Die Angst vor einem realen Krieg zwischen den USA und Russland kriecht in das Bewusstsein der Deutschen und löst gefährliche Lähmungen im Denken und Handeln aus. Zunehmend versuchen die Qualitätsnachrichten, ein ausgewogenes Bild zwischen den Westmächten USA, Frankreich und Großbritannien auf der einen und Russland auf der anderen Seite zu verbreiten. Tendenz der Debatte: Da wird mit unbewiesenen Vorwürfen auf beiden Seiten am Rande einer Katastrophe hantiert und gleichzeitig schaukeln wir uns in eine Situation, die noch schlimmer ist als der kalte Krieg oder die Kuba-Krise.
Der Angriff der drei Westmächte auf syrische Einrichtungen zur Lagerung oder Herstellung von Chemiewaffen kann alles mögliche bedeuten, sicher aber keine Herausforderung Russlands oder gar die Verschiebung des militärischen Gewichtes im Syrienkonflikt. Er war für die einen eine Strafaktion, für andere ein symbolischer Akt, um Flagge zu zeigen gegen Chemiewaffen oder um sein Gewissen zu beruhigen, gegen dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den moralisch verkommenen Diktator Assad doch etwas unternommen zu haben.
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die Angst vor einem Krieg zwischen Russland und den Westmächten gehört zu den schlimmsten Szenarien, die wir uns nach Jahrzehnten eines Friedens in den meisten Teilen Europas vorstellen können. Aber diese verständliche Angst legt Gedankenstrukturen frei, die jeden Mord, ja jeden Massenmord rechtfertigen, solange man nicht selbst davon betroffen ist. Wobei die Geschichte über Jahrhunderte gezeigt hat, dass dieses „Kopf in den Sand stecken" nie funktioniert hat.
Bei keinem Satz applaudiert das Publikum in den Talkshows so viel, wenn Politiker oder Moderatoren sagen: „Wir müssen die Ursachen der Flüchtlingsströme stoppen". Damit wurden Kopfbilder erzeugt von Entwicklungshelfern, die in bitterarmen Staaten Berufsschulzentren bauen, Brunnen bohren, Schulen eröffnen et cetera. Dass dies in Staaten geschieht, in denen die herrschenden korrupten Cliquen schneller klauen, als die Entwicklungshilfegelder wirken können, dass dort Geburtenraten von bis zu 7 Kindern pro Frau jede zukünftige Wirtschaftsentwicklung zunichte machen, wird natürlich nicht erwähnt, das passt nicht in die Illusionswelt der akuten Flüchtlingskrise, von der Europa gerade betroffen ist.
Fluchtursachen bekämpfen? Aber bitte ohne Waffen...
Dass da aber im Nahen Osten die mörderischen Banden des Islamischen Staates hunderttausende zur Flucht zwangen, dass da in Damaskus die Verbrecherclique Assad ihr eigenes Land in Schutt und Asche legt, wird bei der Ursachenbekämpfung ausgeblendet. Zwar kommen aus dieser Region zurzeit die meisten Flüchtlinge nach Deutschland, aber wir bleiben von Anfang an lieber Zaungast. Wir tun fast gar nichts, um ernsthaft die Ursachen der Flüchtlingsströme zu beseitigen.
Am deutlichsten wird dies seit dem militärischen Eingreifen der Türkei in Syrien sichtbar: Die fällt in die Provinz Afrim in Nordsyrien ein und vertreibt dort Kurden und Jesiden, um Platz zu schaffen für sunnitische Araber. Und was macht die Bundesregierung, was macht der Westen? Die Staaten der NATO schweigen oder stottern so ein bisschen herum. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit ist fast noch schlimmer als die eigentliche Kriegshandlung.
Jeder, der es schafft, aus diesem von den Türken eroberten Gebiet nach Deutschland zu kommen, hat meines Erachtens ein Recht auf Asyl – solange er nicht Kämpfer irgendeiner der vielen islamistischen Gruppen war. Und schon sind wir mittendrin im nahöstlichen Schlammassel, aus dem wir uns so gerne vornehm heraushalten möchten. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Überfälle tolerieren und uns mit ein paar Friedensappellen davonstehlen, oder ob wir die laut verkündete Doktrin: „Wir werden die Ursachen der Flüchtlingsströme bekämpfen" auch dort durchsetzen, wo dies nur durch militärisches Eingreifen möglich ist.
Nun wissen wir alle, dass die Bundeswehr zurzeit eher einer Geisterarmee gleicht als eine militärische Einrichtung, mit der wir irgendjemand erschrecken könnten. Was Deutschland aber gerade im Falle der Türkei anstoßen könnte, wäre eine konsequente Ächtung des Regimes Erdogans mit wirtschaftlichen Sanktionen. Dazu Beispiele: Einreiseverbot der Mitglieder der Erdogan-Partei, Auftrittsverbot von Erdogans AKP-Partei in Deutschland, Abbruch aller Beziehungen zur Religionsbehörde DITIB et cetera. Darüber hinaus ist eine Diskussion nötig, ob ein Staat wie Erdogans Türkei noch Mitglied in der NATO sein kann – es sei denn, die NATO versteht sich ausschließlich als antirussisches Militärbündnis ohne weltanschauliche Grundwerte.
Je gewalttätiger, je siegreicher
Deutlicher noch als im Verhältnis mit der Türkei muss sich die Bundesregierung entscheiden, wo sie unser Land in der Auseinandersetzung mit Russland positionieren will. Wenn je der Spruch: „Gewalt ist keine Lösung" deutlicher ad absurdum geführt wurde wie zurzeit mit der russischen Einmischung in Syrien, dann gehört dazu mehr als zynische Blindheit oder grenzenlose Menschenverachtung. Rohe Gewalt entscheidet, was in Zukunft aus der Region wird. Das Gemetzel in Syrien dauert mittlerweile mehr als 7 Jahre und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Opfer sind die Menschen, die Täter sind Strategen, denen es entweder um ihren regionalen Einfluss geht, wie dem Iran und Russland, oder um die Macht, sein Leben im Luxus weiter genießen zu können, wie dem Assad-Clan. Angeheizt wird das Morden noch von religiösen Eiferern, die jede Hemmung beim Töten verloren haben.
Über Lösungen in der Syrienfrage wird diskutiert, als ob es dort nicht um hunderttausende Tote ginge, um Millionen Vertriebene, um den Einsatz aller nur denkbarer Vernichtungsstrategien, Giftgase eingeschlossen. Und diese Vernichtung von Menschen wirft natürlich die Frage auf, für was die Vereinten Nationen überhaupt noch da sind. Im Kalten Krieg spielten sie die Rolle einer Institution, in der der Ost-West-Gegensatz verbal ausgetragen wurde. Und heute? Ist es nur noch die Blockade zwischen den USA und Russland um eine Vorherrschaft? Aber Vorherrschaft über was?
Russland ist als Staat so unattraktiv, wie ein Staat nur sein kann. Korrupt, ohne Rechtssicherheit, ohne soziale Kompetenz, dafür aber gekennzeichnet von einem Brutalokapitalismus, in dem Multimilliardäre von der Gunst des Neumilliardärs Putin leben. Russland hat auch ein Einwanderungsproblem. Die Geburtenrate ist sehr niedrig und die Bevölkerung schrumpft. Aber niemand mit einer qualifizierten Ausbildung kommt. Die USA sind trotz Trump immer noch ein Magnet, der Millionen Menschen aus aller Welt anzieht, vor allem aus Mittel- und Südamerika. Auch militärisch ist Russland isoliert, hat keine Verbündeten mehr. Im Gegensatz zu den USA. Trotz Trump kann sich Amerika auf seine traditionellen Freunde verlassen, voran Großbritannien, Frankreich und Australien. Im Ernstfall auch auf die Skandinavier und Osteuropäer. Dänen und Niederländer flogen zum Beispiel Angriffe gegen den IS.
Und wir Deutschen? Wenn die Bundeskanzlerin verkündet, dass sich Deutschland nicht an militärischen Einsätzen gegen das Assadregime beteilige, dann solle sie auch in Zukunft vermeiden, den Satz zu wiederholen: „Wir wollen die Ursachen der Flüchtlingswellen bekämpfen." Und: „Gewalt ist keine Lösung". Die Bekämpfung des mörderischen Assadregims überlässt sie anderen. Und damit hat sie die Unterstützung der meisten Deutschen. Doch während Merkel vielleicht dazu bereit wäre, wieder einige hunderttausend Flüchtlinge aus den zerbombten Städten Syriens aufzunehmen, will das die überwiegende Mehrheit der Deutschen ganz gewiss auch nicht.
Deutschland: Weltmacht für moralische Sprüche
Wir sollten uns erst einmal entspannen, meinte der linke Politiker Jan von Aken in der Talkshow bei Anne Will. „Entspannt" beim Massenschlachten. Zynischer geht es kaum noch. Aber er hat auch einen Vorschlag: Bei dem Einfluss, den Deutschland in Moskau und Washington genießt, sollte es endlich aktiv werden und die beiden Großmächte an den Verhandlungstisch bringen. Da paart sich dann Zynismus mit Größenwahn. Im Nahen Osten bestimmt zurzeit die Gewaltbereitschaft. Das wird international auch anerkannt, selbst von der Bundesregierung. Denn die Erkenntnis aller lautet: Ohne Russland gibt es keine Lösung. Und Russland setzt auf Gewalt. Deutschland ist dagegen Weltmacht für moralische Aufrufe. Die retten aber in Syrien kein einziges Menschenleben.
Die neueste Diskussion über den Einsatz von Giftgas in Syrien durch das Assadregime fällt zusammen mit dem Giftgasanschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia in Salisbury. Die Sympathie für Geheimdienstagenten hält sich gewöhnlich in Grenzen. Umso verwirrender ist das, was da in einem beschaulichen Städtchen in Südengland passierte. Die Londoner Regierung machte schnell Russland und sogar Präsident Putin persönlich für diese Untat verantwortlich.
28 Staaten haben sich mit Großbritannien solidarisch erklärt und russische Diplomaten ausgewiesen. Das hat faktisch sicherlich nicht viel zu bedeuten, aber es zeigt, wie isoliert Russland mittlerweile ist. Die Ukraine, Moldawien, Albanien, Mazedonien und alle baltischen Staaten fühlen sich von den USA und dem Westen immer noch eher beschützt, als von einer Freundschaft mit Russland. Damit wurde durch die britische Giftgasaffäre deutlich, wie beschädigt das Ansehen Putins ist. Diese diplomatische Niederlage ist sicher wirkungsvoller als mancher wirtschaftlicher Sanktionsbeschluss.
Parallel zum Krieg in Syrien tobt seither ein Krieg der Worte. Die Beschuldigung Londons, dass Russland verantwortlich sei, trifft Putin und seine Regierung offensichtlich ziemlich unerwartet. Außer bei den unerschütterlichen Russlandverstehern ist der Kreml isoliert. Alle Versuche sich reinzuwaschen und sogar die Schuld auf Großbritannien umzulenken, scheitern, weil Moskau gleichzeitig alle Aufklärungsversuche behindert. Was würde dagegen sprechen, die Internationale Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW mit einem umfangreichen Mandat auszustatten, um im Gebiet, in dem Giftgas eingesetzt worden sein soll, alles untersuchen zu können und auch den Schuldigen benennen zu dürfen? Genau das macht Moskau nicht und kann damit vielleicht die eigene Bevölkerung manipulieren, den größten Teil des Rests der Welt aber nicht.
Die lange Liste russischer Lügen
Die Reaktion Londons und die erstaunliche Solidarität von 28 Staaten wäre sicher nicht so schnell und umfangreich ausgefallen, hätte sich Russland nicht bei seinen dreisten Lügen mehrfach erwischen lassen oder durch sein Verwirrspiel das Misstrauensfass zum Überlaufen gebracht. Deutlicher als bei dem Giftanschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter Julia ist die Sachlage beim Attentat auf Alexander Litwinenko mit dem radioaktiven Polonium-Isotop 210. Alle Indizien führen zu den russischen Agenten Andrej Lugowoi und Dimitri Kotun. Sie konnten Großbritannien vor ihrer Verhaftung verlassen und wurden von Russland weder ausgeliefert noch verhört. Im Gegenteil: Andrej Lugowoi sitzt heute im russischen Parlament als Abgeordneter der nationalistischen LDPR und wurde 2015 von Putin mit einem Verdienstorden ausgezeichnet.
Bei der Annexion der Krim log Putin persönlich so unverblümt, dass selbst seinen internationalen Hofsängern nichts anderes übrig blieb, als von einer Verletzung des Völkerrechts zu reden. Von den „Männern in Grün" erzählte Putin, die Kleidung trugen, die es in jedem Supermarkt zu kaufen gäbe. Als sich diese nicht länger als Soldaten der russischen Armee tarnen ließen, gab er zu, gelogen zu haben – aber es sei eine Notlüge gewesen, um die Menschen auf der Krim in ihr ersehntes Russland zu verhelfen. Mit einer getürkten Wahl ließ er sich das bestätigen.
Ähnlich war es dann in der Ostukraine, wo angeblich Armeeangehörige ihre Waffen mit in den Urlaub genommen hätten und freiwillig den unterdrückten russlandaffinen Ukrainern geholfen hätten, den Angriff der Neofaschisten abzuwehren. Irgendwann fühlte sich Moskau dann stark genug zuzugeben, dass es sich um reguläre russische Einheiten handelte.
Leugnen, Verwirrung stiften, unabhängige Aufklärer behindern, war auch die Taktik, um den Abschuss einer zivilen Boeing der malaysischen Fluggesellschaft MH mit 289 Toten zu vernebeln. Dazu Cyberattacken, Behinderung bei der Aufklärung von früheren Giftgasvorfällen in Syrien und sichtbar verlogener Berichte in den russischen Medien haben Putin und sein Herrschaftssystem immer mehr in die Isolierung getrieben. Und umso mehr er sich eingekreist fühlt, umso mehr giert er nach internationaler Beachtung.
Die Langzeitwirkung von Lügen
So ist er sich auch nicht schade genug, mit einem iranischen Religionsmachthaber (mit der zweithöchsten Hinrichtungszahl der Welt) und einem türkischen Religionspotentaten zu treffen, um dabei gemeinsam ihre nächsten Kriegsfeldzüge zu koordinieren. Eines hat er ja mit dem Türken Erdogan gemeinsam: Beide sind, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, zu Milliardären geworden. Bei allem, was der Westen unternimmt, vergisst er offenbar, dass es diesen Potentaten nicht zuletzt um sich selbst und ihren Clan geht. Das trifft auch auf den Syrer Assad zu.
Diese Lügenkonstrukte werden von den Putinfreunden gerne damit entschuldigt, dass der Westen auch nicht besser sei. Schließlich hätten die USA auch die UNO belogen und gefälschte Dokumente über die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins vorgelegt, mit denen sie dann den Krieg gegen den Irak gerechtfertigt hätten. Leider stimmt diese Geschichte. Die Glaubwürdigkeit der USA ist damit nachhaltig erschüttert.
Doch Moskau scheint daraus die falschen Lehren zu ziehen: Statt zu erkennen, wie langfristig Lügen dem Lügner schaden, glaubt der Kreml offenbar, dass sich die Völkergemeinschaft mit solchen Tricks abfindet. Tut sie aber nicht, sondern, wie jetzt Putin erfahren muss, gilt eher das deutsche Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Wobei Russland bisher seine Lügen durch weitere Vertuschungen zu tarnen versucht.
Natürlich wäre es auch sympathischer, wenn der Scharfmacher der Auseinandersetzung, der britische Außenminister Boris Johnson, jetzt, wo er Solidarität einforderte, auch erkannt hätte, dass seine verlogene Brexitkampagne dem Westen sehr geschadet hat. Und natürlich wäre es angenehmer, wenn in Washington nicht ein twitternder Egomane Präsident wäre. Die Achse USA-Frankreich-Großbritannien hat trotzdem wieder einmal gehalten. Das sollte für Putin die eigentliche Lektion sein: Abgesehen von den jeweiligen Machtverhältnissen in Washington, Paris und London: Diese Staaten werden immer zusammenhalten, sollte es zu militärischen Aktionen kommen.
Morgen lesen Sie im zweiten Teil dieses Beitrages: Die Russland-Versteher und ihre Argumente