Thilo Schneider / 24.06.2018 / 10:00 / Foto: Pixabay / 3 / Seite ausdrucken

Thilos WM-Tagebuch (7)

Ich bin im Fieber – aber leider nicht im WM-Fieber. Mich hat der "Fluch des Pharao" niedergestreckt, und obwohl ich ungerne heute Abend auf der Grossbildleinwand am Strand mit dabei gewesen wäre – zumal die Preise für Trikots der Mannschaft nach dem Mexiko-Spiel dramatisch abgestürzt sind – fesselt mich der Drang, alle zehn Minuten aufstehen zu müssen, sozusagen ans Hotelbett. Immerhin hörte ich aber ein paar vereinzelte "Schland"-Rufe durch das geschlossene Fenster.

Heute Abend galt es ja, den löwschen Angstgegner Schweden zu schlagen, und ich muss sagen, ich habe noch nie ein arabisch kommentiertes Spiel der Internationalmannschaft verfolgen dürfen. Denn das Hotelfernsehen hat weder ARD noch ZDF, was ja vom Grunde her ein Segen ist, aber auf RTL lief eben das "Spiel des Überlebens" auch nicht, und so blieb mir nur ein arabischer Sender. Was im Übrigen auch eine gute Vorbereitung auf die Kommentierung buntesdeutscher Spiele in 20 Jahren ist, denn da dürfte deutsch auch nur noch als Untertitel laufen.

Die "Mannschaft" oder, wie wir sie hier im Freundeskreis deutscher Unterschichtler in Ägypten nennen, die "Fluffis", starten wie die Feuerwehr – allerdings die von 1920, nämlich noch mit Pferden –, was auch daran liegen könnte, dass sie Özil versehentlich "vergessen" haben. Dadurch bekommt das Spiel der "Mannschaft" augenscheinlich wenigstens etwas Fahrt. Das Spiel gegen Schweden fängt aber eigentlich so an, wie es gegen Mexiko aufgehört hat, und ich habe das Gefühl, dass es sich nicht bis zur Auswahl des DfB herumgesprochen hat, dass Mexiko auch Südkorea weggeputzt hat. Ohne Rechenkünstler zu sein, sollte auch ein DfB-Spieler erkennen, dass sechs Punkte mehr als null Punkte sind. Das läuft auch solange schlecht, bis Sebastian Rudy einen blöden Tritt ins Gesicht kassiert und vor sich hin blutet. Eine Zeit lang steht die DfB-Elf zu zehnt auf dem Platz, was sie aber gewohnt ist, seit Özil normalerweise zur Startelf gehört. Jedenfalls nimmt Löw Gündogan den Edding weg und wechselt ihn für den unglücklichen Rudy ein.

Und sofort läuft es besser. Und zwar für die Schweden. Während Gündogan noch die Frisur richtet, macht Toivonen mit einem eher versehentlichen Lupfer das 1:0 für Schweden und stürzt ein Land in den Freudentaumel – und hier einen rüstigen Rentner fast in den Herzinfarkt. Da sind 32 Minuten vorbei. Bis zur Halbzeit hält die verunsicherte "Mannschaft" den Ball in den eigenen Reihen, was ihr zwar 76% Ballbesitz, aber leider kein Tor beschert.

Der Regen prasselt hernieder, aber keiner wankt

In den Mannschaften, die sich früher mal "deutsche Nationalmannschaft" oder "deutsche Elf" oder einfach nur "Deutschland" nannten, ging früher bei einem solchen Ergebnis ein zorniger Ruck durch die Spieler, und wer damals Rudi Völlers Platzverweis nach der Anspuckattacke von Rijkaard 1990 beim Spiel gegen die Niederlande mitbekommen hat, der weiß, was ich meine. Anschließend spielte Deutschland Holland in Grund und Boden. Wenn also in der "Mannschaft" auch nur noch den Rest einer sogenannten "deutschen Tugend" stecken sollte, dann sind die Schweden fällig. Zumal Özil immer noch auf der Bank am T-Shirt zupfen darf.

Löw wechselt den wirkungslosen Draxler gegen den ewig nicht mehr gesehenen Gomez aus, und die "Mannschaft" startet in die möglicherweise vorvorletzte Halbzeit dieser bisher irgendwie klapprigen WM ohne rechte Begeisterung. Oder überhaupt ohne Begeisterung. Egal, ob von rechts oder links.

Die Schweden jedenfalls scheinen bereits ausgiebig gefeiert zu haben, denn sie sind noch nicht wirklich auf dem Platz, als Reus mehr oder weniger in eine durch Gomez verlängerte Flanke schlittert und zum Ausgleich einlocht. Jetzt ist es endlich, endlich passiert. Die Herren ohne Nationalfarben wachen aus ihrem lethargischen "angstfreien Kicken" auf und spielen ansatzweise Fussball mit Herz und – Zorn. Und sogar Gündogan, der Präsidentenfreund, spielt gelegentlich Pässe, die auch gerne mal bei eigenen Teamkameraden ankommen. Wenn sie ziemlich direkt neben ihm stehen. Vor allem Reus und Boateng scheinen wenig Lust zu haben, sich daheim von mir beschimpfen zu lassen und rackern, was die Lunge hergibt. Die Schweden werden von der "Mannschaft" derart eingeschnürt, dass ich beginne, über die Gänsefüßchen um "Mannschaft" nachzudenken. In der 82sten Minute bezahlt Boateng leider seinen wirklich aufopferungsvollen Einsatz mit einer roten Karte und wird vom Platz geschickt. Die "Mannschaft" spielt in Unterzahl gegen die immer noch ungeschlagenen Schweden, und ich möchte nicht wissen, was derzeit im Haushalt meiner mit einem Schweden verheirateten Schwägerin in spe los ist.

Fairerweise muss ich zugeben: Der Einsatz stimmt jetzt, und der Wille zum Sieg ist auch da. Nur hat man manchmal eben auch Pech, und die "Mannschaft" versemmelt eine Chance nach der anderen. Es ist keine Schande, zu verlieren – nur das WIE ist entscheidend. Und wer trotzdem alles gegeben hat, der kann auch nach einer Niederlage – und selbst ein Unentschieden wäre faktisch eine Niederlage – hoch erhobenen Hauptes vom Platz. Aber noch läuft das Spiel, und mein arabischer Kommentator hechelt und röchelt vor sich hin, und ich kann immer nur immer wieder Kroos, Gündogan, Reus und Neuer verstehen. Schließlich ist dann die reguläre Spielzeit herum, aber die Boys in grau stecken nicht auf. Fünf Minuten noch im Wankdorf-Stadion, der Regen prasselt hernieder, aber keiner wankt... Werner fällt an der Strafraumkante der Skandinavier, die letzte Minute der letzten Minuten läuft, Kroos läuft für den Freistoß an und... trifft. DOOR! DOOR! DOOR! 2:1 für den DfB, Schweden im Schockzustand, Schreie hallen durch die Hotelanlage und auch durch Stockholm, und es bewahrheitet sich doch: "Wenn du sicher sein willst, die Deutschen (!) geschlagen zu haben, musst du sie bis in die Kabine verfolgen."

Fazit: Ein spannendes und dramatisches Spiel. So soll und muss das sein. Es wird noch dauern, bis ich mich mit der "Mannschaft" wieder versöhne – aber der Anfang ist gemacht. Özil hat ja auch nicht mitgespielt. Vielleicht ist das ja das Rezept, Verräter draußen zu lassen. Ich bin gespannt und hoffentlich auf dem Weg der Genesung.

Ach, Mexiko hat 2:1 gegen Südkorea gewonnen, und Belgien hat Tunesien mit 5:2 abgefertigt. Allah ist kein Fussballfan. Bleibt mir nur noch die Frage: Hat sich Merkel gegen Seehofer durchgesetzt oder Horst gegen Angela, oder steht es bei beiden immer noch unentschlossen? Özil schweigt dazu, und Oliver Bierhoff erklärt die Diskussion jetzt für beendet. 

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Gabriele Schulze / 24.06.2018

Gestern abend im Dorf verschiedene zaghafte Autocorsi bestehend aus gefühlt jeweils einem Auto. Ganz Mutige hatten zum Fußballguckfeiern geladen und den Balkon schwarzrotgold geschmückt, standen dann mit Kölsch auf der Straße. Ganz ohne Aushandeln. Hatte schon was Rührendes. Danke für Ihren erheiternden Text!

Maja Schneider / 24.06.2018

Alle Achtung, Herr Schneider, trotz Fieber eine wunderbare Analyse des Spiels! Beste Genesungswünsche aus dem Land!

Andreas Stüve / 24.06.2018

Herrlich, nach Maxeiner und Bechlenberg jetzt Schneider. So fängt doch der Sonntag im durchgebunteten, regengrauen Deutschland phantastisch an. Schon gestern haben Sie, lieber Herr Schneider, ein super Tor vorgelegt und heute mindestens noch ” einen reingemacht”.  ” Allah ist kein Fussballfan” und ” über Gänsefüßchen bei Mannschaft nachdenken” . Ei wuuundäbaaah. Ich könnte den ganzen Artikel vor Freude noch einmal zitieren. Da ich da aber keinem zumuten möchte, wünsche ich einen schönen Sonntag und gute Besserung. Übrigens sollen bei ” Allahs Rache” nicht nur die guten alten Ruhrpottmedikamente, sondern auch original Haram-kapitalistische Coke und kartoffeldeutsche Salzstangen hilfreich sein. Meine Grüße ins Morgenland, kommen Sie heil (oh oh) wieder nach Hause, wenn es dann noch da ist.

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