Italien, das Land, „wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn“, versetzte bekanntlich nicht nur Goethe und Heine in wahre Glückstaumel von Entzücken und Lebenslust. Es gilt seit den Fünfzigerjahren als DAS Sehnsuchtsland der Deutschen. Doch nichts bleibt, wie es ist, längst hat der Discount-Tourismus dem italienischen Fremdenverkehr das Wasser abgegraben. Warum sich zwei Tage durch endlose Staus nach Italien quälen, wenn man für ein paar hundert Euro Hurghada all inclusive buchen kann?
Dass die oberitalienischen Seen, wie der Lago Maggiore, einst der sommerliche Tummelplatz der Reichen und Schönen waren, sieht man heute noch an den vielen Belle-Epoque-Villen rund herum, herrlich verspielten Jugendstilbauten, deren exzentrische Besitzer oft fantastische Gartenanlagen ihr eigen nannten, in denen botanische Raritäten wie Mammutbäume noch heute schwindelerregend in den Himmel ragen. Damals war die Sommerreise noch eine Unternehmung, die wochenlange Vorbereitung und sorgfältigste Planung erforderte. Schließlich verließ man Turin oder Mailand für acht Wochen, um sich mitsamt Kind und Kegel, Sack und Pack, Diener, Hausmädchen, Chauffeur und Nannies bis auf weiteres am Lago zu tummeln.
Aber auch heute muss es noch Tausende geben, die es sich leisten können, für mehrere Millionen Euro ein nobles Anwesen am See zu bauen und sich dort so gut wie nie aufzuhalten. Es erstaunt, wie wenig Leben in dicht bebauten Gebieten herrscht, und im Winter, wenn auch der letzte Tourist verschwunden ist, sind die Städte und Dörfer an den Seen nicht selten wie ausgestorben. Dann ist das Seengebiet wieder das, was es ist: Norditalienische Provinz.
Nicht nur Schlemmer, Opernfans und Sonnenanbeter kommen in Italien auf ihre Kosten. Es ist das ultimative El Dorado, das gelobte Land des Hobbyhistorikers. Wer ein Gefühl für Ewigkeit, für Kontinuität und die elementaren menschlichen Umtriebe finden will, der schlendere nur mal durch italienische Altstadtkerne wie die von Bergamo oder Como.
Jahrtausende an einem Ort
Man kann dies tun in der Gewissheit, dass hier schon Kelten und Römer, Langobarden und Hunnen, Guelfen und Ghibellinen exakt dasselbe taten. Die Geschäftsstraßen von einst haben im Laufe der Jahrtausende nicht einmal den Ort gewechselt. Gern stelle ich mir vor, wie in den Gässchen römische Bürger flanierten, die Auslagen der Stoff- und Gewürzhändler, der Ölverkäufer, der Fleischer, Bäcker und Weinhändler begutachteten, wie hier Kinder und Hunde lärmend umherschossen. Garküchen brutzelten verlockend, denn das Streetfood ist Jahrtausende alt. In den römischen Mietskasernen, den „Insulae“, gab es weder Bad noch Küche. Für die Körperpflege besuchte man die staatlichen Thermen, die Notdurft wurde in öffentlichen Bedürfnisanstalten erledigt, und zwar, wie ich einmal im israelischen Beit Shean herausfand, auf äußerst komfortablen Marmorsitzen. Öffentlich im wahrsten Sinne: Man war bei diesem Geschäft immer in Gesellschaft von Fremden, ebenso wie beim Essen.
Bestimmt gab es reichlich Fleisch vom Grill, mit Öl bestrichen und mit den lokalen Gewürzen wie Salbei und Rosmarin kräftig abgeschmeckt. Im Winter gab es sicher sättigende Eintöpfe und Suppen. Wenn man in italienischen Haushaltswarengeschäften die riesigen, sündhaft teuren Kupferkessel erblickt und die sichelartigen Gartenmacheten, hat man ohnehin das Gefühl, seit Asterix sei kein Tag vergangen.
Wie kann große Historie nur so selbstverständlich sein? Selbst das Straßennetz der Altstadt von Como ist immer noch in dem praktischen Schachbrettmuster angeordnet, das die Römer einst für ihr Militärlager Comum ganz funktional eingerichtet haben. Dreihundert Jahre alte Haustüren sind hier gar nichts Besonderes, und in den zahllosen Dörfern um die Seen stehen etliche, aus grauem Felsgestein errichtete romanische Kirchen, oft an die tausend Jahre alt, mit reizend roh zurechtgehauenen kleinen Säulchen geschmückt. Barocke Palazzi reihen sich an klassizistische Bauten des neunzehnten Jahrhunderts, die Brunnen aus dem Mittelalter spenden Wasser wie eh und je, das gotische Rathaus sieht aus, als sei es erst vor ein paar Monaten fertig geworden.
Die relative Armut, die in der Region zeitweilig herrschte, brachte hier am Ende Gewinn: Um Stadtmauern zu schleifen und stattdessen mehrspurige Straßen oder weitläufige Grünanlagen anzulegen, brauchte man zunächst Geld. Sehr viel Geld, bevor man Klöster schleifen und halbverfallene Palazzi abreißen konnte. War selbiges nichts vorhanden, war man eben gezwungen, sich weiterhin mit dem zu behelfen, was man hatte. Zum Beispiel mit dem Rathaus, das im elften Jahrhundert entstand. Oder der Apothekeneinrichtung, die um 1800 vom Gründer angeschafft wurde und heute noch so selbstverständlich benutzt wird, als sei das irgendwie ganz normal.
Start-Up von 1348
So wundert es auch nicht, dass die älteste Apotheke der Welt in Florenz zu finden ist. Die Farmacia di Santa Maria Novella begann ihr Start-Up mit dem Verkauf eines Rosenwassers im Schreckensjahr 1348. Dessen Heilwirkung auf die Pestkranken war allerdings eher symbolischer Natur. Was der Farmacia keinen Abbruch tat: Heute betrieben als Luxusparfümerie, in den Räumen des mittelalterlichen Klosters mit der – selbstverständlich! – original barocken Einrichtung, ist sie ein florierender Betrieb, dessen Produkte von unübertroffener Qualität sind. Ich selbst habe dort eine Patchouli-Seife für 16 € erstanden, die bis zum letzten Rest cremig aufschäumte und himmlischen Duft verbreitete. Auch kann sich die Farmacia rühmen, ein Duftwasser für Katharina de Medici kreiert zu haben, französische Königinmutter und Regisseurin des Blutbades an den Hugenotten in der infamen Bartholomäusnacht. Das Parfüm ist selbstverständlich immer noch im Sortiment, und die Franzosen nehmen es der blutigen Katharina heute noch übel, dass sie ihre Florentiner Köche mitbrachte und so den Grundstock für den großartigen Ruf der französischen Küche legte.
Natürlich hat all das viel mit Lokalpatriotismus und Traditionspflege zu tun, aber der Italiener ist durch und durch pragmatisch und sieht nicht ein, etwas zu verändern oder zu verbessern, was ohnehin perfekt ist. Das gilt insbesondere für die italienische Küche. So gut wie bei Mamma schmeckt sowieso nichts, und wer einst auszog, die Italiener das Kochen zu lehren, so wie Jamie Oliver, konnte sein blaues Wunder erleben. Bockbeinig beharren die Dorftraditionalisten auf die einzig wahre Zubereitungsart für Pasta mit Tomatensoße, alles andere ist Murks und gut für Touristen. Und so isst man seit Jahrhunderten im Norden Polenta und Risotto, in Venedig Trippa alla Venezia und Sarde in Saòr, in der Toskana die dicken Pici mit Sugo und in Neapel Spaghetti. Tradition ist in Italien kein aufgeblähter Selbstzweck, sondern Lebenskunst. Und eine so schöne noch dazu.