Das Online-Magazin "telepolis" säubert seine Vergangenheit. Was auch immer dahinter steckt: So öffnet man der Geschichtsklitterung Tür und Tor. Sollen die Zeugnisse des grassierenden Wahnsinns beseitigt werden? Und was kann man dagegen tun?
Der Säuberungsfuror hierzulande greift schon länger nach Büchern der Weltliteratur, die in Wort und Bild den empfindlichen Gemütern der heutigen Zeit nicht Sorge tragen. Gut, bislang sehen wir noch keine Scheiterhaufen brennen. Aber bei Pippi Langstrumpf oder Huckleberry Finn ist nachgearbeitet worden: Da gibt es keinen Negerkönig mehr, sondern einen Südseeherrscher. Und der amerikanische Verlag hat das 1884 erschienene Buch von Mark Twain von den Worten „Nigger“ und „Injun“ befreit, um niemandem weh zu tun. Zur Not werden auch gern Warnungen vorausgeschickt: Dieses Buch könnte Sie verletzen! Nicht weil Sex drin vorkommt, sondern Prügelszenen.
Bei solcherlei behütetem Lesen möchte man doch am liebsten mit einem Buch werfen. Das ist ja das Schöne an Büchern, dass sie viel aushalten und dauerhaft sind. In manchen Haushalten stehen noch unfromme Erstausgaben herum, bitte aufheben, die sind demnächst Gold wert. Allerdings sind wohl nur Weltbestseller von nachträglicher Korrektur betroffen, bei anderen Werken lohnt sich eine Neuauflage nicht. Neue Bücher aber kommen gewiss ohne Zigeunergulasch und Eskimos aus, gell, liebe Autoren, die ihr womöglich gar beflissen gendert? (Das wird eure Werke in wenigen Jahren noch unverkäuflicher machen, als sie jetzt schon sind.)
Bücherverbrennungen sind nicht mehr en vogue, aber die Erinnerung lässt sich längst auf anderem Weg auslöschen, nicht nur per KI-bearbeiteten Fotos oder Videos. Bei allen E-Medien ist es einfach, sie regelmäßig dem Zeitgeist gemäß zu säubern.
„Stalinistische Cancel Culture“
Man stelle sich vor: Die Achse des Guten entzieht zunächst alle Beiträge dem Zugriff, die vor 2021 erschienen sind, also „historischen“ Charakter haben. Alles, was danach erschien, hat Gütesiegel, denn „diese Texte werden von der aktuellen Chefredaktion verantwortet und entsprechen den journalistischen Ansprüchen, die wir im redaktionellen Leitbild im Jahr 2022 festgeschrieben haben.“ Ältere Texte wurden Anfang Dezember 2024 zunächst aus dem Archiv genommen, da für deren Qualität nicht pauschal garantiert werden kann. Sie werde man allerdings – „soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Von dieser „Qualitätsoffensive“ sind offenbar mehr als 50 000 Texte betroffen.
Sie dürfen, geschätzte Leser, jetzt Luft holen, falls sie Ihnen kurz weggeblieben ist: das hat natürlich nicht die Redaktion der „Achse des Guten“ geschrieben respektive angekündigt, sondern das bekannte Online-Magazin Telepolis, 1996 von Florian Rötzer gegründet, ein Pionier der Online-Magazine. Und zu verantworten hat diese Aktion der seit 2021 regierende Chefredakteur Harald Neuber, der bereits im Februar allen vor 2021 erschienenen Artikeln einen „Disclaimer“ vorangestellt hat, wonach diese Texte „möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion“ entsprächen.
Entsprechend sauer ist Gründer Florian Rötzer. Er bescheinigt Telepolis „stalinistische Cancel Culture“, man lösche „fast 25 Jahre Geschichte unter anderem des Internets, um sich dem Mainstream unkritisch und marktkonform anzupassen“. Das Magazin wolle „Geschichte korrigieren oder verfälschen.“
„Untergang eines Magazins“
Was steckt dahinter? Einer der früheren Mitarbeiter vermutet im onlinemagazin "untergrundblättle" gar ein „Linkspartei-Racket um Wagenknecht, Dehm & co., das den Laden übernimmt, ihn von radikaler Kritik säubert und langsam auf eine opportunistische und rechtsoffen-populistische Wagenknecht-Linie bringt.“ Mag sein. Oder auch nicht, wir wollen uns das nicht zu eigen machen.
Doch welches journalistische Selbstverständnis zeigt sich, wenn ein neuer Chefredakteur ankündigt, alte Texte nicht nur nach heutigem „Mehrwert“ zu beurteilen, sondern sie sogar zu „überarbeiten“? Das muss sich kein Autor irgendwo gefallen lassen, ihm bleiben die Rechte an seinem Text, sofern er sie nicht abgetreten hat. Man kann den Telepolis-Autoren nur raten, sämtliche Texte zurückzuziehen und auf einer neuen Plattform unterzubringen.
Marcus Klöckner, lange Zeit Autor des Magazins, erklärte gegenüber Multipolar, Telepolis habe „über zwei Jahrzehnte im positivsten Sinne ein Stück deutsche Mediengeschichte geschrieben“, nun jedoch sei der „Untergang eines Magazins“ zu erleben, „dessen Wurzeln abgeschlagen werden“. Geschichte korrigieren. Darum geht es. Erinnerung löschen. Lernprozesse verbergen.
Vielleicht mal bei Musk nachfragen
Bislang musste man sich davor fürchten, dass die Regierung und ihre Handlanger ins Internet eingreifen und den alternativen Onlinemedien das Wasser abgraben könnten, es soll schließlich nicht jeder sagen und schreiben dürfen, was ihm so einfällt. Das muss „moderiert“ werden! Das erst ist Meinungsfreiheit.
Und überhaupt: Die öffentlich-rechtlichen Medien reichen doch völlig aus, oder? Die werden mit Zwangsabgaben der Bürger gefüttert und manch „Qualitäts“-Zeitung wird mit regierungsamtlichen Anzeigenaktionen am Leben gehalten. Die alternativen Medien hingegen leben überwiegend von freiwilligen Spenden oder Werbeeinnahmen, denen rückt man am besten mit Kontokündigungen und dem Vergraulen von Werbekunden auf den Pelz. Die Achse des Guten, Tichys Einblick, Kontrafunk können von solchen Versuchen lang und breit erzählen.
Bei Telepolis gelingt das Tilgen von Erinnerung möglicherweise per feindlicher Übernahme. Was hilft? Den guten alten Speicherort Buch wiederbeleben? Oder – ich kenne mich da nicht aus, aber – wäre es vielleicht hilfreich, wir hätten einen elektronischen Speicherort für alle alternativen Medien, der verhindert, dass im Nachhinein korrigiert oder zensiert werden kann? Vielleicht mal bei Musk nachfragen. Das wäre ein weiteres Projekt für seine Marsmission.
Hinweis der Redaktion: Die Achse des Guten arbeitet seit Jahren an einer gedruckten Jubiläums-Gesamtausgabe von in den vergangenen 20 Jahren ihres Bestehens erschienen Beiträgen. Wir sichern damit unseren Journalismus vor dem Vergessen. Dieses Mammut-Werk soll in Bibliotheken und von privaten Unterstützern für die Nachwelt und künftige Historiker aufbewahrt und gesichert werden. Wir wollen der Geschichtklitterung nicht das Feld überlassen.
Dr. Cora Stephan ist Publizistin und Schriftstellerin. Viele ihrer Romane und Sachbücher wurden Bestseller. Ihr aktueller Roman heißt „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“.