Peter Grimm / 20.09.2018 / 11:00 / 6 / Seite ausdrucken

Tod im September

Ulrich Schacht ist tot. Ein Mann ist gestorben, der eigentlich sofort einen Nachruf verdient hat. Ich konnte ihn tagelang nicht schreiben, weil diese Nachricht lange nicht dort ankommen wollte, wo ich sie zum Schreiben brauchte. „Plötzlich und unerwartet“ ist bei vielen Todesfällen eine gängige Floskel, oft leicht gesagt, geschrieben und überlesen. Und nun müsste man selbst diese Floskel verwenden, denn bei jeder Begegnung, jedem Gespräch auch jedem Telefonat trat einem ein Mann voll Lebenskraft, Mut, Zuversicht und Glaube gegenüber – da konnte es gar keinen Zweifel daran geben, dass wir auch gemeinsam noch viel erleben und debattieren würden.

Worüber schreibt man in einem Nachruf? Über das Leben des Verstorbenen natürlich. Das ist ja auch wirklich so reich an einzigartigen Geschichten, dass sich Bücher damit füllen lassen. 1951 im Frauenzuchthaus Hoheneck geboren. Seine Mutter saß dort, weil sie von einem gemeinsamen Leben mit seinem Vater, einem sowjetischen Offizier, geträumt hatte. Weil das legal nicht möglich war, hatten die beiden nur darüber gesprochen, deshalb vielleicht in den Westen zu gehen.

Später ist er selbst politischer Häftling, der „staatsfeindlichen Hetze“ schuldig gesprochen und nach drei Jahren vom Westen freigekauft. Zu seinem Geburtsort sagte er mir einmal im Interview:

„Wer will schon gerne an einem Schreckensort geboren worden sein? Allerdings hab ich an anderer Stelle auch immer deutlich gemacht, dass ich den Ort an sich insofern als eine Art Auszeichnung betrachtet habe, als über diese Geschichte meiner Mutter und meiner Geburt, mir sehr schnell klar wurde, in welchen politischen Verhältnissen ich aufgewachsen bin, damals. Es war eine Form von Information, die konnte zwei Dinge verhindern: Ich konnte dem System nicht erliegen und es konnte mich auch von nichts überzeugen.“

Mit Distanz zum Regime und der Nähe zur Kirche beginnt er nach einer Bäckerlehre ein Theologiestudium. Und er schreibt, publiziert illegal und steht in offener Opposition zum SED-Regime. Der erwähnten Haft folgt im Westen erst weiteres Studium, dann die Arbeit als Journalist, zuletzt als Redakteur der Welt am Sonntag. Gleichzeitig gibt es auch den Dichter und Schriftsteller Schacht und – das war Gegenstand unseres letzten gemeinsamen Beitrags – den Sozialdemokraten. Als solchen sah er sich schon in der DDR und es gehörte, so die Sprache darauf kam, zu seinen Standarderzählungen, dass er sich sein SPD-Parteibuch noch vor dem bundesdeutschen Reisepass geholt hatte.

Die Liebe zur SPD oder der SPD zu ihm erkaltete bekanntlich nach und nach, und auch in weiten Teilen der Kirche im Westen fühlte sich der freigekaufte Protestant unverstanden und heimatlos. Mit anderen Christen, denen es ebenso ging – mehrheitlich ehemalige politische Häftlinge aus der DDR – gründete er deshalb 1987 eine evangelische Bruderschaft – den St. Georgs-Orden. Den gibt es noch heute, seit vielen Jahren mit Sitz in Erfurt und inzwischen schon lange etabliert und von der EKD anerkannt. Ulrich Schacht war bis zum Schluss Großkomtur des Ordens.

Politisch eckte er öfter an. Der von ihm Anfang der neunziger Jahre zusammen mit Heimo Schwilk herausgegebene Sammelband „Die selbstbewusste Nation“ brachte ihm in vielen Artikeln den Ruf ein, ein Rechter zu sein. Und dieser Ruf wirkte nach. Obwohl er sich 1998 aus dem journalistischen Beruf und auch aus dem Land zurückzog. Zwanzig Jahre lebte er in Schweden und wollte sich mehr der Literatur und weniger dem deutschen Tagesgeschehen widmen.

Als 2012 sein Buch „Vereister Sommer“, in dem er die Suche nach seinem russischen Vater beschreibt, Erfolge feierte, schien die Brandmarkung als Rechter vergessen. Die deutschen Feuilletons liebten ihn und sein Werk.

Doch er sollte ihr Liebling nicht bleiben können. Zu deutlich meldete er sich zu Wort. Beispielsweise als Erstunterzeichner der Gemeinsamen Erklärung 2018 oder zuletzt auch als Autor auf der „Achse des Guten“.

Worüber schreibt man in einem Nachruf? Die erste Begegnung? Das letzte Gespräch?

Das letzte Gespräch hatten wir per Telefon, wenige Tage vor der Wahl in Schweden. Wir sprachen über einen Text, den er für Achgut.com schreiben wollte, allerdings erst ein paar Tage nach dem Wahltag, wenn sich die erste Aufregung gelegt hat und sich schon mehr zu den konkreten Folgen sagen lässt. Und wir endeten, beinahe wie üblich, mit dem Versprechen, demnächst endlich wieder ausführlicher zu reden. Nichts ließ mich daran zweifeln, dass dies auch so sein würde.

Als ich Anfang der Woche in meiner Mailbox die erste Nachricht von seinem Tod mitten im September am Sonntagnachmittag fand, war das ein Schock. Ich habe nicht weiterlesen können, bis zu jenem tröstlichen Satz, dass er friedlich in seinem Sessel eingeschlafen sei.

Ich denke an unsere erste Begegnung. Es war das Kennenlernen eines mir von Namen, Werk und Vita ja nicht Unbekannten. Er las aus dem frisch erschienenen „Vereisten Sommer“ und dem Gedichtband „Bell Island im Eismeer“. Und diesen durchblätternd, sticht mir jetzt ein Gedicht ins Auge:

September oder was wir dafür halten

 

Auf der Terrasse der weiße Liegestuhl stärkt mir den 

Rücken beim Blick auf das Meer das mir den Blick

stärkt auf den Horizont über dem seit Stunden die

Sonne steht nicht niedrig nicht hoch: Weiße Glut, die

meine Stirn erreicht meine Lippen berührt meine Augen

Lider schließt - sanft wie die Hand einer Geliebten die

erwartungslos schenkt. So still können wir leben. Einen 

Tag lang eine Stunde eine einzige Minute. Nichts

ginge verloren, wäre sie alles

 

Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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Sabine Drewes / 20.09.2018

„Ulrich Schacht ist tot“. Ich habe diesen Mann persönlich nicht gekannt, aber als langjährige Leserin der WELT war mir sein Name ein Begriff, und deshalb weiß ich, wen die deutsche Publizistik mit ihm verloren hat. Nachdem ich seinen Namen auf der Achse wiederfand, freute ich mich darauf, künftig wieder Zeilen aus seiner Feder lesen zu können… Mit Schacht ist jemand von uns gegangen, der die Schrecken der SED-Diktatur noch aus eigener Anschauung kannte und sie nie schöngeredet hatte, wie so viele in seiner Partei, der SPD. Mein ganzes Wissen über das geteilte Deutschland, über die Brutalität des menschenverachtenden Regimes östlich der Elbe, ich habe es als Westdeutsche nicht aus der Schule. Ich hatte das Glück, schon als Jugendliche die WELT lesen zu können, und das hatte mich damals immun gemacht gegen Schönfärbereien der SED-Diktatur. Leute wie der ehemalige WELT-Autor Schacht haben ihren Anteil daran. Es erschüttert mich bis heute, dass gerade diesen Menschen, die ganz unmittelbar unter der brutalen Teilung Deutschlands gelitten haben, bis heute so wenig Aufmerksamkeit und Anteilnahme entgegengebracht wird. Ein Dank an die Achse, dass sie diesen zu unrecht vergessenen Menschen eine Stimme gibt.

Martin Ruehle / 20.09.2018

Was für ein schönes Gedicht, es ist als säße man selbst am Meer… Die tiefe Sehnsucht nach innerer Ruhe und dem Glück des Augenblicks… Einen Moment der Ewigkeit zu spüren, im Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit ... “So still können wir leben. Einen Tag lang eine Stunde eine einzige Minute. Nichts ginge verloren, wäre sie alles” Mir geht der Tod von Ulrich Schacht nahe.

Brigitte Brils / 20.09.2018

Danke für Ihren warmherzigen Text!

Esther Burke / 20.09.2018

“Der Segen der Erde, der guten, der reichen Erde sei für dich da ! Weich sei die Erde dir, wenn du auf ihr ruhst, müde am Ende des Tages, und leicht ruhe die Erde auf dir am Ende des Lebens, daß du sie schnell abschütteln kannst - und auf und davon auf deinem Wege zu Gott. ”                            aus Irland “Wenn   (der HERR)  die Gefangenen Zions erlösen wird,  so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens     und unsere Zunge voll Rühmens sein.  .... Herr, bringe zurück unsere Gefangenen,  wie du die Bäche wiederbringst im Südland….... Sie gehen hin und weinen     und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden     und bringen ihre Garben.”            aus Psalm 126

K.H. Münter / 20.09.2018

Immerhin hat er nach einem wie ich aus dem Artikel herauslesen konnte “anstrengenden Leben”, ich weiß diese “Beschreibung” ist unvollständig, friedlich einschlafen dürfen. So einen Tod wünschen sich viele von Schmerzen der einen oder anderen Art geplagten Menschen fast sehnlich. Zu Lebzeiten hat er sich eingemischt und sich nicht unterkriegen lassen. Meine Hochachtung dazu. Ich wüßte nicht, wie mein Leben unter solchen Vorzeichen und dann noch in der DDR verlaufen wäre.

Marc Blenk / 20.09.2018

Lieber Herr Grimm, danke für Ihren passenden Nachruf, machmal ist der Mensch wie vernagelt. Leider habe ich erst sehr spät von diesem Mann und seinem Werk erfahren. Ich schäme mich ein bisschen dafür. Dass er sich hier auf der Achse wieder mehr politisch verwirklichen konnte, ist schön und tröstlich. Ein anderer Schriftsteller, den ich sehr verehre, ist Walter Kemposwki. ‘Im Block’ beschreibt er seinen Haftaufenthalt in der gelben Hölle in Bautzen und dem seiner Mutter im Frauengefängnis Hoheneck. In einer Szene beschreibt die Mutter Kempowskis einen kleinen Jungen, der dort als Sohn einer Insassin geboren wurde. Dieser Junge hätte fürwahr Ulrich Schacht sein können. Trotz seines frühen Hineingeborenseins in Unfreiheit und Bestrafung war es ein fröhlicher Junge….

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