Cora Stephan / 12.12.2024 / 10:00 / Foto: K.I / 34 / Seite ausdrucken

Toxische Weis(s)heit: Wird die online-Vergangenheit getilgt? 

Das Online-Magazin "telepolis" säubert seine Vergangenheit. Was auch immer dahinter steckt: So öffnet man der Geschichtsklitterung Tür und Tor. Sollen die Zeugnisse des grassierenden Wahnsinns beseitigt werden? Und was kann man dagegen tun?

Der Säuberungsfuror hierzulande greift schon länger nach Büchern der Weltliteratur, die in Wort und Bild den empfindlichen Gemütern der heutigen Zeit nicht Sorge tragen. Gut, bislang sehen wir noch keine Scheiterhaufen brennen. Aber bei Pippi Langstrumpf oder Huckleberry Finn ist nachgearbeitet worden: Da gibt es keinen Negerkönig mehr, sondern einen Südseeherrscher. Und der amerikanische Verlag hat das 1884 erschienene Buch von Mark Twain von den Worten „Nigger“ und „Injun“ befreit, um niemandem weh zu tun. Zur Not werden auch gern Warnungen vorausgeschickt: Dieses Buch könnte Sie verletzen! Nicht weil Sex drin vorkommt, sondern Prügelszenen. 

Bei solcherlei behütetem Lesen möchte man doch am liebsten mit einem Buch werfen. Das ist ja das Schöne an Büchern, dass sie viel aushalten und dauerhaft sind. In manchen Haushalten stehen noch unfromme Erstausgaben herum, bitte aufheben, die sind demnächst Gold wert. Allerdings sind wohl nur Weltbestseller von nachträglicher Korrektur betroffen, bei anderen Werken lohnt sich eine Neuauflage nicht. Neue Bücher aber kommen gewiss ohne Zigeunergulasch und Eskimos aus, gell, liebe Autoren, die ihr womöglich gar beflissen gendert? (Das wird eure Werke in wenigen Jahren noch unverkäuflicher machen, als sie jetzt schon sind.)

Bücherverbrennungen sind nicht mehr en vogue, aber die Erinnerung lässt sich längst auf anderem Weg auslöschen, nicht nur per KI-bearbeiteten Fotos oder Videos. Bei allen E-Medien ist es einfach, sie regelmäßig dem Zeitgeist gemäß zu säubern. 

„Stalinistische Cancel Culture“

Man stelle sich vor: Die Achse des Guten entzieht zunächst alle Beiträge dem Zugriff, die vor 2021 erschienen sind, also „historischen“ Charakter haben. Alles, was danach erschien, hat Gütesiegel, denn „diese Texte werden von der aktuellen Chefredaktion verantwortet und entsprechen den journalistischen Ansprüchen, die wir im redaktionellen Leitbild im Jahr 2022 festgeschrieben haben.“ Ältere Texte wurden Anfang Dezember 2024 zunächst aus dem Archiv genommen, da für deren Qualität nicht pauschal garantiert werden kann. Sie werde man allerdings – „soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Von dieser „Qualitätsoffensive“ sind offenbar mehr als 50 000 Texte betroffen.

Sie dürfen, geschätzte Leser, jetzt Luft holen, falls sie Ihnen kurz weggeblieben ist: das hat natürlich nicht die Redaktion der „Achse des Guten“ geschrieben respektive angekündigt, sondern das bekannte Online-Magazin Telepolis,  1996 von Florian Rötzer gegründet, ein Pionier der Online-Magazine. Und zu verantworten hat diese Aktion der seit 2021 regierende Chefredakteur Harald Neuber, der bereits im Februar allen vor 2021 erschienenen Artikeln einen „Disclaimer“ vorangestellt hat, wonach diese Texte „möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion“ entsprächen. 

Entsprechend sauer ist Gründer Florian Rötzer. Er bescheinigt Telepolis „stalinistische Cancel Culture“, man lösche „fast 25 Jahre Geschichte unter anderem des Internets, um sich dem Mainstream unkritisch und marktkonform anzupassen“. Das Magazin wolle „Geschichte korrigieren oder verfälschen.“ 

„Untergang eines Magazins“

Was steckt dahinter? Einer der früheren Mitarbeiter vermutet im onlinemagazin "untergrundblättle" gar ein „Linkspartei-Racket um Wagenknecht, Dehm & co., das den Laden übernimmt, ihn von radikaler Kritik säubert und langsam auf eine opportunistische und rechtsoffen-populistische Wagenknecht-Linie bringt.“ Mag sein. Oder auch nicht, wir wollen uns das nicht zu eigen machen.

Doch welches journalistische Selbstverständnis zeigt sich, wenn ein neuer Chefredakteur ankündigt, alte Texte nicht nur nach heutigem „Mehrwert“ zu beurteilen, sondern sie sogar zu „überarbeiten“? Das muss sich kein Autor irgendwo gefallen lassen, ihm bleiben die Rechte an seinem Text, sofern er sie nicht abgetreten hat. Man kann den Telepolis-Autoren nur raten, sämtliche Texte zurückzuziehen und auf einer neuen Plattform unterzubringen. 

Marcus Klöckner, lange Zeit Autor des Magazins, erklärte gegenüber Multipolar, Telepolis habe „über zwei Jahrzehnte im positivsten Sinne ein Stück deutsche Mediengeschichte geschrieben“, nun jedoch sei der „Untergang eines Magazins“ zu erleben, „dessen Wurzeln abgeschlagen werden“. Geschichte korrigieren. Darum geht es. Erinnerung löschen. Lernprozesse verbergen. 

Vielleicht mal bei Musk nachfragen

Bislang musste man sich davor fürchten, dass die Regierung und ihre Handlanger ins Internet eingreifen und den alternativen Onlinemedien das Wasser abgraben könnten, es soll schließlich nicht jeder sagen und schreiben dürfen, was ihm so einfällt. Das muss „moderiert“ werden! Das erst ist Meinungsfreiheit.

Und überhaupt: Die öffentlich-rechtlichen Medien reichen doch völlig aus, oder? Die werden mit Zwangsabgaben der Bürger gefüttert und manch „Qualitäts“-Zeitung wird mit regierungsamtlichen Anzeigenaktionen am Leben gehalten. Die alternativen Medien hingegen leben überwiegend von freiwilligen Spenden oder Werbeeinnahmen, denen rückt man am besten mit Kontokündigungen und dem Vergraulen von Werbekunden auf den Pelz. Die Achse des Guten, Tichys Einblick, Kontrafunk können von solchen Versuchen lang und breit erzählen.

Bei Telepolis gelingt das Tilgen von Erinnerung möglicherweise per feindlicher Übernahme. Was hilft? Den guten alten Speicherort Buch wiederbeleben? Oder – ich kenne mich da nicht aus, aber – wäre es vielleicht hilfreich, wir hätten einen elektronischen Speicherort für alle alternativen Medien, der verhindert,  dass im Nachhinein korrigiert oder zensiert werden kann? Vielleicht mal bei Musk nachfragen. Das wäre ein weiteres Projekt für seine Marsmission. 

Hinweis der Redaktion: Die Achse des Guten arbeitet seit Jahren an einer gedruckten Jubiläums-Gesamtausgabe von in den vergangenen 20 Jahren ihres Bestehens erschienen Beiträgen. Wir sichern damit unseren Journalismus vor dem Vergessen. Dieses Mammut-Werk soll in Bibliotheken und von privaten Unterstützern für die Nachwelt und künftige Historiker aufbewahrt und gesichert werden. Wir wollen der Geschichtklitterung nicht das Feld überlassen.

Dr. Cora Stephan ist Publizistin und Schriftstellerin. Viele ihrer Romane und Sachbücher wurden Bestseller. Ihr aktueller Roman heißt „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“.

Foto: K.i

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

S.Buch / 12.12.2024

It’s the Köterrasse, stupid!

F. Bothmann / 12.12.2024

Man kann telepolis aus dem Katalog der unabhängigen Medien nun streichen. Die Anzahl von unkritischen Verkündungsbeiträgen der Einheitsmeinung hat erheblich zugenommen. Damit wird es sehr langweilig dort zu lesen. Ein Vergleich älterer Beiträge aus dem Archiv ist hierbei natürlich sehr hinderlich. Hofft man bei telepolis auf Direktzahlungen aus dem Bundeskanzleramt?

Dieter Sulzbach / 12.12.2024

Orwell habe ich früher als “dystopisch” aufgefaßt. Dann habe ich gemerkt, daß man 1984 auch als Handlungsanleitung versteht und verwendet. Welche Aufgaben hat Winston Smith im Wahrheitsministerium? - Na, bitte!

Marcel Seiler / 12.12.2024

Ein weiterer Fluch des Digitalen: Die Vergangenheit lässt sich leicht umschreiben.

Dietmar Richard Wagner / 12.12.2024

Vielleicht eine Festplatte mit den Inhalten als Symbol der Reue und Läuterung öffentlich verbrennen? Oder wäre da der Bezug zu Bücherverbrennungen zu offensichtlich?

Thomas Taterka / 12.12.2024

Junge , Junge . Noch nicht einmal zu Hochzeiten Ronald Reagans gab es einen solchen Bankrott konservativer Gedankenträger . Gier ist ja okay , aber muß man gleich sein ganzes Hab und Gut zur Übernahme bereitstellen , das ist ja noch schlimmer als unter Obama . Widerlich , wirklich widerlich .

Gerard Döring / 12.12.2024

„Stalinistische Cancel Culture“,ja,es ist wieder schlimmer als wir es uns vorstellen konnten. Der Stalinismus ist das Elixier zur Macht. Geschichtsfälschung heißt das Rezept und Lügen sind ihre Werkzeuge.Die haben sich “IHRE DEMOKRATIE” recht gut gezimmert. Selbst Abwählen kann man sie nicht wirklich.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Cora Stephan / 24.04.2025 / 16:00 / 80

Toxische Weis(s)heit: Wer will Steinmeierin werden?

Etliche deutsche Politiker aller Geschlechter finden es gerade jetzt wichtig, festzuschreiben, dass eine Frau nächste Bundespräsidentin werden muss. Das wird gute Frauen nicht anlocken, aber…/ mehr

Cora Stephan / 10.04.2025 / 12:00 / 20

Toxische Weis(s)heit: Mumm statt Quote

Die Leser können gar nicht genug bekommen von meiner kleinen Folge über beherzte Frauen mit Hang zum Klarsprech, weshalb ich zum Abschluss noch einmal eine…/ mehr

Cora Stephan / 03.04.2025 / 12:00 / 25

Toxische Weis(s)heit: Blondes Gift und blonde Vormacht

Unabhängige neue Medien bekommen in den Pressekonferenzen des Weißen Hauses einen festen Platz – auch dank der neuen Pressesprecherin Karoline Leavitt. Hierzulande sollen sie hingegen noch…/ mehr

Cora Stephan / 01.04.2025 / 06:05 / 19

Satire gegen den Polit-Irrsinn

Im neuen Buch von Claudio Casula „Echt Bombe hier in Dada-Deutschland – Vier Jahre Realsatire mit dem ganzen Schweinesystem“ kann man den Irrsinn der letzten Jahre…/ mehr

Cora Stephan / 27.03.2025 / 14:00 / 21

Toxische Weis(s)heit: Engel gegen Polit-Staatsanwälte?

Im Kabinett des angeblichen Frauenfeinds Donald Trump sind einige wichtige Posten von starken Frauen besetzt. Eine von ihnen ist Justizministerin Pam Bondi. Was geschieht, wenn…/ mehr

Cora Stephan / 20.03.2025 / 10:00 / 14

Toxische Weis(s)heit: Vom Wrestling zur Ministerin

Linda McMahon ist Trumps neue Bildungsministerin. Sie baute mit ihrem Mann den größten Wrestlingverband der Welt auf – ein Milliardenunternehmen. Nun soll sie das US-Bildungsministerium…/ mehr

Cora Stephan / 13.03.2025 / 14:00 / 15

Toxische Weis(s)heit: Schafft eins, zwei, drei viele Wirtshäuser!

Die Corona-Maßnahmen und die hohen Energiekosten haben vielen Kneipen den Rest gegeben. Frankreich versucht, das Kneipensterben aufzuhalten und Abhilfe zu schaffen. Die Franzosen machen es vor,…/ mehr

Cora Stephan / 06.03.2025 / 06:25 / 61

Toxische Weis(s)heit: Was eine echte Rechte ist

Kristi Noem ist in Deutschland vor allem dafür bekannt, dass sie ihren Hund erschossen hat und deshalb nicht zu Trumps Vizepräsidentin werden konnte. Jetzt ist…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com