Peter Grimm / 21.08.2019 / 06:05 / Foto: Pixabay / 110 / Seite ausdrucken

Trittbrettfahrer der Revolution

Gestern wurde der Aufruf „Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“ veröffentlicht, dessen Unterzeichner mehrheitlich frühere DDR-Oppositionelle sind. Ist das nun nur einer unter vielen wohlfeilen Aufrufen, zu den anstehenden Landtagswahlen ja nicht die AfD zu wählen? Nein, denn es geht hier durchaus um mehr, als nur um billiges AfD-Abmeiern. Um das zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf eine interessante geschichtspolitische Debatte zu werfen, die es im Sommer 2019 über das Verständnis des Revolutionsherbstes 1989 gab.

Mit Slogans wie „Vollende die Wende“ oder dem Aufruf zur „Friedlichen Revolution mit dem Stimmzettel“ will die AfD offenbar so etwas wie 1989er Revolutionsromantik in ihren Wahlkampf bringen. Hubertus Knabe schrieb dazu unlängst auf Achgut.com:

„Folgt man der Nachrichtenredaktion der ARD, sind die Vergleiche der AfD „eine Frechheit“ und „ein Schlag ins Gesicht der Mutigen von 1989“ – so der aus Leipzig stammende Korrespondent Gábor Halász in den Tagesthemen. Auch dem „Faktenfinder“ der Tagesschau zufolge handelt es sich um „gezielte geschichtspolitische Verzerrungen“. Überdies stammten die Spitzenkandidaten in Brandenburg und Thüringen aus dem Westen – und könnten deshalb, so die Botschaft, in Sachen DDR gar nicht mitreden. Spiegelonline zeigt sich ähnlich empört über „die Umdeutung der Geschichte“ und beruft sich dabei auf einstige DDR-Bürgerrechtler, die „fassungslos“ darüber seien.

Wie so oft beim Umgang mit der AfD scheint vielen Journalisten der Frontalangriff die einzig angemessene Reaktion zu sein. Dabei übersehen sie nicht nur, dass sie der nationalkonservativen Partei damit mehr nutzen als schaden.“

Keine Frage, es gibt unzählige Beispiele für reflexartiges, undifferenziertes, überzogenes AfD-Bashing, das – wie richtig beschrieben – der Partei in der Regel mehr nutzt als schadet. Zudem wird leider zuweilen leichtfertig das Debattenklima vergiftet, weil inzwischen oft schon allein kritische Fragen auf heiklem Terrain, wie der Zuwanderungs- oder Finanzpolitik, umstandslos als AfD-Propaganda abgekanzelt werden, um sich ihnen nicht stellen zu müssen.

Der Unterschied zwischen Revolution und Wende

Doch die Empörung vieler früherer DDR-Oppositioneller an der Resterampen-Verwertung des Revolutions-Erbes ist echt und keine Tagesthemen-Erfindung. Sie lässt sich auch nicht umstandslos in den Reigen des reflexhaften AfD-Bashings einsortieren. Diese Kritik ist wohlbegründet, und die Kritiker wehren sich aktuell auch gegen andere Versuche, sich an Versatzstücken des Herbstes 1989 nach Gutdünken zu bedienen oder die Friedliche Revolution gleich gänzlich umzuinterpretieren. Insofern geht es nicht um ein exklusives Anprangern der AfD.

Ich gebe zu, ich muss mich hier etwas angestrengt um professionelle Distanz bemühen, denn ich gehörte vor mehr als 30 Jahren selbst zur DDR-Opposition. Und ich finde es – ganz höflich gesagt – anmaßend und unerträglich, wenn ein Björn Höcke, der 1989 noch Schüler am Rhein-Wied-Gymnasium im rheinischen Neuwied war, seinen Anhängern zuruft:

„Es fühlt sich schon wieder so an, wie in der DDR, liebe Freunde. Und dafür haben wir nicht die Friedliche Revolution gemacht, liebe Freunde, das wollen wir nie wieder erleben.“

Björn Höcke war aber noch an keiner Revolution beteiligt. Eine solche Aussage ist bestenfalls peinlich, ärgerlich und lächerlich. Lohnt deshalb die Aufregung?

Es wäre schön, jetzt einfach umstandslos „nein“ sagen zu können. Es wäre ebenfalls schön, das Wissen um die deutsche Zeitgeschichte wäre so verbreitet, dass die Wähler über einen Slogan wie „Vollende die Wende“ kopfschüttelnd lachen und den Machern erklären würden, dass sie damit das 1989er Vokabular des vorletzten SED-Chefs Egon Krenz übernommen haben. Der glaubte zeitweise, einem revolutionären Regime-Sturz noch durch eine von der Partei proklamierte „Wende“ entkommen zu können.

Auch der AfD-Plakat-Slogan „Friedliche Revolution mit dem Stimmzettel“ ist einigermaßen absurd, denn dort, wo sich Regierungen mit dem Stimmzettel stürzen lassen, kann man als Opposition genau daran arbeiten und braucht eben keine Revolution. Es mag sich ja dort, wo eine vormundschaftliche Atmosphäre kultiviert wird oder sich eifrige Meinungsbildner in Volkserziehung versuchen, manches Detail „wie DDR anfühlen“. Aber dass wir im Jahr 2019 in Verhältnissen wie in der SED-Diktatur leben würden, kann ja ernsthaft niemand behaupten.

Konkret reden, nicht in falschen Vergleichen

Muss man den unsinnigen Inhalt von AfD-Wahlwerbung deshalb wirklich so ernst nehmen? Wahlplakate bestechen schließlich parteiübergreifend gern mit äußerster intellektueller Schlichtheit und metaphorischen Missgeschicken. Auch wenn ich – im Unterschied zu vielen der AfD-Kritiker aus den Reihen der alten Oppositionsfreunde – die Stärke dieser Partei für ein Symptom und die Folge politischer Fehlentwicklungen und nicht für deren Ursache halte, sind solche Klarstellungen wichtig.

Denn es geht hierbei nicht allein um die AfD. Solche DDR-Vergleiche werden ja nicht nur von AfD-Wahlkampagnen-Planern in die Welt gesetzt, sondern die Partei konnte eine weiter verbreitete Stimmung aufgreifen. Und die entstand nicht anlasslos. Gerade deshalb ist es aber wichtig, durch gelegentlichen Einspruch dem Etablieren falscher Gleichsetzungen entgegenzuwirken.

Es wäre gut, man würde, statt seinen Unmut in falschen DDR-Vergleichen auszudrücken, konkret darüber sprechen, wie sehr Freiheit und Demokratie in diesem Lande gerade zu erodieren drohen, weil auf einigen elementaren Themenfeldern kaum noch eine offene und differenzierte Debatte stattfindet. Oder es wird mit manchen langjährig in der deutschen Debattenlandschaft heimischen Persönlichkeiten nicht mehr gesprochen, weil sie „falsche“ Ansichten haben und/oder im „falschen“ Umfeld publizieren (siehe beispielsweise der Umgang mit Chaim Noll durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung). Auf die – viel zu häufige und leider zunehmende – vormundschaftliche Attitüde, in der mit hochmoralischen Leitsätzen das sachliche Argumentieren für überflüssig erklärt wird, reagiert ein diktaturerfahrener Mensch womöglich sensibler. Es ist selbstverständlich unerlässlich, Alarm zu schlagen, wenn Freiheit und Demokratie gefährdet sind. Doch falsche Diktatur-Gleichnisse helfen nicht weiter.

Es gibt aber – wie gesagt – einen anderen Grund, warum man die Wortmeldungen verschiedener ehemaliger DDR-Oppositioneller und einiger Historiker nicht einfach ungesehen in die Ecke des routinierten AfD-Abmeierns stellen kann. Sie sind nämlich nur ein Teil einer seit einigen Monaten zu beobachtenden Auseinandersetzung um das Revolutions-Erbe. Dabei ging es bisher sowohl um die Geschichtspolitik der Linkspartei als auch um das grundsätzliche Infragestellen einer Bedeutung der DDR-Opposition für den Sturz des SED-Regimes. Da versuchten einige engagierte Debatten-Teilnehmer, der wahrscheinlich unvermeidbaren Verwertung der 1989er Revolution auf der geschichtspolitischen Resterampe etwas entgegen zu setzen. Und da erwehren sie sich Angriffen von ganz verschiedener Seite. Ihre Äußerungen sollte man deshalb nicht mit dem Blick aus der eigenen Wagenburg lesen, sondern möglichst unvoreingenommen.

Aneignungsversuche von rechts und links?

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk gehört zu den in allen Facetten der Debatte engagierten Akteuren und kann sowohl die AfD-Kampagne als auch die anderen Versuche, sich der 1989er Geschichte zu bemächtigen, entsprechend einordnen, wie hier in einem MDR-Interview:

„Wir leben in einer freien Gesellschaft, da dürfen wir erstmal alles, was vom Grundgesetz gedeckt ist. Das ist gut so. Dafür sind die Demonstrantinnen und Demonstranten 1989 auch auf die Straße gegangen. Gleichwohl ist es natürlich außerordentlich geschmacklos, was die AfD da macht.

Wir erleben zurzeit den Versuch von Rechts und von Links, sich die Friedliche Revolution anzueignen und umzudeuten. Die Linkspartei tut so, als ob sie die Wende mit eingeleitet hätte, verbunden mit dem Impetus, davor gewarnt zu haben, was alles kommen würde. Die AfD setzt die gesellschaftliche Situation in der DDR 1989 mit der heutigen in der Bundesrepublik nicht nur gleich, sondern suggeriert im Prinzip, es sei jetzt alles noch viel schlimmer.“

Das verweist auf die bemerkenswerte Debatte in den letzten Monaten. Der Beginn dieses Reigens war vielleicht der Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass der letzte SED-Vorsitzende, Gregor Gysi, bei einer Jubiläumsveranstaltung der Leipziger Philharmoniker zum 9. Oktober, dem 30. Jahrestag der entscheidenden Montagsdemonstration in Leipzig, als Ehrengast die Ansprache halten solle. Eigentlich ist das Ganze von vornherein ein kleiner Etikettenschwindel, denn die „Philharmonie Leipzig“ ist mitnichten ein renommierter Klangkörper, wie der Name suggeriert, sondern ein musizierender Verein, der auch nichts mit dem bekannten Leipziger Gewandhaus und seinem Orchester zu tun hat. Dennoch ist die Peterskirche ein bekannter Ort in der Stadt, und das Ansinnen, ausgerechnet mit Gregor Gysi den 9. Oktober zu feiern, rief Widerspruch hervor.

Hauptverantwortliche für die Katastrophe

Mehr als 800 Unterzeichner, darunter viele frühere DDR-Oppositionelle, äußerten sich in einem Offenen Brief. Darin hieß es:

„Wir können nicht glauben, dass die Geschichtsvergessenheit bereits so weit fortgeschritten ist, dass nun schon diejenigen zu Festreden eingeladen werden, die Revolution und Einheit mit aller Entschiedenheit zu verhindern suchten. Wir finden das zynisch und empörend. Offenbar ist es nötig, künftig noch entschiedener auf die Verbrechen und die historische Verantwortung der SED hinzuweisen. Das werden wir tun. Auch wenn das viele nicht hören wollen: Die SED ist nie aufgelöst worden, weil Rechtsanwalt Gysi und seine Partei nicht alles verlieren wollten, vor allem das große Vermögen der SED, aber auch politischen Einfluss, und das deshalb verhinderten. Das haben sie mehrfach vor Gericht selbst bestätigt. Nun wollen sie offenbar sogar noch im Nachhinein die Revolution für sich beanspruchen und gewinnen, für die nicht Gregor Gysi steht, sondern all jene, die die SED herausgefordert und entmachtet haben und zu denen wir uns zählen.“

Dieser Unmut wurde zwar in den Medien wahrgenommen, doch vom Festrede-Vorhaben wollten weder Philharmonie, Kirchgemeinde noch Gysi und Genossen lassen. Der letzte SED-Vorsitzende wird als „unser Ehrengast“ (Philharmonie Leipzig) am 9. Oktober auftreten. Für die Linkspartei scheinen solche Veranstaltungen mehr als nur eine geschichtsvergessene Provokation zu sein. Vielmehr – so konstatiert Kowalczuk in einem Beitrag für die taz – hat die Linkspartei ein klares geschichtspolitisches Ziel:

Sie versucht einzuflüstern, sie wäre selbst ein Motor der „Wende“, wie sie die Revolution nennt, gewesen. Gysi erzählt, seine Partei hätte die Mauer geöffnet, und die SED, dessen letzter Vorsitzender er war, hätte ganz und gar freiwillig für die Friedlichkeit der Revolution gesorgt. Wahrscheinlich glaubt nicht einmal Gysi selbst an dieses Märchen. Aber ihm geht es um etwas anderes, nämlich darum, historische Glaubwürdigkeit zu behalten, um sich und seine Partei als diejenigen hinzustellen, die vor den dramatischen sozialen, kulturellen und politischen Folgen gewarnt hätten. Das zu behaupten funktioniert nur, wenn Gysis Partei nicht als das wahrgenommen wird, was sie historisch war: die Hauptverantwortliche für die Katastrophe im Osten mit ihrer 40-jährigen Diktatur.“

Gerade in einer Zeit, in der sich die SED-Nachfolger darauf vorbereiten, mittelfristig in eine Bundesregierung einzutreten, ist ein solches Geschichtsbild natürlich hilfreich. Und bei jenen Westdeutschen, die mit dem Sturz der SED-Diktatur auch nach 30 Jahren noch fremdeln, scheint solcherlei Umdeutung gut anzukommen. Auch dafür liefert Kowalczuk eine nachvollziehbare Erklärung:

„Ich verstehe viele linke Westler, die ihren Phantomschmerz bis heute nicht beherrscht bekommen. Jahrelang träumten sie von einer Revolution: in ihrer „BRD“, in Nicaragua, sonst wo auf der Welt – und dann brach sie direkt vor der ungeliebten Haustür aus. Wie hätten sie auch darauf kommen sollen? Das Schmuddelkind DDR war ihnen so unsympathisch, dass sie nicht einmal den Blick vor die Haustür warfen, um zu schauen, um was für einen Dreck es sich da handelt. Wer keine Diktatur erkannte, konnte auch nicht mit einem Aufstand rechnen. Nicht die einstige Fehlwahrnehmung wird korrigiert, sondern einfach fortgeschrieben. Hier treffen sich so manche Westlinke und ostdeutsche Systemloyalisten übrigens, da Letztere ihre fehlende Systemopposition heute mit ganz ähnlichen historischen Konstruktionen „wissenschaftlich“ zu kompensieren suchen.“

Dabei geht es allerdings nicht nur um die Geschichtspolitik der Linken, denn gerade Kowalczuk hat sich in eine Debatte begeben, die in den Zeitungen von taz bis FAZ geführt wurde. Es gebe auch in der Mitte der Gesellschaft einen Kampf um die Deutung der Revolution, resümiert der Historiker. Dort würden vor allem die Zweifel daran kultiviert, ob es sich denn beim Sturz der SED-Diktatur überhaupt um eine Revolution gehandelt habe und ob nicht bislang die Rolle der früheren Oppositionellen gnadenlos überbewertet worden sei.

„Die Mär von den Oppositionellen“

Begonnen hat dieser Debattenstrang mit einem Beitrag des Religions- und Kultursoziologen Detlef Pollack in der FAZ. „In diesen Tagen wird uns wieder die Mär von den Oppositionellen in der DDR erzählt, deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe“, beginnt er, um gleich von Anfang an deutlich zu machen, dass es ihm um eine Umdeutung der Friedlichen Revolution geht. Es sei ein Aufstand der Normalbürger gewesen, ganz unabhängig von der Opposition, behauptete er.

Auch hier kam die erste Gegenrede von Kowalczuk, ebenfalls in der FAZ:

„Die Forschung ist sich, spätestens seit 2009, darin einig, dass der Umbruch in der DDR die wichtigsten Kriterien einer Revolution erfüllte. Es herrscht zudem Konsens, dass es keine tragfähigen monokausalen Erklärungen für Ursachen, Verlauf und Erfolg der Revolution gibt. Die von Pollack benannten Gründe spielten alle eine Rolle: Die neue Politik Gorbatschows. Die wirtschaftliche Krise in der DDR. Der schleichende Zerfall des Macht- und Staatsapparats. Die mächtige Ausreise- und Fluchtbewegung. Die Auflösung innerer Bindungskräfte in der DDR. Und nicht zuletzt die Erosion der SED: Immer mehr Mitglieder kündigten ihre Loyalität zur Parteiführung auf und setzten auf Reformen. Aber anders als Pollack behauptet, gibt es in der Forschung auch einen Konsens darüber, dass die Bürgerbewegungen von entscheidender Bedeutung für die Revolution waren. Warum? Sie waren diejenigen, die im Sommer und Frühherbst überhaupt erst viele Menschen mobilisierten und motivierten, sich zu engagieren, auf die Straße zu gehen. Sie boten ein Podium, eine Möglichkeit gemeinsamen Handelns, sie prägten Kultur und Sprache der Revolution und artikulierten ihre Forderungen. Das kommt bei Pollack überhaupt nicht vor.“

Pollacks Antwort darauf ist eine in Text gegossene Herablassung. Erst gegenüber Kowalczuks fachlicher Kompetenz:

„Die begrenzte Bedeutung der Opposition für die Demonstrationsbewegung in der DDR präziser herauszuarbeiten war das Anliegen meines Beitrags (F.A.Z. vom 12. Juli). Doch um historische Genauigkeit geht es Ilko-Sascha Kowalczuk nicht. Ihm kommt es auf Deutungshoheit an. Deshalb beschwört er den Konsens der Forschung seit dem Jahr 2009, dem Jahr, in dem sein Buch über das Ende der DDR erschien – einen Konsens, der allenfalls in einer Gruppe von Gleichgesinnten besteht, die sich in ihren Arbeiten der Aufgabe verschrieben haben, den Nimbus der DDR-Opposition hochzuhalten. Deshalb arbeitet er mit eindimensionalen Schwarz-Weiß-Schematisierungen – dort die Minorität der Wasserträger des Systems, zu denen Gregor Gysi zählt, auf der anderen Seite die kleine Schar der aufrechten Widerständler, deren Bedeutung es herauszustellen gilt, während für das „Volk“ kein Platz bleibt.“

Mit subtiler Verachtung schreibt er dann über die Opposition:

„Der Mut, die Ausdauer, die Entbehrungen der wenigen Oppositionellen, die es in der DDR gab, sollen nicht herabgesetzt werden. Im Gegenteil. Ihr oft über Jahre hinweg aufrechterhaltener Protest bedarf gerade wegen seiner weitgehenden Vergeblichkeit der Würdigung.“

Der leere Raum zwischen den Wagenburgen

Pollack ist mitnichten der Einzige, der solch eine Sicht auf die Friedliche Revolution etablieren möchte, aber er hat sich in den letzten Wochen am häufigsten dazu äußern können. (Eine Sammlung all der Debattenbeiträge aller Seiten finden Sie hier bei der Robert-Havemann-Gesellschaft). Kowalczuk durfte in der FAZ nichts mehr auf Pollack erwidern, doch andere Debattenbeiträge erschienen immerhin.

Nun ist es ja nicht neu, dass über zeitgeschichtliche Ereignisse gestritten wird. Auch wohlklingende 1989er Revolutionsversatzstücke wurden schon oft benutzt, um vollkommen andere Anliegen damit zu labeln. Wofür und wogegen gab es nicht in den vergangenen Jahrzehnten schon „Montagsdemonstrationen“. Ob gegen „Stuttgart21“ oder für die später in der Linkspartei aufgegangene WASG, an die sich kaum noch jemand erinnert.

Nun nach 30 Jahren war das Erbe von 1989 ein paar Wochen lang wieder Thema. Trotz der nahenden Gedenktage wird das sicher bald von den politischen Folgen des zu erwartenden AfD-Erfolgs bei den kommenden Landtagswahlen überlagert werden. Während neue Koalitionskonstellationen auf den politischen Markt kommen, werden viele Analysten ihrem Publikum wieder den Osten so erklären wollen, als seien AfD-Wähler eine östliche Eigenart, die im Westen kaum vorkommt. Gelegentliche rhetorische Ausflüge in die Geschichte werden dann vermutlich nur noch Platz für leichte Sprechblasen haben.

Für den Erfolg der AfD wird die „Wende vollenden“-Wahlkampagne unerheblich sein. Solange nicht allenthalben klar und kritisch auch über die wachsenden Probleme der Zuwanderungs- oder Währungspolitik gesprochen und über Konzepte zur Problemlösung offen gestritten wird, kann die AfD die Rolle als einzige Oppositionspartei und Tabubrecher spielen. Das ist keine neue Erklärung für ihre Erfolge, aber offenbar eine, die die anderen Parteien nach wie vor nicht hören wollen. Keine Angst, hier schleicht sich jetzt kein billiges Gleichnis ein. Aber diese Ignoranz ist leider nicht nur für die ausführenden Parteien ein gefährliches Spiel. Wie lange hält es eine Gesellschaft schadlos aus, wenn sich weite Teile in verschiedene Wagenburgen zurückziehen und der Platz dazwischen immer mehr verwaist?

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Heinrich Moser / 21.08.2019

Stimme aus Österreich: Ich dachte immer, daß in der DDR eine Diktatur des realen Sozialismus gestürzt wurde. Bin überrascht, dass das nur eine Wende innerhalb einer gesamtdeutschen sozialistischen Gesellschaft gewesen sein soll. Merkels Handlungen machen das aber durchaus glaubwürdig.

Frank Holdergrün / 21.08.2019

Wann immer sich die Linken einen Staat unter den Nagel reißen, geht dieser ins Desaster. Und genau deshalb ist heute alles viel schlimmer als in der DDR. Dort hat der Staat mehr schlecht als recht den Mangel verwaltet, heute quetschen die romantisierenden Linken&Gr;ünen&Gleichheitsaposel; eine funktionierende Wirtschaft ins Aus und zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch Migration inkompatibler Kulturen.

Jürgen Frohwein / 21.08.2019

Werter Herr Grimm, solange Diejenigen die sich den Staat zur Beute gemacht haben einen Gregor Gysi alias IM Notar als Festredner zum 30-jährigen der friedlichen Revolution in Leipzig einladen, kann ich den Slogans der AfD nur Recht geben, meine Meinung.

Gottfried Meier / 21.08.2019

Das ist alles schön und gut. Aber für den Erfolg sind überwiegend andere Gründe maßgeblich. Ohne das Versagen der etablierten Parteien: Stille Enteignung, Eurodebakel, verfehlte Migrationspolitik, irreale Energiewende, nicht einsatzbereite Armee, usw., hätte die AfD nicht diesen Zulauf. Dass der in den neuen Bundesländern stärker ist, erscheint mir erklärbar angesichts der Erfahrungen, die die Menschen in der DDR machten. Sie erkennen vielleicht eher, wenn etwas schief läuft und sind wohl auch sensibler und mißtrauischer.

Bernhard Freiling / 21.08.2019

“Aber dass wir im Jahr 2019 in Verhältnissen wie in der SED-Diktatur leben würden, kann ja ernsthaft niemand behaupten.” Wenn ich mir diesen einzelnen Satz heraus picke, heißt das nichts Anderes, als daß ich mit “dem Rest” ziemlich konform gehe. ;-) /// Natürlich ist die Bundesrepublik und die DDR nicht dasselbe. Sowenig wie Venezuela die Reinkarnation der DDR ist. Die DDR ist Vergangenheit. Die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten und der Zeitgeist haben sich geändert. Geblieben ist der sozialistische Gedanke der DDR. Und der feiert in diesem Land Urstände, daß es mich nur noch grausen kann. Das Netzwerk"denunziations"gesetz, die DSGVO, die tägliche Desinformation durch die ÖR und MSM, die Indoktrination schon unserer Kleinsten in der Schule und bei “logo”, “bento” und wie sie Alle heißen mögen, die “Handreichungen zum Erkennen rechtsradikaler Elternhäuser”, die öffentliche Führung von “schwarzen Listen” von Personen und Organisationen, die sich dem Zeitgeist verweigern, die Tolerierung der Aufstellung einer Einschüchterungs- und Gewalttruppe sowie deren teilweiser staatlicher Finanzierung/Unterstützung, die Verunglimpfung Andersmeinender, die bis zur Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben führen kann, unzählige weitere Beispiele, die hier aufzuführen zu weit führen würde: das wurde in der DDR gänzlich anders gehandhabt. Also ist das eher ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Aber die Ergebnisse scheinen mir unter dem Strich sehr vergleichbar. /// Nein, die Bundesrepublik wird kein Abklatsch oder Neuaufguß der DDR. Sie befindet sich auf dem Weg in ein völlig eigenständiges, an die Zeitläufe angepaßtes, Modell des Sozialismus. Dazu verurteilt, ebenso zu enden, wie alle anderen sozialistischen Versuche vor ihm. Da verblaßt m.E. der Streit darum, wer sich denn nun die “friedliche Revolution in der DDR”, ans Revers haften darf, kann oder will,  zum Nullum.

H. Hoffmeister / 21.08.2019

Herr Grimm, guter Beitrag zur Klärung. Ich nehme es der AfD allerdings nicht übel, die Metapher der “Wende” im Wahlkampf zu verwenden, denn diese ist im Sinne einer “Abwendung” von der herrschenden antidemokratischen, irrationalen und ideologiegesteuerten Politik der Altparteien mehr als nötig. Dass Höcke sich implizit zum Revolutionär erklärt ist natürlich lächerlich. Nur eines ist auch klar: für das, was in unserem Land zur Zeit grandios schief läuft, kann die AfD nicht verantwortlich sein.

Franck Royale / 21.08.2019

Wenn „sich weite Teile in verschiedene Wagenburgen zurückziehen und der Platz dazwischen immer mehr verwaist“ - gibt es irgendwann Krieg oder einen lachenden Dritten der diesen Platz ohne Anstrengung vereinnahmt. Letzteres passiert bereits vor unser aller Augen.

Stefan Zorn / 21.08.2019

Die “Revolution” begann in Polen und nicht in der DDR. Und die Öffnung des Ostens ganz allgemein verdanken wir Ronald Reagan, der denselben durch einen Rüstungswettkampf bis in den totalen finanziellen Ruin getrieben hat und dem damaligen Papst, der ein Pole war und über seine kirchlichen Verbindungen die Infrastruktur vor Ort für die oppositionellen Organisation zur Verfügung gestellt hat. Die “Revolution” konnte nur stattfinden, weil diese beiden Männer den kommunistischen Sauhaufen sturmreif geschossen hatten. Dass jetzt ein jeder, der einmal “wir sind das Volk” gerufen hat, sich wie Jeanne d’Arc persönlich fühlt, ist menschlich und normal.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com