Peter Grimm / 16.07.2016 / 14:00 / 16 / Seite ausdrucken

Türkei: Der Staatsstreich kommt erst richtig in Fahrt

Gebannt schaute die Welt in der Nacht zum Samstag auf die Bilder eines gescheiterten Putsches. Dabei nimmt der eigentliche Staatsstreich gerade erst Fahrt auf. Und das sagt kein Geringerer als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst. Der Herrscher spricht in seinen Nebensätzen dankenswerterweise eine eindeutige Sprache, man muss nur richtig hinhören. Am Samstagmorgen, nach all den kämpferischen Äußerungen, die man erwarten konnte, sagte Erdogan sinngemäß, dass der Putschversuch auch eine Gabe Gottes gewesen sei, weil der nun hinreichenden Anlass zu einer gründlichen Säuberung biete.

Angesichts der bislang schon laufenden Verfolgungs- und Verhaftungswellen gegen Erdogan-Kritiker dürfte es keinen Zweifel geben, dass Erdogan es ernst mit weiteren „Säuberungen“ meint. Musste Erdogans Gefolgschaft bislang noch jeden Oppositionellen, den sie verfolgen wollte, zum Unterstützer von „Terroristen“ erklären, so reicht es künftig, ein mutmaßlicher Unterstützer des Putschversuchs gewesen zu sein. Und ist nicht jeder, der sich ein Ende der Erdogan-Herrschaft wünscht, ein klammheimlicher Putsch-Unterstützer?

Für Erdogan ist der gescheiterte Militärputsch die Chance, noch stärker als bisher mit den Mitteln eines Diktators gegen Kritiker vorzugehen, als er es bislang schon tut. Während alle westlichen Regierungen in ihren besorgten Statements darauf verweisen, dass der türkische Präsident demokratisch gewählt worden sei und deshalb im Kampf gegen die Putschisten unterstützt werden müsse, gerät manches in Vergessenheit. Beispielsweise um welchen Preis Erdogans Anhänger die letzten Parlamentswahlen gewonnen haben.

Der Präsident führte ja bereits einen regelrechten Bürgerkrieg

Als die Opposition bei der Wahl im Frühjahr 2015 zu stark wurde und die AKP keine Mehrheit bekam, verhinderte der Präsident eine Koalitionsregierung, heizte den Konflikt mit der kurdischen PKK an, führte einen regelrechten Bürgerkrieg mit massivem Militäreinsatz in Kurdistan und verschaffte mit dem Klima der Angst seiner AKP bei den Neuwahlen einige Monate später die gewünschte Mehrheit.

Nur die Verfassung konnte seine Partei immer noch nicht ändern, um Erdogan auch ganz legal größere Vollmachten zu geben. Das erforderte Maßnahmen: Sein Ministerpräsident, der nicht mehr folgsam genug erschien, wurde ausgewechselt, den Oppositionsabgeordneten ihre parlamentarische Immunität geraubt, um sie anschließend mit Ermittlungsverfahren zu überziehen, Redaktionen wurden besetzt und Journalisten mussten vor Gericht, u.a., weil sie Beweise für die frühere heimliche türkische Unterstützung des „Islamischen Staats“ veröffentlicht hatten.

All das ist vergessen, zumal sich ja gerade die deutsche Regierung wegen ihres „Flüchtlingspakts“ mit Erdogan zu vielen Ergebenheitsgesten bereit zeigt. Dass die Visafreiheit für türkische Bürger in der EU bislang daran scheiterte, dass Brüssel eine Änderung der türkischen Anti-Terrorgesetze verlangte, nach denen inzwischen fast jeder Regierungskritiker zum Terror-Unterstützer erklärt werden kann, wird wohl kaum noch eine Rolle spielen. Schließlich musste sich der Möchtegern-Sultan doch eines Militärputsches erwehren. Weiteres Nachgeben in Berlin und Brüssel ist da zu erwarten. Verständnis für die nächsten Verhaftungswellen von angeblichen Putsch-Unterstützern inklusive.

Der Putsch-Versuch ist für Erdogan wirklich eine Gabe Allahs

Der Putsch-Versuch ist für Erdogan wirklich eine Gabe Allahs, denn seinen eigenen Staatsstreich von oben, an dem er schon lange arbeitet, kann er nun deutlich beschleunigen und intensiver betreiben. Hätte man sich deshalb wünschen sollen, der Putsch wäre geglückt? Wenn ich Bilder von Panzern sehe, die durch die Straßen einer Stadt rollen und höre, dass das Kriegsrecht verhängt wurde, dann kann ich normalerweise nicht mit denen sympathisieren, die das Kriegsrecht verhängen. Doch Erdogans diktatorischer Herrschaftsstil verführt dazu, sich da nicht mehr ganz sicher zu sein und es allenfalls als Wahl zwischen Pest und Cholera zu empfinden.

Vielleicht geht das auch den Türken so, die keine Erdogan-Anhänger sind, aber mit Militärregierungen in Ankara auch nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht haben. Angesichts der Putscherfahrungen des türkischen Militärs ist es allerdings bemerkenswert, wie dilettantisch dieser Coup organisiert war. Viele Fragen bleiben: Das Parlament wurde zerstört aber es gab keine Vorstöße auf Ministerien und Regierungssitze? Es gab keine ernsthaften Versuche, den Präsidenten oder den Ministerpräsidenten festzusetzen? Haben die Generäle das verlernt? Seit dem letzten Putsch sind immerhin 36 Jahre vergangen.

Ob der Dilettantismus der Putschisten nun ein Gottesgeschenk zur Säuberung war, wie uns Erdogan erklärt, und er jetzt nur die Chance nutzt, die der Himmel ihm gab oder ob es doch mehr gezieltes Menschenwerk war, als wir derzeit erfahren, ist eine Frage, die vielleicht erst künftige Historiker beantworten werden. Gewiss ist, dass der staatsstreichartige Umbau des türkischen Staates nach dem Erdogan-Modell nun erst so richtig in Fahrt kommt. Und kein regierender Politiker aus dem Westen wird ihm mehr in den Arm fallen wollen, obwohl das beängstigende Aussichten sind.

Wir als Bürger sollten uns deshalb wenigstens auf die Unterstützung jener Erdogan-Kritiker vorbereiten, die unter einem Putschunterstützungsvorwand demnächst verfolgt werden. Die können jetzt jede Solidarität gebrauchen.

Zuerst erschienen auf Peter Grimms Blog Sichtplatz.de hier

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Leserpost

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Holger / 16.07.2016

Der Ablauf der “Putsches” ist in der Tat mehr als nur merkwürdig. Ich würde gerne ein wenig mehr darüber erfahren wie Erdogan entkommen ist/sein soll. Man kann doch keinem weismachend, dass die “Putschisten” wirklich so dumm waren und nicht versucht haben ihn und die Führung festzusetzen.  Und was sollen bitte 3000 Richter mit einem Armee-Putsch zu tun haben?! Der Reichtagsbrand wurde auch nie endgültig aufgeklärt…

Rainer Fechner / 16.07.2016

Ich halte es für sehr plausibel, dass es sich um eine Inszenierung handelte. Frau M. mahnt nun “rechtsstaatliches Verhalten” an. An die 3.000 Richter sind entlassen worden. Alles klar..,

Peter Zentner / 16.07.2016

Bislang sind es zwar nur Gerüchte und Vermutungen, aber ein von kundigen Soldaten und deren Offizieren angestrebter Putsch wäre niemals so dilettantisch vorbereitet und angegangen worden wie das reichlich inszeniert wirkende Straßentheater von gestern.  Dieses schien auch einer gut inszenierten Choreographie zu folgen, in allen Details. Somit Wasser auf Recep Tayyip Erdoğans Mühlen, kaltblütig und dennoch durchsichtig.

Quincy / 16.07.2016

Wenn man die Bilder der Soldaten sieht, die jetzt festgenommen oder von dem aufgebrachten Erdogan-Mob maltretiert wurden, kommen einen erhebliche Zweifel an dieser ganzen Geschichte. Einige Soldaten sehen aus wie ängstliche Teenager, die man in eine viel zu große Uniform gesteckt hat. Ich bin bestimmt kein Befürworter von Verschwörungstheorien aber dieser Putsch, wenn es denn einer war, ist an Dillentantismus nicht zu überbieten. Im ” Lehrbuch für Putsche” steht an oberster Stelle: Die verantwortlichen Regierenden sind sofort festzunehmen oder zu töten, um ein Machtvakuum zu erreichen. Im ganzen Land sind zentrale Punkte zu besetzen, es reicht keinesfalls aus, auf einigen Brücken ein paar Soldaten und einen Panzer zu stellen. Die Putschisten sollten den Großteil der Luftwaffe in ihrer Hand haben. Dass viele Menschen, die sich in Deutschland nicht in einer politischen Verantwortung befinden oder zu der großen Anzahl der AKP-Anhänger gehören, Sympathien für die Putschisten haben, liegt auf der Hand. Das türkische Militär hat sich immer als Vertreter des säkularen Staates gesehen, wie ihn Kemal Atatük praktizert hat. Weltoffen ohne religiöse Weltanschauung. Denk ich in diesen Tagen an die Türkei kommen mir die Tränen.

Dietrich Herrmann / 16.07.2016

Der Präsident wird seine Säuberungswelle innerhalb der Militärs und auch innerhalb der Regierungspartei AKP mit noch mehr Vehemenz vorantreiben. Er wird die Meinungsfreiheit und die persönlichen Rechte noch weiter einschränken und den Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes forcieren. Nur Stunden nach dem Putsch wurden fast 3.000 Richter entlassen, und der Premier fordert offen die Wiedereinführung der Todesstrafe. Alles Maßnahmen, die die Türkei noch weiter ins Chaos stürzen werden.

Carl Meinen / 16.07.2016

Dieser Putsch (von wem eigentlich?) ist Erdogans “Reichstagsbrand”. Die kemalistische Türkei ist endgültig Geschichte.

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