Thilo Schneider / 08.11.2020 / 10:00 / Foto: Timo Raab / 13 / Seite ausdrucken

The winner doesn’t take it all

Im Nachhinein war das jetzt keine gute Idee, dem Schatz das Schachspielen beizubringen. Ich muss dazu sagen, dass ich ein ganz passabler Schachspieler bin, keine Turnierklasse, aber im Hausgebrauch durchaus ein ernst zu nehmender Gegner. Und weil der Schatz immer daran interessiert ist, was ich so treibe, hat sie mich darum gebeten, Ihr einmal die Grundzüge beizubringen.

Und so sitzen wir an einem regnerischen Sonntagmittag vor dem frisch aus der Umzugskiste gestemmten Schachbrett mit den Lego-Figuren und sind in der vierten Partie. Für eine Anfängerin schlägt sie sich ganz manierlich und ich weise sie auf meine charmante Art („Herrgott, schau auf das verdammte Brett …“) auf gelegentliche Fehler hin. Nichtsdestotrotz haben wir zwanzig Züge gespielt und die Lage meiner Herzdame ist – vorsichtig ausgedrückt – hoffnungslos desaströs. Ich kann sie in zwei Zügen auf drei verschiedene Arten matt setzen.

„Deine Lage ist, vorsichtig ausgedrückt, hoffnungslos desaströs“, weise ich den Schatz auf seine hoffnungslos desaströse Lage hin. „Ich habe gewonnen“, stelle ich fest. Der Schatz starrt mit zusammengekniffenen Augen auf das Brett und sagt: „Nein“. Und ich sage: „Doch!“ Ich gestikuliere und zeige der Herzdame die Positionen: „Schau, wenn ich hier den Läufer und da den Springer, also, selbst wenn Du noch mit der Dame, dann würde ich sie hier mit dem Bauer, das Spiel ist aus. Ich habe außerdem noch hier die beiden Türme, das Thema ist durch. Ich habe gewonnen und Du verloren. Sorry, schade, ist so“, spreche ich und lehne mich mit verschränkten Armen zurück. Gewonnen.

Kein Prozess vor dem obersten Supreme-Court, keine GSG9...

Der Schatz starrt das Brett wie eine Schlange ein Kaninchen an: „Nein. Vorbei ist es erst, wenn es vorbei ist!“, betont sie stur. Ich kann ja so etwas nicht leiden. Wenn ein Spiel gelaufen ist, ist es gelaufen. Jeder weitere Spielzug ist sinnlose Zeitverschwendung. Gewonnen ist gewonnen ist gewonnen. Es gibt keinen Winkelzug für den Gegner mehr. Kein Rechtsanwalt kann den Schatz da heraushauen, kein Prozess vor dem obersten Supreme-Court, keine GSG9 und keine Verfassungsklage. Rién ne vas plus. Game over. „Du kannst Dich nicht einfach während des laufenden Spiels zum Sieger erklären“, erklärt mir der Schatz, „es dauert, so lange es dauert!“ „Es nützt Dir auch nichts, Letizia Bonaparte, die Mutter Napoleons zu zitieren! Ich hab’s Dir doch gezeigt und ich hab’s Dir erklärt. Ich habe Dich sozusagen in der Zwickmühle, in der Zange, am Gesäß, Du hast verloren, ich habe gewonnen. So einfach!“, nehme ich sie ins Gebet.

Sie ist stur. „Ich habe aber viel mehr Figuren als Du!“, stellt sie sachlich korrekt fest. „Es geht aber nicht nach der Anzahl der Figuren, sondern darum, den gegnerischen König matt zu setzen. Und exakt das passiert in zwei Zügen, egal, was Du machst!“, kämpfe ich gegen meinen aufkommenden Zorn an. „Außerdem habe ich aber noch die Dame, aber Du nicht!“, stellt sie ebenfalls sachlich korrekt fest. „Auch das, geliebtes Weib und Opfer meiner Spielkünste, ist für den Ausgang oder den Sieg in diesem hübschen kleinen nahöstlichen Spiel – das, wie ich betonen möchte, eine der besseren Ideen aus dem vorderen Orient war – völlig unerheblich. Es geht nicht darum, wer die schönere Aufstellung hat, besser aussieht oder die besten Figuren hat. Einzig und allein geht es darum, den König matt zu setzen. Und exakt das wird in zwei Zügen geschehen. Wir können aufhören. Wir müssen den Kelch nicht bis zur Neige trinken!“, rede ich mich in Gesprächsdiarrhoe.

Der Schatz starrt auf einen Punkt hinter mir. „Du, ich sage das ungern. Bleib bitte ganz ruhig. Aber hinter Dir an der Wand krabbelt gerade eine wirklich sehr große Spinne in Richtung Decke …“, sagt sie in ruhigem und besänftigenden Therapeutentonfall. Ich springe wie von der Tarantel, die da an der Wand laufen könnte, gestochen auf und fliehe aus dem Zimmer, aus dem Haus, aus der Stadt, aus dem Land. Ich hasse die Viecher! Nach etwa zwei Minuten höre ich die couragierte Dame meines Herzens rufen, ich könne gefahrlos und ohne einen Flammenwerfer den Raum wieder betreten, sie hätte den Arachnoiden entfernt. Erleichtert setze ich mich wieder vor das Schachbrett.

„Guck mal“, sagt der Schatz und zieht einen Bauern, mitten in meinen hübschen Spielzug, in den Weg des Läufers, „es geht doch noch weiter. Du weißt bei Weitem nicht alles und hast mich unterschätzt“, grinst er, der Schatz, überlegen.

Ja, es geht weiter. Ich schwöre, der Bauer war vorher nicht da, und ich hege den Verdacht, dass auch kein achtbeiniges Monster von der Sirius da an meiner Wohnzimmerwand herumkrabbelte. Aber ich kann es nicht beweisen, und schließlich trotzt mir der Schatz tatsächlich noch ein Remis ab. Weil sie ein ebenso miserabler Verlierer ist, so, wie ich ein schlechter Gewinner bin. Ich weiß nicht, ob sie gemogelt oder geschummelt hat, ich kann es nicht beweisen, zumal sie mich ja gleich zweimal belogen hätte. Oder wenigstens einmal.

Aber ich schwöre – beim nächsten Mal spielen wir es aus!

(Weitere Spielereien des Autors auch auf www.politticker.de)      

Foto: Timo Raab

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Hans-Peter Dollhopf / 08.11.2020

Frau Hofmeister, Sie schreiben: “Ich will ja nicht kleinlich sein, aber hat das Schachspiel nicht seine Wiege in Indien?” Da jeder Mensch bekanntlich als Moslem geboren wird und Mekka/Saudiarabien das Zentrum des Islam ist, sind faktisch-praktisch ALLE Erfindungen der gesamten Menschheit seit Anbeginn aus dem Nahen Osten. Das ist so, wie wenn auf einem Artikel Made in Germany draufsteht, wobei alle Einzelteile von China und sonst wo her sind. {Natürlich ist Made in Germany deshalb auch nahöstlich.]

Hans-Peter Dollhopf / 08.11.2020

Der Wahlbetrug in Amerika hat heute auch die Kreativität von Matt, dem Cartoonisten des Daily Telegraph, befeuert. Im Sketch in seiner Stammecke auf der Seite der Online-Ausgabe des Newspapers sieht man dabei eine Menge von demonstrierenden Coronaviren vor 10 Downing Street mit den Rufen “STOP THE COUNT, STOP THE COUNT ...”. Über der Szene bannt der Spruch “COVID DATA WRONG”. Für die Interpretation des Witzes kommt es nun ganz darauf an, was man von den offiziellen Coronazahlen hält und dies dann auf die US-Wahlauszählung überträgt. Eine wahrhaft hinterfotzige Arbeit, die Matt da abgeliefert hat. Lehrreich allemal.

Peter Tichy / 08.11.2020

Wunderbare Parabel auf die US Wahl Danke!

Wolfgang Kaufmann / 08.11.2020

Von Zug zu Zug müssen Sie die Spielregeln neu aushandeln. Wie bei der Bahn. Freuen Sie sich drauf.

Cornelius Angermann / 08.11.2020

Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren. Da ich wohl zu Recht annehme, dass Ihre nette kleine Geschichte eine Allegorie auf den US-Präsidentschaftswahlkampf sein soll, muss ich Ihnen mitteilen, dass die Demokraten es offenbar nach wie vor versäumt haben, Trump schachmatt zu setzen (schachmatt in dem Sinne, dass keine Gegenwehr mehr möglich ist). Er ist sogar noch weit entfernt von dieser Situation. Stattdessen könnte es sein, dass er sich mit einer Rochade aus dem Schussfeld zieht und mit einem Angriff seiner Türme nicht nur den gegnerischen König sondern auch seine Königin in Zugzwang setzt, was schlussendlich zur Niederlage der beiden (oder sollte ich sagen Biden) führt. Der Krieg ist erst dann vorüber, wenn die letzte Schlacht geschlagen ist, und der Gewinner des Krieges ist nicht notwendigerweise derjenige, der bisher die meisten Schlachten gewonnen hat. So lehrt es das Leben. Schaun wir mal, was passiert. Übrigens: Trump sieht es gelassen. Er spielt in seinem Golfclub in Virginia eine Runde Golf. Den Rest werden die Gerichte, Project Veritas und Judicial Watch erledigen, zusammen mit dem FBI und IT-Spezialisten der CIA.

Magdalena Hofmeister / 08.11.2020

Ich will ja nicht kleinlich sein, aber hat das Schachspiel nicht seine Wiege in Indien? So sagt es a. die Schnellenzyklopädie Wikipedia. Von dort ging es erst nach Persien, wo das Spiel noch vor den islamischen Eroberungen besondere Beliebtheit erfuhr. Und erst im Zuge dieser Erobergungen (die andererseits aber auch Europa von seinen kulturellen Wurzeln im Einflussbereich des einstigen römischen Reichs trennte) kam schließlich Europa in den Genuss des Spiels. Wenn Sie also bei der Bemerkung: “das, wie ich betonen möchte, eine der besseren Ideen aus dem vorderen Orient war” auf die wenigen Errungenschaften des Islams anspielen, diente eben auch in diesem Fall derselbe eher erzwungener Maßen v.a. als Vermittler und war nicht Quelle der Innovation. Wie eben auch beim ewigen Mythos von den angeblich arabischen Zahlen. Wobei es dabei weniger um deren optische Darstellung als um das dezimale Stellenwertsystems geht, zusammen mit der genialen Idee einer Lückenzahl Null, die ebenfalls ihren Ursprung im vorislamischen Indien hat. Ansonsten eine schöne Sonntagsgeschichte, für die sich, wie @Stanley Milgram schon andeutet, reichlich Parallelen im politischen Leben finden lassen.

R. Matzen / 08.11.2020

Im Grunde tun wir doch alles, damit die Dame neben uns immer gut aussieht. Das ist besonders beim Tanzen zu beobachten aber auch sonst im Leben. Oder meinten Sie das Duell der beiden weißen alten Männer dort drüben? ;)

Stanley Milgram / 08.11.2020

Die Regierung hat am 6.11. mit dem Aushebeln des GG en passant das deutsche Volk matt gesetzt. Man spricht hier von einem “erstickten matt”. Punkt.

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