Von Hans Scheuerlein.
Seitdem einige große Textilketten damit begonnen haben, T-Shirts und Tops mit den Logos klassischer Rockbands der 1960er und 70er Jahre zu bedrucken, sieht man gehäuft kleine und große Bambini mit den Wort-Bild-Marken von AC/DC, The Who, Led Zeppelin, Pink Floyd, Ramones oder den Rolling Stones herumlaufen. Ob der Nachwuchs immer weiß, was er da zur Schau trägt, und ob er mit der Musik aus dem vorherigen Jahrhundert überhaupt etwas anfangen kann oder tatsächlich auch nur ein einziges Stück davon kennt, bleibt zumindest fraglich. Aber nett anzuschauen für uns alte Säcke – und Säckinnen – ist es allemal, wenn so ein kleiner Stöppkes mit der Rolling-Stones-Zunge auf der Brust auf dem Spielplatz herumstolpert.
Das Zungen-Logo der Rolling Stones (auch „Tongue and Lips“ oder „Hot Lips“) tauchte erstmals auf dem im April 1971 erschienenen Album „Sticky Fingers“ auf. Allerdings ist die Scheibe eher für ihr Frontcover mit der Jeans und dem Reißverschluss bekannt, für das übrigens kein Geringerer als Andy Warhol verantwortlich zeichnet. In die ersten Auflagen war tatsächlich noch ein echter Reißverschluss eingearbeitet, den man auch aufziehen konnte, dahinter wurde dann weiße Unterwäsche sichtbar. Das in der knallengen Jeanshose sich abzeichnende Gemächt stammt übrigens von dem US-amerikanischen Schauspieler Joe Dallesandro, der seine Karriere in den frühen Filmen von Andy Warhol und Paul Morrissey begann und aufgrund seines makellosen Körperbaus rasch zum Sexsymbol nicht nur des amerikanischen Underground-Films, sondern auch der Gay-Community wurde. Auf der Innenhülle prangt dann zum ersten Mal das inzwischen weltberühmte Zungen-Logo. Mick Jagger hatte es höchstpersönlich bei einem jungen Grafikstudenten namens John Pasche in Auftrag gegeben, der dafür mit fünfzig englischen Pfund abgespeist wurde. So werden Geschäfte im Rock'n'Roll-Business gemacht! Beatles-Kumpan und Grafiker Klaus Voormann hatte für sein Cover für das „Revolver“-Album der Fab Four auch nur fünfzig Pfund und einen feuchten Händedruck bekommen (später gab es dann noch einen Grammy obendrauf). Zur Ehrenrettung soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Stones mit den „Hot Lips“ letztlich so happy waren, dass sie nach ein paar Jahren nochmal zweihundert Pfund locker machten. Als Vorlage diente übrigens ein Bild der Zunge bleckenden indischen Göttin Kali, die sowohl für Tod und Zerstörung als auch für Erneuerung und Wunscherfüllung steht. Sein endgültiges Aussehen erhielt das „Tongue and Lips“-Logo dann schließlich von dem New Yorker Designer Craig Braun, der vor der Veröffentlichung von „Sticky Fingers“ damit beauftragt wurde, es noch einmal abschließend zu überarbeiten. Das Zungen-Logo kann nicht anders als ein Geniestreich bezeichnet werden, weil es das freche, antiautoritäre Image der Rolling Stones mit der Laszivität ihrer Musik und ihrer Texte perfekt in sich vereint.
Und noch etwas war neu bei „Sticky Fingers“. Es war die erste Platte ohne Gitarrist und Multiinstrumentalist Brian Jones, der nicht nur Mitbegründer, sondern auch der Namensgeber der Rolling Stones gewesen war. In der Frühphase der Band galt der „Godstar“ (Genesis P-Orridge) als unumstrittener Stones-Boss und stand als Stilikone einer ganzen Generation mehr im Fokus der Öffentlichkeit als seine beiden Mitstreiter Mick Jagger und Keith Richards. In der Nacht zum 3. Juli 1969 ertrank Jones unter ungeklärten Umständen im Swimmingpool seines Anwesens in Südengland. Mit seinem frühen Tod führt er eine ganze Reihe im Alter von siebenundzwanzig Jahren verstorbener Rockstars an, die als “27 Club“ oder „Klub 27“ in die Annalen des Rock'n'Roll eingegangen sind (wir hatten darüber schon ausführlicher bei der Vorstellung von Janis Joplins „Pearl“-Album geschrieben).
500.000 Zuschauer beim Open-Air-Konzert im Londoner Hyde Park
Als Ersatz für Jones wurde der junge Blues-Gitarrist Mick Taylor (20) verpflichtet, der sich in der Londoner Musikszene bereits einen Namen gemacht hatte. Zusammen mit Ken Hensley, dem späteren Uriah Heep-Keyboarder, und Greg Lake, der danach die Progrock-Legenden King Crimson und Emerson, Lake & Palmer mitbegründete, hatte Taylor zunächst in einer Band mit dem recht unbescheidenen Namen The Gods gespielt. Im Jahr 1967 nahm er das Angebot von „Blues-Guru“ John Mayall an, in dessen Band The Bluesbreakers die Nachfolge von Peter Green anzutreten. Der wiederum gründete mit seinem Kumpel Mick Fleetwood eine neue Band namens Fleetwood Mac. 1969 wurde Taylor dann von den Rolling Stones angefragt, sie bei den Aufnahmen zu ihrem „Let It Bleed“-Album zu unterstützen, da der drogenabhängige und immer stärker abdriftende Brian Jones zunehmend unzuverlässiger wurde.
Nur zwei Tage nach Jones' überraschendem Tod wurde Mick Taylor den 500.000 Zuschauern des Open-Air-Konzertes im Londoner Hyde Park als neuer Rolling Stone präsentiert. Vielen Fans und Kennern gilt er seither als der beste Lead-Gitarrist, den die Stones je hatten. Auf „Sticky Fingers“ gibt er Kostproben seines Könnens jeweils in den Schlusssequenzen der beiden Stücke „Sway“ und „Can't You Hear Me Knocking“, wobei aber gerade die für mich die schwächsten Songs des Albums sind. Dafür beginnt die Scheibe mit einem der wohl heißesten Opener aller Zeiten: „Brown Sugar“, das zu einer ihrer bekanntesten Nummern werden sollte und sich nach seinem Erscheinen in vielen Ländern Europas und Nordamerikas in den Top Ten platzieren konnte. Inzwischen ist der Song, in dem es andeutungsweise um ein schwarzes Sklavenmädchen geht, an dem sich ein alter Menschenhändler vergreift, längst zum Stein des Anstoßes in Kreisen sogenannter antirassistischer und antisexistischer Aktivisten geworden, so dass sich Mick Jagger genötigt sah, einige Textpassagen abzuändern. Die schnell beleidigten Social Justice Warriors machen eben vor nichts und niemandem Halt. Zwar ist der Text wirklich selten blöd, aber wer hört denn bei so einer Musik schon auf den Text? Mein Gott! Da geht’s um feiern, tanzen und Spaß haben. Ein Freund von mir sagte es einmal sehr treffend: „Früher musste man sich mit seinen spießigen Eltern herumärgern und jetzt mit seinen spießigen Kindern.“
Weitere Highlights sind für mich auf jeden Fall die wunderschöne Country-Folk-Ballade „Wild Horses“ und das sehr authentisch dargebotene afro-amerikanische Spiritual „You Gotta Move“, bei dem Mick Taylor zeigt, dass er auch die Slide-Guitar beherrscht. Eine tolle Slide-Guitar spielt übrigens auch Ry Cooder als Gastmusiker bei dem morbiden „Sister Morphine“, welches zwei Jahre zuvor schon von Marianne Faithfull gesungen wurde, die auch am Text mitgeschrieben hat. Den Abschluss des Albums bildet schließlich das eher unbekannte, aber fantastische "Moonlight Mile", das mit seiner traumversunkenen Atmosphäre vielleicht das beste Stück des ganzen Albums ist. So muss es sein!
Nicht perfekt, aber geil
Einmal mehr gelingt den Rolling Stones auf ihrem bereits neunten Studioalbum das, was sie so gut wie niemand anderer können. Nämlich, das Feeling entstehen zu lassen, als säße man schon die ganze Nacht bei der Band im Übungsraum und hörte ihr beim Proben zu. Es ist spät geworden, sehr spät, und alle sind schon ziemlich angetüdelt. Aber schließlich schaffen sie es doch noch, die neuen Stücke zum ersten Mal richtig geil zu spielen. Nicht perfekt, aber geil. Und das ist genau das, was für mich das typische Stones-Feeling ausmacht. Die Gitarren dudeln durcheinander, aber doch irgendwie ausgeklügelt ineinander verwoben – das berühmte „Weaving“. Charlie Watts am Schlagzeug ist immer einen Tick hintendran, aber schiebt wie Schwein. Bill Wyman am Bass fällt kaum auf, hält jedoch den ganzen Laden zusammen. Und Mick Jagger rotzt seinen Gesang nur so hin, dass man sich fragt, ob der überhaupt richtig singen kann; der aber gleichzeitig alles, ob Rock, Blues oder Ballade, einfach nur großartig singt. Das ist das Wunder, das die Rolling Stones sind: ein äußerst unwahrscheinliches Phänomen in einem Universum schier unendlicher Möglichkeiten.
Mit „Sticky Fingers“, das gemeinhin als eines ihrer besten Alben gilt, betreten die Stones die Siebzigerjahre, in deren Verlauf sie zur größten Rock'n'Roll-Band der Welt aufsteigen sollten. Mick Taylor blieb der Band jedoch nur noch für drei Jahre und zwei weitere Studioalben treu, bevor er glaubte, sich vor dem lebensbedrohlichen Sog aus Drogen und Alkohol retten zu müssen und die Rolling Stones im Jahr 1974 wieder verließ. Das kommt davon, wenn man sich als naives Bleichgesicht mit irgendwelchen obskuren indischen Gottheiten einlässt. Als den wahren Grund nannte er allerdings die mangelnde Wertschätzung durch seine beiden Bandkollegen Jagger und Richards. Zur Anerkennung seiner musikalischen Beiträge hätte er seinen Namen gerne öfter mal bei den Urhebern gelesen. Da hatten jedoch die Glimmer Twins ihren Daumen drauf und beabsichtigten nicht, Drillinge zu werden. Was ja auch geheißen hätte, die Tantiemen durch drei teilen zu müssen. In einem Interview aus dem Jahr 2009 räumt Taylor aber auch ein, dass er wahrscheinlich schon tot sei, wenn er bei den Rolling Stones geblieben wäre. Zu hören ist er bei den Stones übrigens noch einmal auf dem Album „Tattoo You“ aus dem Jahr 1981, wo einige Überbleibsel alter Aufnahmesessions verbraten wurden, bei denen Taylor zum Teil noch mit von der Partie gewesen war. Besonders die B-Seite des Albums, ab dem siebten Stück „Worried About You“ bis einschließlich dem letzten Track „Waiting On A Friend“, gehört für mich zum Besten, was die Stones jemals zusammenhängend veröffentlicht haben. Von der Scheibe stammt übrigens auch ihr bis dato letzter großer Hit „Start Me Up“.
P.S.: Wer Gitarre spielt und zum Beispiel „Brown Sugar“ oder „Start Me Up“ richtig nachspielen will, kommt nicht umhin, sich mit der offenen G-Stimmung (engl. Open G Tuning) auseinanderzusetzen. Das bedeutet, dass man seine Gitarre anders stimmen muss. Und zwar von der Standardstimmung E-A-D-G-B-E auf D-G-D-G-B-D. Wobei man die tiefe E-Saite – jetzt D-Saite! – getrost auch ganz runter machen kann. Die stört eh nur, da der Grundton ohnehin auf der A-Saite – jetzt G-Saite! – liegt. Das macht Keith Richards auch so und hat immer eine fünfsaitige, in Open G vorgestimmte Gitarre parat stehen. Jetzt kann man alle Saiten leer spielen oder den Barré-Finger auf einen beliebigen Bund legen und bekommt immer einen astreinen Dur-Akkord. Wenn man jetzt noch den Mittelfinger auf den nächsten Bund der 2. Saite (= B-Saite) und den Ringfinger gleichzeitig auf den übernächsten Bund der vierten Saite (= D-Saite) legt und wieder wegnimmt, bekommt man diesen typischen I-IV-Akkordwechsel, wie man ihn von vielen Stones-Riffs kennt. Das klingt zunächst nicht weiter kompliziert. Aber die eigentliche Schwierigkeit besteht nun darin, mit der Schlaghand die entsprechenden Betonungen zu spielen und mit der Greifhand rhythmisch genau zu koordinieren. Gar nicht so einfach, was der gute alte Keef da teilweise unter Volldröhnung abgeliefert hat. Respekt!
YouTube-Link zur politisch korrekten (etwas anderes kommt uns ja überhaupt nicht in die Tüte) Live-Version von „Brown Sugar“ beim Auftritt der vielleicht nicht mehr besten, aber definitiv ältesten und rumpeligsten Rock'n'Roll-Band der Welt in Havanna, 2016 mit einem beneidenswert fitten Mick Jagger (72) und Keith Richards mit seiner 5-saitigen Telecaster in Open G Tuning
YouTube-Link zu dem Blues-Spiritual „You Gotta Move“
YouTube-Link zur Country-Ballade „Wild Horses“
YouTube-Link zur atmosphärischen Abschlussnummer „Moonlight Mile“