Ältere Wähler in Thüringen erinnern sich noch an sozialistische Wahlen. Da gab es eine Einheitspartei, und da gab es tatsächlich auch eine CDU im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Sie hatte sogar Parteizeitungen, so das Thüringer Tagblatt. Und auch sonst alles, was man als Partei so haben muss. Parteitage, Präsidium und Sekretariat.
Ach, und ein Parteiprogramm gab es natürlich auch. Am Anfang rumpelte es da ein wenig, aber nach einigen strengen Zurechtweisungen, Verhaftungen und Schikanen gelangte die Ost-CDU zum "christlichen Realismus", was bedeutete, dass sie sich zur "sozialistischen Gesellschaft" bekannte. Denn diese bessere Gesellschaftsordnung gebe "die beste Möglichkeit zur Verwirklichung der Forderungen Christi und zur Ausübung praktischen Christentums". Amen.
Aber Christ sein, heisst auch flexibel sein. Einerseits begrüsste die Ost-CDU, geprägt von christlicher Nächstenliebe, den Bau der Mauer im Jahr 1961 ausdrücklich und beschimpfte ihre Schwesterpartei im Westen als "Kreuzritter des Kapitals". Andererseits bekannte sie sich dann nach 1989 zur deutschen Einheit und zur Marktwirtschaft. Denn steht nicht geschrieben, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht als ein Reicher in den Himmel. Oder so.
Bei den nächsten freien Wahlen erzielte die Ost-CDU dann knapp 41 Prozent der Stimmen, in Erfurt zum Beispiel sogar 56,3 Prozent. Bei der Wiedervereinigung der so lange getrennten Schwesterparteien interessierte sich, typisch Kapitalismus, die West-CDU vornehmlich für das Vermögen der ehemaligen Blockflöten-CDU. Nach viel Geeier trennte sie sich zähneknirschend von einigen Teilen, sackte aber doch offiziell über 12 Millionen Euro Parteivermögen ein.
Von da an ging’s bergab mit der CDU in Thüringen. 1999 erzielte sie noch eine absolute Mehrheit mit fast 52 Prozent aller Stimmen. Gut, das konnte die SED noch besser, aber es herrschte ja auch kein Sozialismus mehr in Thüringen. Wobei, bei den ersten "Wahlen" 1946 erzielte die SED hier nur 49,3 Prozent. Ganz bitter wurde es dann bei den letzten Wahlen 2019. Die CDU verzwergte sich auf 21,8 Prozent, eine Riesenklatsche, wie sie zuvor nur die SPD leidvoll gewohnt war.
Nun hat natürlich auch die wiedervereinigte CDU schon lange ein gemeinsames Parteiprogramm. In dem steht, neben viel christlichem Geschwafel, auch ein auf Parteitagen immer wieder bekräftigter sogenannter "Unvereinbarkeitsbeschluss". Der beinhaltet, dass die CDU weder mit dem Teufel, noch mit dem Beelzebub etwas zu tun haben will. Oder weltlich ausgedrückt: "Die Christdemokraten lehnen Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab."
Eigentlich kann man alles so oder so sehen
Das lässt eigentlich keinen Interpretationsspielraum. Könnte man meinen. Aber wie schon die 2000-jährige Bibelauslegung immer wieder unter Beweis stellte: Eigentlich kann man alles so oder so sehen. Parteien haben ein Parteiprogramm. Darin steht, was die Partei will, welche Ziele sie hat und wie sie die erreichen möchte. Damit der Wähler weiss, woran er ist. So sollte es sein. So ist es nicht.. Du sollst nicht töten und das Segnen von Kanonen. Aber diese Flexibilität gilt natürlich auch in Friedenszeiten. Wobei hier ein verschärftes "so oder so" gilt.
Das erste So fand statt, als es sich zutrug und ergab, im Jahr 2020 des Herrn, dass doch tatsächlich CDU-Abgeordnete ihre Stimme einem FDP-Parlamentarier gaben. Wer da "na und?" sagt, beweist, dass es ihm nicht nur an Bibelfestigkeit gebricht. Denn, oh weiche, Satanas, auch die Abgeordneten der AfD hatten dem gleichen FDP-Abgeordneten ihre Stimme gegeben, der damit zu seiner eigenen Überraschung der erste FDP-Ministerpräsident eines Bundeslandes wurde.
Nun könnte man meinen, dass die sozusagen virtuelle Vereinigung von CDU- und AfD-Stimmen auf den gleichen Kandidaten weder als Koalition, noch als "ähnliche Form der Zusammenarbeit" gesehen werden kann. Schliesslich ist Stimmabgabe doch keine Arbeit. Aber, so wie das auch in der katholischen Kirche Brauch ist, die verirrten Schäfchen der CDU in Thüringen ereilte der Bannstrahl der Päpstin. Kniet nieder, geht in euch, bereut und kehrt auf den Pfad der Tugend zurück, donnerte sie. Nun ja, das drückte sie alles etwas weltlicher aus.
Aber, oh Sodom und Gomorrha, nun war guter Rat und göttlicher Ratschluss teuer. Und es erhob sich ein geradezu babylonisches Sprachgewirr. Der FDP-Ministerpräsident trat nicht zurück, trat zurück, trat vom Rücktritt zurück, und wenn er nicht nochmal zurückgetreten ist, ist er immer noch Ministerpräsident. Alle Parteien forderten lauthals Neuwahlen, und so manche Parteimitglieder, nicht nur bei der Linken, dachten, dass so ein Schlamassel im Sozialismus niemals passiert wäre.
Der nicht wiedergewählte Ministerpräsident Ramelow nahm sich am FDP-Ministerpräsidenten ein Beispiel und eierte ebenfalls. Nachdem er angeblich von Faschisten abgewählt worden war, obwohl gar keine faschistische Partei im Landtag vertreten ist, forderte er auch Neuwahlen. Dann warnte er vor Neuwahlen. Dann schlug er, ohne jegliches Mandat dafür, seine Vorgängerin als Übergangsministerpräsidentin vor, die Neuwahlen vorbereiten solle.
Nun herrscht Frohlocken und Wohlgefallen
Das fanden aber eigentlich weder die SPD, noch die Grünen, noch die CDU eine gute Idee. Von der FDP ganz zu schweigen. Denn diese Parteien fürchten vielleicht nicht den Zorn Gottes, aber den des Wählers. Der sich darin äussern könnte, dass bei Neuwahlen FDP und Grüne wieder aus dem Parlament fliegen, die SPD gebannt auf die 5-Prozent-Hürde starrt und die CDU sich nochmals halbieren könnte. Das wäre dann zwar der Ausdruck des Wählerwillens, aber weiss nicht auch die Kirche, was das Beste für den Christenmenschen ist, besser als der Christ selbst?
Genau, wenn also zu befürchten steht, dass der Wähler das Falsche wählt, muss man ihm diese Wahl ersparen. Also beschloss die Thüringer CDU in ihrer unendlichen Weisheit und auch mit Gottesfurcht, dass man dann halt doch den Linken Ramelow wählen werde. Da erhob sich natürlich sofort das gleiche Wehklagen und Geschrei wie bei der Wahl des FDP-Abgeordneten? Aber nein, man sieht wieder einmal, dass Gottes Wege unerforschlich sind.
Während alleine schon durch die gemeinsame Stimmabgabe mit der AfD lauthals das Ende der Demokratie, ja eigentlich das Ende der Welt befürchtet wurde, das Jüngste Gericht schon am Horizont mit dunklen Wolken drohte, der Himmel über Thüringen einstürzte, die apokalyptischen Reiter gesichtet wurden, auch Schwefelgeruch in die Nase stieg, die Menschen sich verzweifelt die Kleider zerrissen und Asche aufs Haupt streuten, also zumindest in Parteizentralen und in Medienhäusern, herrscht nun Frohlocken und Wohlgefallen.
Hosianna wird gerufen, es sei, was denn sonst, eine historische Vereinbarung, ein Stabilitätspakt, ein historischer Kompromiss, eine konstruktive Opposition. Staatstragende Verantwortung, nicht mehr, nicht weniger. Wunderbar, und Schwarz ist das neue Weiss, Blau ist Rot, und Menschen sind Kopffüssler, die auch mal vom Erdenrund fallen, denn unser Planet ist bekanntlich eine Scheibe.
Dann geh doch rüber
Aber Christenmenschen, ist man versucht zu rufen, haltet ein. Wisst ihr denn nicht, dass Todsünden unverzeihlich sind und gnadenlos einen Aufenthalt im Fegefeuer nach sich ziehen? Vor allem, wenn man mehrere gleichzeitig begeht? Die da wären: Trägheit. Hochmut. Zorn. Neid. Habgier. Völlerei. Lediglich die Wollust fehlt, aber wer weiss denn, was sich nachts in Amtsstuben der Regierung abspielt.
Ramelow, der vor Kurzem nur noch geheult hat, ist wieder gut gelaunt, alle Wahlverlierer atmen auf, das Seelenheil, die Demokratie, das Bundesland, ja Deutschland, und morgen die ganze Welt, alles ist gerettet. Wie bitte? Neuwahlen? Ach was. Unvereinbarkeit? Schnauze. Wie bitte? Der Thüringer Wähler könnte sich verarscht vorkommen? So ein Blödsinn. Wer sagt da, im Sozialismus waren die Wahlen auch nicht schlechter? Dann geh doch rüber.
Manche CDU-Bonzen mögen bedauern, dass die christliche Partei leider nicht die Mittel der Inquisition zur Verfügung hat, um solch übles und gotteslästerliches Gerede zum Verstummen zu bringen. Ist denn nun wenigstens alles wieder gottgefällig gerichtet? Nun ja, auch der Teufel liebt es, sich zu verkleiden und so zu versuchen. Was passiert eigentlich, wenn es der teuflischen AfD einfallen sollte, das zu tun, was der CDU billig ist? Auch aus staatstragenden Motiven, um Schaden vor dem Land abzuwenden, um seine Regierbarkeit wieder herzustellen, aus demokratischem Verantwortungsbewusstsein Ramelow auch ein paar Stimmen gibt?
Horribile dictu, sagt da schreckensbleich der fromme Christ, der Demokrat draussen im Lande und auch in vielen Redaktionsstuben. Und schlägt das Kreuz, betet dafür, dass die AfD nicht auf diese teuflische Idee käme. Der Wähler in Thüringen fragt sich hingegen völlig zu Recht, worin eigentlich der Unterschied zwischen einer sozialistischen und einer demokratischen Wahl besteht. Und kommt zum Schluss, dass eine sozialistische Wahl wenigstens schon im ersten Anlauf das gewünschte Resultat ergibt, und dann ist wenigstens Ruhe.