Markus Vahlefeld / 12.03.2016 / 09:59 / Foto: Niels de Wit / 6 / Seite ausdrucken

Tut uns leid, dieses Jahr fällt Armut leider aus

Erinnern Sie sich noch an den Armutsbericht, den der Paritätische Wohlfahrtsverband in der letzten Februarwoche des Jahres veröffentlich hat? Dieser Armutsbericht gehört zum alljährlich wiederkehrenden Ritual der Sozialindustrie, um das Augenmerk auf die Abgehängten unserer Republik zu richten. Wer weniger als 60% des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt in Deutschland als arm. Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband werden in Deutschland Haushalte mit einer Person und einem Einkommen von weniger als 892 Euro pro Monat als arm bewertet. Bei einer Familie mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 1.872 Euro.

Bisher gehörte es zum politischen Spiel der Bundesrepublik Deutschland, dass der Armutsbericht veröffentlicht wurde und dann die Diskussionen um dessen Ergebnisse begannen. In den Zeitungen, in den Kommentarspalten und in den Talkshows. Meist war der Tenor: die Deutschen werden ärmer und die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Der Armutsbericht 2016 stellt zwar nun fest, dass etwas weniger Menschen von Armut betroffen wären als noch die Jahre vorher, aber dass die ungleiche Verteilung des Reichtums eklatant zugenommen habe. Wie jedes Jahr mahnt Verbandschef Schneider (das ist der mit den dicken Kotletten) auch 2016: es sei Zeit zu handeln.

Da aber 2016 kein normales Jahr des politischen Spielbetriebs ist, sondern es seit langem mal wieder um etwas geht - um die Sicherheit der Bürger, um die Überdehnung des Sozialstaats, um das gesellschaftliche Selbstverständnis, kurzum: um die Zukunft des Landes -, ist der Armutsbericht auf merkwürdige Weise hinten runtergefallen. Die Medien nahmen ihn zur Kenntnis, berichteten mehr pflichtbewusst als euphorisiert, aber das Thema wurde ansonsten nicht durchs Mediendorf getrieben. Illner schwieg, Plasberg schwieg, Anne Will sowieso.

Wie volatil politische Überzeugungen sind, wird seit einigen Monaten mit aller Wucht deutlich. Feministinnen ist ihr Anti-Rassismus wichtiger als ihr Feminismus, Religionsverächtern ist die Rücksicht auf den Islam auf einmal höchstes Gebot, den Kämpfern für Demokratie und Meinungsfreiheit ist keine Zensurmaßnahme zu krass, solange sie sich gegen rechts wendet, und den größten Armutsschreiern kann Deutschland momentan gar nicht reich genug sein, um nicht noch ein paar Hunderttausend Bedürftiger willkommen zu heißen. Noch 2013 textete der gute Augstein Jakob in seiner SPON-Kolumne zum Anlass des Armutsberichts: „Die Schulen verfallen, die Städte verrotten, die Straßen verkommen, an den Kreuzungen klauben Menschen Pfandflaschen aus den Mülleimern. Aber man hat uns beigebracht, unseren Augen nicht mehr zu trauen und Ungerechtigkeit für Notwendigkeit zu halten und Unsinn für Vernunft.“

Und 2016? Schweigen im Walde SPON.

Nun, nicht ganz. Auch 2016 liefert SPIEGEL-Online die Gebrauchsanweisung für den Armutsbericht gleich mit. Im Gegensatz zu den Vorjahren klingt sie aber auf einmal mäßigend und sehr, sehr skeptisch. „Glaubt man dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dann sieht es düster aus in Deutschland. Doch solche Schwarzmalerei ist gefährlich - gerade in Zeiten der Flüchtlingskrise“, lässt Kommentator Guido Kleinhubbert wissen, um mit folgender Warnung zu enden: „Es kann also sein, dass Blues-Sänger Schneider (das ist der mit den dicken Kotletten, Anmerkung M.V.) einige neue Fans bekommt, die er sich nicht gewünscht hat. Zum Beispiel AfD-Politiker, NPD-Wirrköpfe und Pegida-Gröhler.“

Nur schwer verwundert kann man sich die Augen reiben ob der vielen ehemaligen Wahrheiten, die jetzt für die Flüchtlinge geopfert werden müssen. Denn die größte Angst der Deutschen ist und bleibt der Rechtspopulist. Keine verfallenden Schulen, keine verrottenden Städte, keine verkommenen Straßen mehr weit und breit. Der Rechtspopulist könnte solcherart hässliche Bilder ja instrumentalisieren (was der Linkspopulist bekanntlich nie täte). Für den Kampf gegen Rechts würde jeder gutmeinende Medienschaffende die Wahrheit von gestern als Verrat von heute verkaufen.

Damit ein Thema Titelseiten- und Talkshow-tauglich ist, geht es nicht nur um die Richtigkeit der Zahlen und das hehre Anliegen, sondern vor allem darum, dass bei Redaktionskonferenzen die emotionale Membran so stark auszuschwingen vermag, dass die Teilnehmer vor Begeisterung vibrieren. Beim Armutsbericht 2016 taten sie dies nicht. Da muss niemand nachhelfen oder par ordre du mufti Anleitungen geben. Das geht ganz von allein. 2016 ist halt der Tenor: wir Deutschen sind doch reich genug für ein paar Flüchtlinge.

Ob 2017 ein besseres Jahr für die Armen wird, wenn man dem ungerechten Kapitalismus wieder für die grassierende Armut in Deutschland verantwortlich machen kann, wird man sehen. Hängt wohl von den Rechtspopulisten ab.

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Christian Goeze / 14.03.2016

Man sollte den Armutsbericht ernstnehmen und endlich Konsequenzen aus ihm ziehen. Jahr für Jahr weist er nach, dass der Sozialstaat trotz steigender Kosten immer unsozialer wird. Daraus folgt, dass es nur sozial ist, wenn man den Sozialstaat endlich abzuschafft.

Ludwig Rudolf / 13.03.2016

Exzellent beobachtet !  Danke, Herr Vahlefeld.

Andreas Rochow / 13.03.2016

Köstlich und unheimlich zugleich: Die moralische Empörung zweier öffentlicher Personen aus dem definitiv (salon-)linkspopulistischen Spektrum orientiert sich nicht mehr offen an ihren hehren Zielen, nämlich der Umverteilung zugunsten Armer, sondern mag die Missstände nicht ventilieren, weil sie von gefühlten “Rechtspopulisten” instrumentalisiert werden könnten. Was man als Glosse lesen möchte, stellt sich als punktscharfe Momentaufnahme eines unglaublich verlogenen Komplexes dar, in dem Sozialindustrie, linker Journalismus und öffentlich rechtliche Medien je nach Wetterlage übereinstimmend lauthals Schuldzuweisungen und Forderungen von sich geben oder sich zu heuchlerischem Schweigen entschließen. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Auch dem anderen namhaften “Armutsforscher” ist in diesem Jahr das Agitieren offenbar vergangen. Vielleicht heiß das auch: Armutsproblem endgültig gelöst…

Werner Geiselhart / 12.03.2016

Einfach genial, der Vergleich der Spiegel-Online Reaktionen aus den Jahren 2013 und 2016 auf den immer gleichen Armutsbericht Deutschland. Besser könnte man die ideologische Beschränkheit und Verlogenheit dieser Augstein-Postille nicht beschreiben. Das Schlimme ist, viele Presseerzeugnisse unterscheiden sich nicht mehr wesentlich von diesem Agitprop-Blatt.

Thomas Bode / 12.03.2016

Verglichen mit der moralischen Raserei die unsere besseren Kreise ergriffen hat, um hunderttausenden muslimischen Männern (die für mich überwiegend nicht wie Opfer aussehen) hier ein gutes Leben zu bereiten, waren die Reaktionen auf den Armutsbericht schon immer sehr müde. Guido Kleinhubber schießt natürlich den Vogel ab indem er nun schon die Meinung, es gäbe Menschen hier die unverschuldet und unnötig unter Armut leiden, als “gefährlich” etikettiert. Und somit in den Giftschrank der verbotenen Gedanken steckt. Verboten in der Gesinnungs-Republik in der Heuchelei mit Likes geadelt, und Dummheit als Humanität gepriesen wird. Und Jakob Augstein, reicher selbstverliebter Verlegersohn und Salonsozialist, ist auch froh endlich nicht mehr für diese miefigen, bio-deutschen Kartoffeln aus dem Armutskeller seine elegante Rhetorik verschwenden zu müssen. Wo doch ein viel attraktiveres Objekt der Fürsorge direkt vor unserer Haustür auftauchte. Wo man nicht nur “sozial” sondern auch noch “weltoffen” und “tolerant” sein kann. Es gibt an dem Ganzen so viel Bestürzendes, dass ich schwanke was das Schlimmste ist. Mir ging es jetzt schon seit 15 Jahren so dass ich echten sozialen Fortschritt schmerzlich vermisste. Aber jetzt wo angeblich alles links ist in Helldeutschland, wird das linke Projekt zerstört. Der Sozialstaat wird ruiniert, und die Glaubwürdigkeit der Linken erweist sich als Illusion. Eigentlich müssten die Neoliberalen hochzufrieden sein. Sind sie vermutlich auch.

Andreas Rochow / 12.03.2016

Köstlich und unheimlich zugleich: Die moralische Empörung zweier öffentlicher Personen aus dem definitiv (salon-)linkspopulistischen Spektrum orientiert sich nicht mehr offen an ihren hehren Zielen, nämlich der Umverteilung zugunsten Armer, sondern mag die Missstände nicht ventilieren, weil sie von gefühlten “Rechtspopulisten” instrumentalisiert werden könnten. Was man als Glosse lesen möchte, stellt sich als punktscharfe Momentaufnahme eines unglaublich verlogenen Komplexes dar, in dem Sozialindustrie, linker Journalismus und öffentlich rechtliche Medien je nach Wetterlage übereinstimmend lauthals Schuldzuweisungen und Forderungen von sich geben oder sich zu heuchlerischem Schweigen entschließen. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Auch dem anderen namhaften “Armutsforscher” ist in diesem Jahr das Agitieren offenbar vergangen. Das könnte auch heißen: Armutsproblem endgültig gelöst…

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