Spielt der Ukraine-Krieg bei der amerikanisch-russischen Annäherung vielleicht gar nicht mehr die Hauptrolle? Treibt nicht ein ganz anderes Motiv die beiden ungleichen Präsidenten zueinander?
Was motiviert einen Herrscher wie Wladimir Putin, der beim Auf- und Ausbau seiner Machtposition niemals durch moralische Bedenken oder Skrupel auffällig geworden ist, zum demonstrativ freundlichen Auftritt bei US-Präsident Trump? Nur die Möglichkeit, wieder auf die Weltbühne zurückzukehren und vielleicht auch im Westen wieder die Rolle des anerkannten Staatsmanns statt des mit internationalem Haftbefehl gesuchten Parias zu spielen? Oder der Wunsch, den opferreichen Krieg in der Ukraine bald mit einem Kriegsgewinn beenden zu können?
Möglicherweise treibt die beiden ungleichen Präsidenten aus Washington und Moskau auch ein gemeinsames Interesse zueinander: das Interesse, Chinas Machtexpansion einzudämmen. Es spielt zwar derzeit in der breiten öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle, aber während Russland im Westen Krieg führt, dürfte den Kreml-Herrscher auch Chinas Interesse in Russlands Osten beunruhigen und ihn um die Machtfülle Moskaus in diesem Teil seines Imperiums fürchten lassen.
Es ist wenig verwunderlich, dass derzeit kaum über russisch-chinesische Interessenkonflikte gesprochen wird, denn Moskau und Peking scheinen immer mal wieder ihr Bündnis zu demonstrieren, gern auch militärisch.
Im März hielten Russland und China zusammen mit dem Iran ein Marinemanöver im Golf von Oman ab. Anfang August gab es ein russisch-chinesisches Marinemanöver im Japanischen Meer. Doch vor allem könnte Russland ohne China den Ukraine-Krieg nicht führen. China kauft russisches Öl und Gas und füllt Moskaus Kriegskasse. Zwar liefert China offiziell keine Waffen, aber es verkauft offenbar Bauteile, die für Raketen, Drohnen und Kampfflugzeuge gebraucht werden. In der aktuellen russischen Propaganda wird China gern als Partner in einem Werte- und Verteidigungsbündnis gegen den Westen dargestellt. In vielen Wirtschaftsbereichen soll China den russischen Markt dominieren. Auch etliche Russen fragen sich: Ist Russland mittlerweile in eine prekäre Abhängigkeit vom großen Nachbarn geraten?
Russisches Territorium plötzlich chinesisch
Chinas tatsächlicher Blick auf Russland zeigt sich nicht in den großen Erklärungen, sondern eher in kleinen, aber in einer Diktatur wichtigen Details. Wenn in Peking eine neue Version der amtlichen „nationalen Karte Chinas“ herausgegeben wird, ist das mehr als nur ein Verwaltungsakt. An dieser Karte haben sich alle wichtigen Institutionen zu orientieren. Und diese Karte zeigt auch, welche Territorialansprüche Peking so hat. 2023 zeigte der amtliche Plan auch Territorialansprüche gegenüber Russland, wie rnd.de seinerzeit berichtete:
„In einer neuen Standardkarte markiert die Volksrepublik ihren Anspruch auf über 100 Quadratkilometer russischen Territoriums. Die Insel Bolschoi Ussurijski am nordöstlichen Zipfel des Landes erscheint in dem Dokument plötzlich als chinesisch.“
Dass Landstriche, die die Führung der Volksrepublik eigentlich für ihr Territorium hält, auf der Karte entsprechend dargestellt sind, ist nichts Neues. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Pekinger Führung Taiwan als einen ihr zustehenden Landesteil sieht. Auch Pekings Besitzansprüche über Teile des Südchinesischen Meers kennen alle Beobachter. Aber es ließ manch einen schon aufmerken, dass auch offene Gebietsansprüche gegenüber dem russischen Verbündeten so offen dargestellt werden. Wie kann das geschehen, ganz ohne lautstarken Protest aus Moskau? Oder ist der Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen im Westen da nur etwas entgangen?
Neu sind Chinas Ansprüche auf lange verlorenes Land in Russland nicht. Wie ein Artikel bei merkur.de im letzten Jahr erinnerte, hat Chinas Büro für Vermessung und Kartierung schon vor mehr als zwanzig Jahren angeordnet, dass auf offiziellen Karten mehrere russische Städte zwingend auch mit ihrem chinesischen Namen bezeichnet werden müssen – also beispielsweise hat Wladiwostok auch Haishenwai genannt zu werden. Die Anordnung sei auf ähnliche Weise seit 2022 wiederholt worden. Haishenwai verlor China zusammen mit weiteren östlichen Landstrichen infolge der beiden Opiumkriege Mitte des 19. Jahrhunderts an Russland. Im oben erwähnten Artikel heißt es:
„Westliche Länder, allen voran Großbritannien, zwangen damals das wirtschaftlich und technologisch völlig unterentwickelte chinesische Kaiserreich in mehreren Kriegen in die Knie. Die Qing-Dynastie musste mehrere Gebiete an die imperialistischen Mächte abtreten – so fiel etwa die Region um das heutige Hongkong an die Briten. Und das russische Zarenreich riss sich in Chinas Nordosten Gebiete von der dreifachen Größe Deutschlands unter den Nagel.“
Das ist für die meisten Deutschen sowohl in Zeit als auch in Raum sehr weit weg. Hier wissen bestimmt die wenigsten Menschen, dass Wladiwostok einst Haishenwai war, aber in China wird diese Erinnerung gepflegt, egal ob man offiziell gerade mit Russland verbündet ist oder nicht.
"Opfer einer territorialen Aggression"
Im März dieses Jahres hieß es in einem Pressebericht, dass Chinas Zensur, die normalerweise einen strengen Blick auf das Treiben in den sogenannten Sozialen Netzwerken wirft, gelegentliche nationale Empörung gegenüber den derzeit offiziell russischen Freunden durchaus zulässt:
„‚Russland ist ein Scheißland‘, wettert der Nutzer mit dem Namen Jisuanzhang und fordert: ‚Unterstützt die Ukraine!‘ Mehr als 5000 Likes gab es dafür auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu X. So viel Wut auf Russland bricht sich selten Bahn in Chinas streng zensierten sozialen Netzwerken.
Was den Weibo-Nutzer so erzürnte, ist aber nicht nur Russlands Rolle im Ukraine-Krieg. ‚Auch wir sind Opfer einer territorialen Aggression durch Russland‘, schreibt er: Das Nachbarland halte ‚bis heute mindestens 1,5 Millionen Quadratkilometer‘ chinesischen Staatsgebiets besetzt.
Posts wie dieser finden sich immer wieder auf Weibo. Nicht, weil Chinas Staatszensoren sich heimlich auf die Seite der Ukraine geschlagen hätten. Aber ein bisschen Kritik an Russland, gepaart mit einer Portion Nationalismus – das ist auch im China von Xi Jinping in Ordnung. Denn die Überzeugung, dass der große Nachbar im Norden Gebiete besetzt halte, die eigentlich chinesischen seien, ist weit verbreitet in China. Immer wieder fordern Nationalisten, Peking solle sich die gestohlenen Gebiete zurückholen.“
Wirtschaftlich ist Peking da bereits weit vorangeschritten. Die Bewohner von Russlands fernem Osten spüren längst die Übermacht der Chinesen. Chinesische Firmen sind präsent, die Rohstoffe aus der Region gehen vermehrt nach China, Chinesen wollen Land kaufen oder pachten – ihre wirtschaftliche Präsenz ist kaum zu übersehen. „In letzter Zeit sind Scharen chinesischer Landwirte in der Region aufgetaucht, die nach Ackerland suchen, in großem Stil mechanisierte Landwirtschaft betreiben und Sojabohnen und andere Feldfrüchte für den Export nach China ernten“, schrieb auch die japanische Wirtschaftszeitung Nikkei Asia schon im letzten Jahr.
"höchstwahrscheinlich irgendwann wieder Haishenwai"
Vor knapp zwei Jahren sicherte sich China den weitgehenden Zugriff auf den Hafen von Wladiwostok. Für dessen Sanierung und Ausbau wurden schon länger Investoren gesucht. Spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine blieben nur noch die Chinesen übrig. Jetzt können Waren aus Chinas Nordostprovinz Jilin darüber verschifft werden. Manch russischer Bewohner des Fernen Ostens soll schon bitter sagen, dass die Region jetzt nach und nach chinesisch werde, ohne dass Peking Soldaten schicken müsse.
Im vierten Kriegsjahr seit dem Einmarsch in die Ukraine ist Russland mehr denn je von China abhängig. Und Pekings Herrscher, dessen ist sich Wladimir Putin bestimmt gewiss, haben genau so wenig Skrupel wie die Herren im Kreml, die Abhängigkeit anderer gnadenlos zum eigenen Vorteil auszunutzen. Es wäre für Wladimir Putin daher schon von Nutzen, wenn er wieder eine Brücke nach Westen schlagen könnte.
Das hat dort natürlich nicht nur US-Präsident Donald Trump erkannt. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beispielsweise sagte schon im letzten Jahr: „Moskau verpfändet seine Zukunft an Peking“. Der Sicherheitsexperte Jan Kallberg habe bereits im Juli 2022 in einem Beitrag für die US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA) geschrieben:
„Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, kann China davon ausgehen, dass ihm seine alten Gebiete eines Tages in den Schoß fallen werden“ … „Vorerst kann Wladiwostok unter russischer Flagge weiterbestehen – in der Gewissheit, dass es eines Tages höchstwahrscheinlich wieder zu Haishenwai werden wird.“
Chinas Interessen sind klar: Einerseits soll der nördliche Nachbar gern als wirtschaftlich abhängiger und deshalb politisch loyaler Vasallenstaat seine Großmachtträume gegenüber dem Westen ausleben und seinen Osten aufgeben. Andererseits wünscht sich Peking das mit einem stabilen und berechenbaren Herrschaftssystem à la Putin in Moskau. Für dessen Machterhalt setzt sich Peking gern ein, solange es mit den eigenen Interessen harmoniert.
Wie tragfähig ist Trumps Roter Teppich?
Putin kann gegenüber Peking aktuell nur gute Miene zu diesem Spiel machen, obwohl er wahrscheinlich gern etwas gegen Russlands und damit auch seinen eigenen schleichenden Machtverlust im Fernen Osten täte.
Doch lieber verliert er „nur“ Russlands Osten als seine ganze Macht. Denn ohne einen Rückzug Putins vom Moskauer Thron schien bis vor ein paar Monaten keine Annäherung an den Westen denkbar. Bis Donald Trump ihm in Alaska den Roten Teppich ausrollte.
Der Genosse Putin, nicht unwesentlich geprägt vom sowjetischen Funktionärs-Apparat, bleibt zunächst misstrauisch, ob Trumps Roter Teppich tragfähig ist. Es gibt im Westen schließlich auch Politiker, die den Moskauer Herrscher lieber vor einem Kriegsverbrecher-Tribunal sähen. Das wird Putin um jeden Preis vermeiden wollen.
Dennoch ist die Aussicht, sich vielleicht mit amerikanischer Hilfe aus der Abhängigkeit von China ein wenig befreien zu können, für ihn reizvoll. Und im Ukraine-Krieg lässt sich für ihn derzeit womöglich auch nicht mehr gewinnen, als er zugleich in anderen Teilen seines Reiches ganz ohne Krieg verliert. Da käme Putin die Gelegenheit, den Krieg gesichtswahrend zu beenden, durchaus gelegen. Auch die Aussicht auf eine profitable Pendel-Diplomatie zwischen Peking und Washington statt eines einseitigen Kriegs gegen den Westen dürfte ihm verlockend erscheinen.
Donald Trump hat das erkannt und hat keine Skrupel, diesen Umstand zu nutzen. Deals mit Russland können wirtschaftlich vielversprechend sein, aber vor allem wird Chinas Macht dadurch gebremst. Ein Motiv, das für eine Kooperation der beiden ungleichen Partner hinreichend tragfähig sein kann. Trump scheint auch bereit, offiziell alles zu vergessen, was im Ukraine-Krieg geschehen ist. Hauptsache, er lässt sich beenden und steht Deals nicht mehr im Wege.
Man mag an dieser Entwicklung vieles bedauerlich finden, aber wenn das Blutvergießen in der Ost-Ukraine ein Ende findet, dann ist das ein Gewinn, trotz der Gewinner die man nicht gern auf dem Siegertreppchen sieht.
Und für den Westen ist es ebenfalls ein Gewinn, wenn ihm nicht ein Moskau-Pekinger Bündnis gegenüber steht, sondern man es wieder mit untereinander konkurrierenden Partnern zu tun hat.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

Herr Grimm - müsste nicht auch der Sachverhalt erwähnt werden, dass aktuell sich schon 25% des ukrainischen Ackerbodens in der Hand von US- Investoren befindet? Wie würden man nüchtern-sachlich so eine Tatsache benennen? Wäre die Bezeichnung "Neo-Kolonialismus" so verkehrt?
Wenn schon die große Geopolitik angesprochen werden soll: China wird die zukünftige alleinherrschenede Weltmacht werden. Denn sie hat das, was den was den "Insel"mächten UK und USA fehlt: See- und gleichzeitig Landmacht mit eigenen Bodenschätzen zu sein. UK musste als Seemacht den dreiviertel Erdball erobern und mit den kontinentalen Europäern "divide et impera" spielen, was zeitweise (Napolen, 1. Wk, 2. Wk) extrem aufwendig war. Die USA haben zwar Öl plus die Alaskabodenschätze, aber selbst das bekämpft der dortige Wokismus. Und nun hat der Westen während der letzten 30 Jahre aus nackter Geldgier heraus alle industrielle Macht freiwillig an China übergeben. China mit 1,4 Mrd. Einwohnern und dem absoluten Willen, zu einer Bildungsnation zu werden (es reicht, wenn 1 Promille der Chinesen = 1, 4 Mio Spitzenwissenschaftler und Ingenieure werden) ist dem Westen hoffnungslos überlegen, zumal im Westen (Schul-) Bildung und darin vor allem Leistung und Wettbewerb nicht zuletzt dank Migration als weitgehend überflüssig angesehen wird. Im Gegensatz zu den US-DemocRATS und vielen Republikanern hat Trump dies erkannt - und versucht, man muss wohl schon sagen verzweifelt, dagegen anzukämpfen.
Herr Grimm, "skrupellos" scheint eine Lieblingsvokabel von Ihnen zu sein, wenn es in Richtung Russland und China geht. Warum in die Ferne schweifen? Wir haben inländisch bereits genug mit Skrupellosigkeit zu tun. Ich sage nur: Friedrich Merz", "Robert Habeck" ""Olaf Scholz" et al- klingelt da was? Oder gibt's im WerteWesten nur intellektuell redliche Akteure? Wenn diese Pesonen in einem Paralleluniversum mal 25 Jahre an der Macht wären, hätten sie mehr Dreck am Stecken als Putin, garantiert!
Die Beziehung von Trump und Putin vergleiche ich mit einem Samenkorn, das gerade in die Erde gebracht wurde. Dagegen ist die Partnerschaft der Russen mit China ein Baum, der bereits Früchte abwirft. Und nochwas: Trump wird bald ausflippen, weil er von den Russen nicht das bekommt, was er braucht … um die Trophäe namens „Friedensnobelpreis“ einzuheimsen. Und dann stirbt das Samenkorn. Das war‘s.
Wie es um Wladiwostok bestellt ist, kann man auf Google Street View selbst sehen. Verrottende Wohnblocks aus den 1960ern, Schlaglöcher, Vororte mit Holzhäusern aus dem vorletzten Jahrhundert ohne feste Straßen. Dagegen ist mittlerweile jede chinesische Provinzstadt moderner. Nur eine Frage der Zeit, wann China das abgezwungene Amurgebiet wieder übernimmt.
Die USA, Russland und China sind Grossmächte. Und Grossmächte betreiben Grossmachtpolitik - sonst wären sie nie zur Grossmacht geworden. Dazu zählt auch das diplomatische Navigieren auf globalem Parkett. Man kann als USA durchaus sowohl mit Russland und(!) mit China sprechen - das typisch deutsche Freund-Feind-Denken führt zu nichts. Deutschland hat es da natürlich einfacher: es hat sich ökonomisch für nachhaltige Rezession entschieden und sich auf das Streben nach hochmoralischer Weltmeisterschaft fokussiert - und dies höchst undiplomatisch, weil oberlehrerhaft. Welches der vier genannten Länder mag die höchste Erfolgsquote aufweisen? Zumindest der betreffende Verlierer steht jedenfalls fest.
"Und für den Westen ist es ebenfalls ein Gewinn, wenn ihm nicht ein Moskau-Pekinger Bündnis gegenüber steht, sondern man es wieder mit untereinander konkurrierenden Partnern zu tun hat." Warum hat Herr Grimm diesen Satz nicht an den Anfang seiner Träumerei gestellt? Dann hätte ich mir das Lesen sparen können. Es muss eigentlich jedem einigermaßen intelligenten Menschen (die deutschen Außenminister der letzten Legislaturperoden zähle ich nicht dazu) klar sein, was Wang Yi mit seiner Aussage meinte: "Es ist nicht in unserem Interesse, dass Russland diesen Krieg verliert". Wenn ein sonst sehr höflicher chinesischer Diplomat zu seinem Gegenüber derart Klartext spricht, sollte das zu denken geben.