zusammenzuckte und versuchte, sich zu verstecken.

Die Altersarmut in Deutschland ist auf dem Vormarsch

Das ist die Generation der geklauten Kindheiten und gestohlenen Träume. Man hat ihnen nicht nur ihre glückliche Kindheit genommen und ihre Zukunft verbaut, sondern auch heute sehen sich viele dieser Menschen mit existentiellen Nöten konfrontiert. Die Altersarmut in Deutschland ist auf dem Vormarsch, erst vor kurzem las ich, dass immer mehr Rentner auf die Tafeln angewiesen sind. Viele leiden unter Mangelernährung, Einsamkeit und sind pflegerisch unterversorgt. Und wir als Gesellschaft hier in Deutschland schaffen es nicht, der Generation der Kriegskinder einen würdigen Lebensabend zu bereiten. 

Dabei habe ich noch nicht mal die 1,5 Millionen Kinder erwähnt, denen im Holocaust ihre Leben geklaut wurden oder die Millionen Kinder, die während des Krieges ermordet wurden oder an Hunger, mangelnden hygienischen Umständen oder Krankheiten gestorben sind. 

Auch heute gibt es noch über 200 Millionen Kinder und Jugendliche, die unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten müssen, zahlreiche Kindersoldaten oder Kinderprostitution.

Meinen Großeltern, ihren Cousins und Cousinen, den Kriegskindern und auch den heutigen Kindern in einigen Teilen der Welt, ihnen allen wurde die Kindheit geklaut und ihre Träume gestohlen. Und dann kommt Greta aus dem wohlhabenden und friedlichen Schweden und klagt auf dem UN-Klimagipfel an, dass sie ihrer Kindheit beraubt wurde – und sie hat Recht. Ich habe Mitleid mit Greta. Ihre Kindheit wird ihr gestohlen – aber nicht von der Weltgemeinschaft, sondern von allen Menschen, die sie wie eine Attraktion zur Schau stellen, von ihren Eltern, ihren Managern. Von den Politikern, die die Vernunft haben sollten, zu erkennen, was mit dem Mädchen passiert, sie aber trotzdem auf jede Bühne zerren und noch mehr Spiritus in das Feuer von Gretas Weltuntergangsängsten gießen. 

Michal Kornblum, 22, ist aus Münster und Studentin.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Jugend- und Schülerblog Apollo-News

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Marcus Weizenbeer / 26.09.2019

Mein Vater, Jahrgang 1923, wurde Anfang 1942 zur Wehrmacht eingezogen. Er geriet 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kehrte im November 1949, durch langjährigen Hunger und Kälte dauerhaft gesundheitlich angeschlagen, zurück. Er stammte aus einer streng katholischen Familie und aus einem Ort (im Ostwestfälischen), in dem die Zentrumspartei noch 1932 zwei drittel der Wählerstimmen erhielt. Die Naziideoogie lehnte er definitiv ab. Er ging zur Wehrmacht, weil es für ihn, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, selbstverständlich war, der Wehrpflicht nachzukommen. Unabhängig davon, wer gerade in Berlin regierte. Für mich ist auch er (auch, wenn er auf der falschen Seite kämpfte)  ein (echtes) Beispiel für eine von der Welt gestohlene Jugend.

Dr. Christian Menzel / 26.09.2019

Ich bin von Herzen bei Ihnen - es ist eine Schande zu sehen, dass wir die Armut unserer älteren Generation so sehr ignorieren. Ich bin Arzt in eigener Praxis und muss oft ältere Patienten behandeln, v.a. Damen. Nicht selten möchten sie “einfach nur sterben” und klagen, dass ihre Rente stets nur bis zum 20.-24. d. M. reicht und anschließend nur noch Reste aus dem Schrank gegessen werden (und auch bis zu diesen Tagen war der Monat ein von steter Sparsamkeit und Verzicht geprägter). Das sind keine seltenen Einzelfälle und ich schäme mich dafür, dass es diese Armut überhaupt gibt und ich, von wohlfeiler, egozentrischer Debatte in Berlin abgesehen, gar keine Impulse einer würdigen Besserung erkenne. Stattdessen quillt mein Wartezimmer zeitweilig über mit Migranten, die in ihrem Leben FÜR diese Gesellschaft noch keinen, nicht den kleinsten Beitrag leisteten und mit einer bodenlosen Konsummentalität endlose Forderungen stellen, sich einen Dreck um das Erlernen unserer Sprache scheren und die deutsche Kultur bzw. unsere Art zu leben (von der Annahme der Leistungen abgesehen) schlicht verachten. Was sind wir doch für eine erbärmliche und rückgratlose Gesellschaft geworden.

Peter Lieser / 26.09.2019

Bestnote für diesen Artikel !!!!  Dazu gehören allerdings auch die Jahrgänge ab 1940 die das Elend der Nachkriegszeit erlebt haben. Ab 4-5 Jahren waren wir Kriegsschrott und Kohlen an den Bahngleisen sammeln usw. um die Familie zu unterstützen.  Greta & Co. wurde die Jugend geraubt - ich wälze mich am Boden vor Lachen.

Wilfried Cremer / 26.09.2019

Eine 1 mit * für diesen Beitrag. Da erübrigt sich ein Kommentar.

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