Der gescheiterte Putsch gegen den zunehmend autokratischer werdenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sowohl in der Türkei als auch in Europa zu politischen Irritationen und zu viel Verunsicherung geführt. Noch am Abend des Putschversuches war in den deutschsprachigen sozialen Medien immer wieder auch Unterstützung für die Putschisten zu vernehmen – gerade auch aus Kreisen, die als freiheitsliebend und skeptisch gegenüber staatlicher Macht gelten.
Die Hoffnung auf den Sturz des Präsidenten verband sich mit der Befürchtung, dieser werde bei einem Scheitern des Putsches noch brutaler gegen seine politischen Gegner vorgehen. Als klar wurde, dass Erdogan den Putschversuch politisch überleben würde, wurde das Ereignis auch als Niederlage und als vertane Chance diskutiert.
Der Ausnahmezustand lässt wenig Gutes erwarten
Das erwartete rabiate Vorgehen von Erdogan und seinen Anhängern gegen politisch oder religiös Andersdenkende in den Tagen danach bestätigte diese Befürchtungen. Insgesamt starben etwa 300 Menschen im Zuge des Putsches. Seit einer Woche rollt eine Verhaftungswelle durchs Land: 34 Generäle sollen in Untersuchungshaft sitzen. Mehr als 13.000 Staatsangestellte sind von Erdogan suspendiert oder entlassen worden, unter ihnen 7.900 Polizisten, 2.700 Angestellte des Justizministeriums, 1.500 Finanzbeamte sowie 30 Provinzgouverneure. Auch Verfassungsrichter sind verhaftet worden. Zudem hat das Bildungsministerium mehr als 15.000 Staatsbedienstete vom Dienst freigestellt. 24 Fernseh- und Radiostationen wurde die Sendelizenz entzogen. Der von Erdogan verhängte Ausnahmezustand lässt auch für die kommenden Monate wenig Gutes erwarten.
Der gescheiterte Putschversuch ist ein starkes Indiz dafür, dass das vor knapp 100 Jahren vom damaligen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk vorangetriebene Projekt einer modernen, westlich orientierten und säkularen türkischen Republik seinem Ende entgegen geht. Strebten die Menschen früher nach einer Annäherung an den Westen und nach säkularen politischen Zielen, so wenden sie sich heute mehr und mehr von eben diesen Orientierungen ab. Dass westliche Werte wie Demokratie, Liberalismus und Säkularismus in der heutigen Türkei auf dem Rückzug sind, ist indes kein Wunder: Denn auch im Westen nimmt das Vertrauen in Aufklärung, Liberalität und Demokratie rapide ab, und dies hat einen direkten Effekt auf die Entwicklung im gesamten Nahen Osten.
Der politische Islam ersetzt die westlichen Staats-Ideologien
Dort, und eben auch in der Türkei, übernimmt der politische Islam Schritt für Schritt die Rolle, die in der Vergangenheit westlich orientierte Staatsideologien spielten. Galten diese früher als Basis für Nationalstolz und als Identifikationsmuster, so übernimmt heute zunehmend die Religion diese Funktion. Wie wenig klassische Staatsideologien selbst in der Türkei heute tatsächlich noch wert sind, zeigt der gerade gescheiterte Putschversuch des türkischen Militärs: Einst genoss es aufgrund seiner Wächterfunktion im laizistischen türkischen Staat einen hohen Stellenwert und hatte großen Einfluss. Doch gerade dieser Einfluss ist in den letzten Jahren unter Erdogan deutlich zurückgedrängt worden. Der klägliche Putschversuch offenbart, wie politisch isoliert das Militär mittlerweile in der türkischen Gesellschaft ist.
Dass sich der türkische Präsident Erdogan immer offener als islamischer und autokratischer Führer geriert, verstärkt bei vielen westlichen Kritikern den Eindruck, die Verhältnisse in der Türkei seien mit denen in Ägypten vergleichbar. Dort putschte die Armee 2013 gegen den islamischen Präsidenten Mohammed Mursi. Die Aufständischen ernteten Beifall aus dem Westen. Bis heute unterstützen Europa und Nordamerika den neuen Präsidenten und Ex-Putschisten Abd al-Fattah as-Sisi, obwohl seit seiner gewaltsamen Machtübernahme Tausende von Oppositionellen verhaftet und hingerichtet oder direkt massakriert wurden. Daran sollten sich all jene erinnern, die den türkischen Putschisten die Daumen drückten.
Zur Erinnerung: Der letzte Putsch des türkischen Militärs gegen eine gewählte Regierung fand im September 1980 statt. Im Anschluss wurden Tausende von politischen Gefangenen gefoltert und zum Tode verurteilt. Kritische Medien sprachen später von bis zu 650.000 politischen Festnahmen, 7.000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen.
Eine demokratische Rechtsordnung schützt nicht vor Amtsmissbrauch
Es mag schwerfallen, angesichts des brutalen Vorgehens Erdogans gegen seine Kritiker und gegen die Kurden das Scheitern des Putsches zu begrüßen. Doch es bleibt auch festzuhalten: Im Gegensatz zu Ägypten ist die Türkei ein demokratischer Staat mit einem demokratisch gewählten Präsidenten. Und auch wenn diese Demokratie in großer Gefahr ist: für ihre Zukunft war es unabdingbar, dass sich alle großen demokratischen Parteien deutlich gegen den Putsch positionierten – auch wenn manche von ihnen nun unter Erdogans Rachefeldzug zu leiden haben.
Die als Reaktion auf die Säuberungsaktionen von Erdogan ins Kraut schießenden Theorien, der Putsch könnte vom Präsidenten selbst initiiert worden sein, mögen interessant klingen, sind aber letzten Endes nur die Kehrseite des Personenkults, der um den Präsidenten betrieben wird. Die tatsächlich entscheidende Frage lautet: Ist aus Sicht eines Demokraten ein legitimer Präsident, der sich zunehmend diktatorisch verhält, besser als ein Diktator oder Militärführer, der vorgibt, die Interessen des Volks zu vertreten? Ich sage: auf jeden Fall. Jeder demokratisch legitime Staatslenker, und sei er auch noch so autoritär, ist besser als der aufgeklärteste Militärführer.
Die demokratische Ordnung eines Staates bietet keinen generellen Schutz gegen Amtsmissbrauch und gegen undemokratische Politik. Dennoch sollte, wer eine Stärkung von Freiheit und Demokratie begrüßt, die Türken unterstützen, wenn sie ihre demokratischen Rechte verteidigen. Genau das ist geschehen. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, um für den Präsidenten zu demonstrieren, den sie mehrheitlich gewählt haben.
Sie haben damit auch ihr Recht verteidigt, ihren Präsidenten abzuwählen, wenn sie ihn nicht mehr wollen. Dies ist eins der wichtigsten Rechte in einer Demokratie: Erst die legale Möglichkeit der demokratischen Abwahl eines Präsidenten macht diesen zu einem legitimen Präsidenten. Und eines sollte klar sein: Militärs wählt man nicht, und wie gerade auch die türkische Geschichte zeigt, wird man sie auch nicht per Wahl einfach so wieder los.
Erdogan ist immer noch demokratisch gewählt
Bei aller Ablehnung von Erdogans Politik: Solange dieser Präsident abwählbar ist, gebietet es der Respekt vor der demokratischen Entscheidung und dem Selbstbestimmungsrecht der Türken, das Vorgehen der militärischen Putschisten abzulehnen. Dies ist explizit kein Freifahrtsschein für Erdogan, auch wenn er und seine Anhänger das derzeit so sehen. Denn letztlich haben die Türken nur das demokratisch legitimierte Präsidentenamt geschützt und ihr Recht, es auf demokratischem Wege einem anderen Kandidaten zu übertragen.
Wenn sich Erdogan irgendwann zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennt, das Parlament entmachtet oder sich seiner Abwahl widersetzt, spätestens dann sollten ihn die Türken aus dem Amt jagen, denn das Amt gehört ihnen. Sie sind der demokratische Souverän. Und wenn sich dann das Militär ohne eigene Machtansprüche in den Dienst eines solchen demokratischen Aufstands stellt, dann wäre das zu begrüßen.
Genau das war hier aber nicht der Fall. Die Putschisten hatten die Stimmung offensichtlich aufgrund ihrer politischen Isolation völlig falsch eingeschätzt. Sie operierten ohne jeden nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung und dazu noch reichlich dilettantisch. Zum Glück haben das die meisten Oppositionellen in der Türkei genauso gesehen. Dies zeigt, dass trotz aller Rückschläge und Krisen weiterhin Grund zur Hoffnung besteht, dass das demokratische Denken die Ära Erdogan in der Türkei überleben kann. Diesen Kräften sollte unsere Unterstützung gelten.
Wenn wir hingegen das Scheitern des Putsches bedauern, erklären wir die Totengräber der Demokratie zu ihren Lebensrettern – und die Menschen in der Türkei für nicht demokratiefähig. Bevor wir den Türken vorwerfen, ihre Demokratie freiwillig einem islamistischen Führer zu opfern, sollten wir damit beginnen, unsere eigene Demokratie und unsere eigenen Rechte ernster zu nehmen.
Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag Jena, 2015). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist am 21.7.2016 bei Cicero Online unter dem Titel "Türkei: Die Demokratie ist noch nicht verloren" erschienen.