Thilo Schneider / 05.01.2025 / 14:30 / Foto: Augustin Feyen-Perrin / 7 / Seite ausdrucken

Thilos Schlachten-Gemälde: Die Belagerung von Nancy

Das war eine laaaange Geschichte, die kurz und abrupt mit dem Tode seines letzten Herrschers endete. Ein Reich, mitten in Europa, gar nicht mal so klein, das heute völlig vergessen ist. Ein Reich, das von der Nordsee bis nach Italien reichte.

Gegründet wurde dieses Reich im Jahr 843 im Vertrag von Verdun, als die Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen sein Erbe in drei Teile aufspalteten. Erbstreitigkeiten waren schon immer schwierig beizulegen. Die drei Herren einigten sich schließlich auf einen Westteil für Karl den Kahlen, das später den Namen „Frankreich“ tragen sollte, einen Ostteil für Ludwig den Deutschen, das Sie heute – Überraschung – unter dem Namen Deutschland kennen und einen Mittelteil für Lothar, den Ältesten, aus dessen Reich sich später die Herzogtümer Lothringen und Burgund entwickelten.

Gemäß den mittelalterlichen Traditionen wurde dieser Mittelteil immer wieder neu aufgeteilt, neu vergeben, an Söhne verschenkt oder weggeheiratet oder eingeheiratet; immerhin existierte dieses Reich aber, wenngleich in zurechtgestutzter Form, noch im Jahr 1476 und hatte sogar einen eigenen Fast-König: Karl den Kühnen, seit 1467 Herzog von Burgund. Dessen Wahlspruch auf seinem Wappen heute auch auf dem Bundeskanzleramt stehen könnte: „Je lay emprins“ – „Ich habe es gewagt“ oder, sehr viel freier: „Ich habe es wenigstens versucht“.

Sein ziemlich zerrupfter Machtbereich reichte 1467 von den heutigen Benelux-Staaten über Teile Lothringens (Sie kennen das heute unter „Elsass-Lothringen, aber das Elsass war damals noch Deutsch und Lothringen von Karl kürzlich widerrechtlich besetzt) und über Teile der heutigen Schweiz bis nach etwa Genf im Süden und im Westen nach Nevers. Ein recht multikulturelles Reich also, das der kühne Karl da zusammengeerbt und zusammengeklaut hatte. Und folgerichtig gab es durch die ganze Buntheit auch prompt Ärger: Denn Karl hätte sehr gerne ein eigenes Königreich gehabt, völlig unabhängig sowohl vom französischen König, mit dem er als Valois familiär verbandelt war, als auch vom deutschen Kaiser, dessen Reich er ebenfalls verpflichtet war. Karls Idee war es, ein territorial einheitliches Imperium zu schaffen, das von beiden Nachbarn unabhängig wäre, zumal er durch den Besitz Brabants und Flanderns die wirtschaftlich stärksten Regionen in Europa besaß. Damit ließ sich schon das eine oder andere Heer finanzieren.

Karl strebte nach Höherem!

Karl war zwar mutig und visionär – aber militärisch nicht übermäßig clever, obwohl er sich sehr in die Materie hineinkniete. Seit seinem herzoglichen Amtsantritt legte er sich in loser Folge mit dem französischen König und dem deutschen Kaiser an, beleidigte den einen hier und düpierte den anderen da, belagerte erfolglos mal hier eine Stadt und da einen Flecken und verärgerte durch sein großmäuliges Auftreten sämtliche tatsächlichen und potenziellen Verbündeten. Er hielt sich eher lässig an Absprachen und Verträge, obwohl er durchaus belesen und wortgewandt war und mehrere Sprachen fließend beherrschte. Was ihn, ganz nebenbei, heute wenigstens als Außenminister qualifizieren würde. 1475 nahm er Nancy, die Hauptstadt des Herzogtums Lothringen – sehr zum Verdruss des Herzogs René von Lothringen – ein und kassierte dessen Territorium für sein neu zu schaffendes Königreich.

Karl strebte nach Höherem! Vielleicht sogar der deutschen Kaiserkrone. Als popeliger Herzog gab es da karrieremäßig noch Luft nach oben!

1476 marschierte Karl mit hunderten Kanonen, riesiger Reiterei, Bogen- und Armbrustschützen und einer nagelneuen Wunderwaffe, der Arkebuse, in das Territorium der aufmüpfigen Schweizer Eidgenossen mit ihrer seltsamen Sprache ein. Am Anfang lief es ganz gut, er eroberte das Städtchen Grandson und ließ die komplette Besatzung von 412 Mann, die sich bedingungslos ergeben hatten, zu deren Ärger kurzerhand bis auf den letzten Mann hinrichten. Die Stadt Bern und ihre eidgenössischen Verbündeten schickten dem kühnen Karl daraufhin eigene Truppen entgegen, die in der Schlacht von Grandson die komplette Armee Karls regelrecht pulverisierten und die ihnen die fette Beute von 400 schweineteuren burgundischen Kanonen und nebenbei das lange geflügelte Wort von „burgundischer Beute“ bescherte.

Karl, der sich weder Kanonen noch Prestige nehmen lassen wollte, probierte sein Glück ein paar Monate später erneut in Richtung Bern, nur um bei dem Städtchen Murten gegen Bern und den trotzigen Herzog René von Lothringen eine derart vernichtende Niederlage zu kassieren, dass 10.000 Burgunder tot auf dem Schlachtfeld blieben. Weg waren die Kanonen und die Soldaten und das Prestige. Schlimmer noch – die Eidgenossen gingen diesmal sogar in die Offensive und zwangen seine Verbündete, Herzogin Jolanda von Savoyen, zum Friedensschluss!

In der Schweiz war also für Karl den Kühnen auf absehbare Zeit nichts zu holen, zwei blutige Nasen genügten. So ganz nebenbei festigten seine deftigen Niederlagen den Ruf der Schweizer Gewalthaufen als unbesiegbare Söldnertruppe für die nächsten Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte.

Der 5. Januar 1477

Niederlagen, zumal in einem Vielvölkerstaat, musste man sich schon damals leisten können – Karl konnte nicht. Lothringen, das Bindeglied zwischen seinen nördlichen und südlichen Besitzungen, revoltierte. Die Hauptstadt Nancy wurde kurz nach seiner Niederlage bei Murten von René von Lothringen und verbündeten Schweizer Truppen erobert und drohte aus dem Burgunderreich auszuscheren.

Bei Gex kratzte Karl noch einmal (maximal) 15.000 Mann zusammen und machte sich – schon und erst recht damals eine wirklich bescheuerte Idee – nach Nancy auf, um die Stadt zu belagern und zurückzuerobern. Mitten im Spätherbst und dem Winter und gegen den Rat seiner Offiziere.

René von Lothringen sammelte von seinen Vasallen und den verbündeten Eidgenossen ebenfalls knapp 19.000 Mann ein und marschierte gegen Nancy, um „seine“ Hauptstadt aus der Umklammerung der Burgunder zu befreien.

Am 5. Januar 1477 schließlich trafen die beiden Heere vor Nancy (oder „Nanzig“, wie es damals auf Deutsch genannt wurde) aufeinander. Karls Truppen, von der Belagerung und der bei Belagerungen durchaus üblichen Diarrhöe geschwächt, mit schlechterer Moral und in der Unterzahl, hatten von Anfang an die schlechteren Karten. Hinzu kam, dass Karl ein sehr multikulturelles Heer aus allen möglichen Söldnern befehligte, die ein halbes Dutzend Sprachen sprachen – aber sich untereinander und mit ihren Offizieren nicht verständigen konnten.

Natürlich war die Annäherung einer so großen Truppe von Feinden Karl nicht unbemerkt geblieben und er ließ seine Soldaten einen Schwenk von 180 Grad, etwa in Richtung Südosten, machen. In seinem Rücken befand sich nun Nancy, seine linke Flanke lehnte an das Flüsschen Meurthe, seine rechte Flanke an das Wäldchen von Jarville, von wo Karl hoffte, die lothringischen Bewegungen zu sehen. Vor Karl befand sich ein Tal, das etwa 500 Meter breit war – die Lothringer würden gegen ihn bergauf kämpfen müssen. Die Stellung war nicht schlecht gewählt, Karls Truppen befanden sich quasi am breiten Ende eines Trichters, der durch Wälder und steile Hänge und die Meurthe gebildet wurde. Nach der Idee Karls würden die Lothringer frontal und direkt in die Kanonen seiner Artillerie, die er vor seine Infanterie postiert hatte, angreifen müssen. Nur: Die dachten nicht daran.

Die Lothringer umgehen Karls Schlachtordnung

Sicher, es hatte im Lager Karls des Kühnen zwischen ihm und seinen Söldnerführern heftige Diskussionen gegeben, ob es angesichts der anmarschierenden Übermacht nicht klüger sei, die Belagerung aufzugeben und abzuziehen, und die Diskussionen waren derart hitzig, dass Karls Condottiere, der Graf von Campobasso, kündigte und zu den Lothringern überlief. Es waren wohl letztlich nur noch etwa 2.000 bis 3.000 kampffähige Soldaten, die Karl René gegenüberstellen konnte, aber von seinem General, dem Grafen von Chimay, auf das schreiende Missverhältnis von wenigstens 5:1 hingewiesen, flüchtete sich Karl in das Rezept der Verlierer: Propaganda. Er „würde eine Schlacht liefern, selbst, wenn er ganz allein kämpfen müsse, es zähle letztlich der unbeugsame Wille“ und blablabla. Karl wollte sein Prestige wiederherstellen – oder untergehen. Man kennt das.

René von Lothringen wiederum war kurz vor der Schlacht intelligent – oder überredet – genug, um seinen Oberbefehl an seine Feldherren Wilhelm Herter und Oswald von Thierstein zu übertragen, die im dichten Schneetreiben vor Nancy mit etwa 8.000 Mann unbemerkt einen Hügel in der rechten Flanke der burgundischen Belagerer besetzten. Warum die Annäherung einer so großen Anzahl von Feinden den Burgundern überhaupt verborgen geblieben war, lässt sich nur mit dem miserablen Winterwetter, der Dichte des Waldes von Jarville und der Nachlässigkeit oder Faulheit der burgundischen Aufklärung erklären.

Oder, mit anderen Worten: Die Lothringer umgehen schlicht und einfach Karls Schlachtordnung.

Gegen Mittag schließlich brechen die lothringischen Angreifer an und hinter der rechten Flanke der Burgunder hervor, und es macht sich instant Panik bei den Burgundern breit, die grauenhaften Alphörner von Uri und Unterwalden dröhnen über die burgundischen Linien und verbreiten damit einen ähnlich psychologischen Effekt wie 500 Jahre später die Sirenen der deutschen Sturzkampfbomber. Gleichzeitig rennen die Lothringer auch frontal über die Ebene auf die burgundischen Söldner zu. Die ohnehin dünnen burgundischen Linien lösen sich sofort auf, was rennen kann, flüchtet nach Osten auf die Meurthe, in die Meurthe oder nach Norden, wo doch das noch unbesiegte Nancy liegt. Diejenigen, die über die Meurthe zu flüchten versuchen, werden an den Übergängen entweder von den Söldnern des verräterischen Grafen von Campobasso niedergemetzelt oder ertrinken jämmerlich oder sterben kurze Zeit später an ihren Erfrierungen. Der Sieg der Lothringer und ihrer Schweizer Verbündeten ist komplett, einzigartig und fast schon bestechend einfach und schlicht.

So, wie es angefangen hat, endet es auch

Und Karl? Der Leichnam des Möchtegern-Königs wird drei Tage später aus einem vereisten Weiher bei Nancy geangelt, nackt, ausgeplündert, geschändet und mit ausgeschlagenen Zähnen und bereits von Hunden und Wölfen angefressen. Nach diversen, allerdings zweifelhaften Quellen soll er, bereits verwundet, von seinem scheuenden Pferd abgeworfen worden und elendig krepiert oder ermordet worden sein – aber auch dies kann natürlich wiederum nun lothringische Propaganda sein. Man wird es nie erfahren. In jedem Fall ist die burgundische Erblinie nun im Mannesstamm erloschen, die sogenannten „Burgunderkriege“ sind erledigt und Burgund als Königreich gleich mit dazu.

Ein sehr passendes Spottgedicht wurde damals auf Karl gereimt: „Karl der Kühne verlor in Grandson den Hut, in Murten den Mut und in Nancy das Blut“. Das war es. Aus die Maus. End of story. Also, fast:

Karls Tochter, Maria von Burgund, wird in der Folge Maximilian I. von Habsburg, den „letzten Ritter“ heiraten, der als Herzog von Burgund später auch deutscher Kaiser werden wird. Der bekommt Flandern. Frankreich hingegen zieht die westburgundischen Gebiete als „Mannlehen“ wieder ein, die französische und namentlich königliche Gesellschaft ist noch nicht so weit, Maria auch als Mann zu identifizieren. Burgund selbst mag also erloschen und aufgeteilt sein – aber so, wie es angefangen hat, endet es auch. Die Erbstreitigkeiten um die hübschen burgundischen Lande, fast sofort ausbrechend und als „burgundischer Erbfolgekrieg“ bezeichnet, werden Frankreich und Deutschland über die nächsten 500 Jahre zu Erzfeinden machen.

Immerhin: Karl der Kühne hat es versucht!

(Weitere Historienartikel des Autors unter dem Suchbegriff „Jahrestag“ in der Suchfunktion) 

In dieser Reihe bereits erschienen:

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Jahrestag: High Noon bei Austerlitz

Jahrestag: Völkerschlacht bei Leipzig

Jahrestag: Das Ende der Türkenbelagerung von Wien

Jahrestag: Otto schlägt die Ungarn

Jahrestag: Die eigentliche Schlacht bei Tannenberg

Jahrestag: Königgrätz entscheidet den Bruderkrieg

Viel Propaganda und fast 50.000 Tote

Thilos Schlachten-Gemälde: Leuthen und die schiefe Schlachtordnung

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Augustin Feyen-Perrin via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Holger Kammel / 05.01.2025

Nancy galt als Ende der mittelalterlichen Reiterheere und Beginn der Söldnerheere. Tatsächlich haben die Schweizer die Ritter mittels Hellebarden aus den Sätteln geholt. Begonnen hat das viel früher. Moosgarten, Crecy. Tatsächlich hat sich gut organisierte, schwer bewaffnete Infanterie immer gegen Reiter behauptet. Begonnen mit den Römern, die die parthischen Streitwagen besiegt haben. Die spektakulären, aber sinnlosen Kavallerieangriffe Marschall Neys bei Waterloo gegen die englisch/deutschen Karres waren das praktische Ende. Meines Wissens nach gab es im ersten Weltkrieg den letzten britischen Kavallerieangriff. Mit desaströsem Ergebnis. Im zweiten Weltkrieg gab es die berühmten Attacken der polnischen Kavallerie auf deutsche Panzer. Und die selbstmörderischen Angriffe von Marschall Budjonnies Idioten. Nancy bedeutete eine wesentliche Wende der europäischen Geschichte. Burgund wurde von den Habsburgern durch Heirat übernommen. “Tu felix Austria” Wer sich auch immer einbildet, die Geschichte wäre besser geworden, Adolf war Österreicher. Der erste Weltkrieg wurde von Österreich begonnen. Der radikale Antisemitismus war eine rein Wiener Angelegenheit. Die bedeutendste militärische Leistung Österreichs: Den Alliierten einzureden, daß Hitler Deutscher und Beethoven Österreicher war.

Rainer Nicolaisen / 05.01.2025

Kühn? Ich übersetze seinen Beinamen eher mit unbesonnen. Klug wäre es gewesen, für eine zahlreiche Nachkommenschaft zu sorgen und sein Geld schlau einzusetzen.  Schade, schade war’s um das Neuburgundische Reich.

Leo Hohensee / 05.01.2025

Aus heutiger Sicht hätte man Karl bei Nancy statt einer 180° Kehre eine von 360° empfehlen können. Was hätte das, auf die geschichtlichen Entwicklungen gesehen, doch alles verändern können ..... nicht auszudenken. Aber mal im Ernst, ist das ständige Bestreben nach Vergrößerung der eigenen Macht nicht das gleiche wie Wachstum um jeden Preis? Ja, ja, schon gut. Ich frage doch für einen Freund.

Gerhard Hotz / 05.01.2025

Schon gut, haben die Berner damals Karl gestoppt, sonst wäre er womöglich bis nach Zürich gekommen und ich müsste heute französisch (mein Englischlehrer: “Eine schreckliche Sprache!”) sprechen und Baguette fressen.

Karsten Dörre / 05.01.2025

Karl der Kühne von Burgund war nicht zu beneiden. Dessen burgundischer Flickenteppich zwischen franz. Königreich und röm.-dt. Kaiserreich war gutbetuchtes Pflaster für Begehrlichkeiten.

Gerd Maar / 05.01.2025

Die ‘Erzfeindschaft’ zwischen Deutschen und Franzosen begann schon viel früher, als Ost- und Westkarolinger sich um das Erbe Lotharingiens stritten, was im Krieg zwischen Kaiser Otto 2 und König Lothar kulminierte. Karl der Kühne wäre übrigens mit Zustimmung Kaiser Friedrichs des Dritten fast zu seinem Nachfolger als römisch-deutscher König gekrönt worden, nur der Widerstand der Kurfürsten verhinderte dies. Es gibt noch zwei kleine Gebiete in der Bundesrepublik, die ehemals zum Burgunderreich gehörten: Die Gegend um Geldern (ehemaliges Herzogtum Gelderland), und die ehemals luxemburgischen Ländereien jenseits von Sauer und Our. Beide fielen letztendlich an Preussen, 1713 bzw. 1815.

Franz Klar / 05.01.2025

“Karl der Kühne hat es versucht”! Und Karl der Lautere hat es vollbracht : er rettete die Menschheit 545 Jahre später in der Endzeitschlacht am Covidischen Berge ...

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