Burkhard Müller-Ullrich / 02.12.2007 / 20:38 / 0 / Seite ausdrucken

Tschuldigung, falsch gewählt

Man kennt ja diese Herrschaften, die im Treppenhaus herumgeistern, sich von Tür zu Tür vorarbeiten und alle möglichen Gebrechen angeben. Wenn man ihnen auch nur einen Spalt breit aufmacht, hat man sie in der Wohnung und dann liegt plötzlich irgendein supergünstiges Angebot auf dem Tisch, dessen kleingedruckte Bedingungen vor den Augen verschwimmen, als ob man sie durch eine regennasse Fensterscheibe läse. Und während man noch denkt, man bestätige mit seiner Unterschrift bloß den Besuch des Telekom-Vertreters oder des Abgesandten vom Roten Kreuz hat man zwei neue Zeitschriften abonniert oder den sinnlosesten Fernsprechtarif um zahn Jahre verlängert.

Gottseidank gibt es gegen dieses Unwesen Gesetze. Unsere Parlamentarier haben für Leute, die beim Unterschreiben gerade mal nicht aufpassen, die Widerrufsklausel eingeführt. Die Widerrufsklausel ist ja überhaupt ein sehr menschenfreundliches und lebensnahes Denkmodell, denn wer möchte nicht manchmal alles, aber auch alles widerrufen? Es soll sogar Parlamentarier geben, die ihre eigenen Gesetze widerrufen wollen, weil sie, als darüber abgestimmt wurde, gerade mal nicht aufgepaßt hatten.

Jedenfalls behaupten einige Oppositionspolitiker, sie seien neulich im Bundestag bei der umstrittenen Ausweitung der Videoüberwachung von der Koalition übel hereingelegt worden. Und zwar durch folgende Methode: Man habe ihnen spät am Abend einen geänderten Gesetzentwurf zugefaxt, der unter der Überschrift Fluggastdatenspeicherung auch noch von anderen prekären Dingen handelte. Am nächsten Morgen sei das im Innenausschuß nur deshalb ohne Aussprache durchgewunken worden, weil die Abgeordneten von FDP, Grünen und Linken von diesen Änderungen gar nichts mitbekommen hatten. Viele gehen nämlich morgens direkt in ihre Sitzung, statt erst im Büro den Faxeingang zu kontrollieren.

Der Ärger der betreffenden Bundestagsmitglieder ist verständlich, denn sie haben auf ebenso peinliche wie amüsante Weise dazu beigetragen, uns den Gesetzgebungsprozeß als eine Groteske vorzustellen. Da summen also in entvölkerten Büros des Nachts die Faxmaschinen und machen Grün zu Rot, vertauschen vorn und hinten, und schütteln Paragraphen und Gedanken lustig durcheinander. Die Menschen merken nichts, weil sie nur noch wie Zombies nicken, wenn bestimmte Zahlen und Titel aufgerufen werden.

Dabei hat die Bezeichnung Parlamentarier etwas mit der Mündlichkeit der Arbeit zu tun. Parlare bedeutet seit zweitausend Jahren: sprechen. Wenn nur noch Akten gezogen und Knöpfe gedrückt werden, dann geht leicht etwas schief: die falsche Akte, der falsche Knopf, und schon ist Abstimmung vorbei. Nicht von ungefähr muß jeder Grundstückskaufvertrag vom Notar laut vorgelesen werden. Das empfiehlt sich bei so weitreichenden Texten wie Gesetzen auch. Denn noch gibt es keine Widerrufsklausel, die überforder- oder -rumpelten Volkvertretern die Möglichkeit einräumt, sich binnen vierzehn Tagen alles anders zu überlegen.

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