Hans Scheuerlein, Gastautor / 08.09.2024 / 14:00 / Foto: WikiCommons / 5 / Seite ausdrucken

The Magnetic Fields: 25 Jahre „69 Love Songs“

Als das unumstrittene Meisterwerk der Magnetic Fields gelten ihre „69 Love Songs“, die im September 1999 veröffentlicht wurden.

25 Jahre sind ja durchaus auch ein beträchtlicher Zeitraum. Mindestens so lange schon gelten die Magnetic Fields aus den U.S.A. als Geheimtipp. Und das ist gut so. Zu große Popularität hat schon vielen Musikern geschadet. Überdies schätzt und genießt es der gemeine Musikliebhaber stets am meisten, wenn er sich als Hüter eines Geheimnisses fühlen darf, an dem nur er und ganz wenige Eingeweihte teilhaben. Wenn sein Schatz dann von der breiten Öffentlichkeit entdeckt wird, wendet er sich zumeist enttäuscht ab und verkündet bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass die alten Sachen viel besser gewesen seien.

Was mich betrifft, ging es mir zum Beispiel mit Bruce Springsteen so, den ich schon als Dreizehnjähriger hörte, als ihn in meinem Freundeskreis noch niemand kannte. Nach seinem großen Durchbruch mit „Born in the U.S.A.“ – was ich nach wie vor für eine seiner schwächeren Nummern halte – verlor ich dann schon bald das Interesse an ihm. Oder die Dire Straits mit ihrem Album „Brothers in Arms“ und dem Hit „Money for Nothing“, was für mich einfach nicht mehr das war, was ich von Knopfler & Co. hören wollte. Und dann sang da auch noch dieser nervige Sting mit, den ich zu dieser Zeit auch schon längst nicht mehr leiden mochte.

Klar hat das alles auch mit einem Bedürfnis nach Distinktion und nicht zuletzt mit einem gewissen Dünkel zu tun, der bei ambitionierten Musikhörern ohnehin weit verbreitet ist. Wenn es einer Band nach einem solchen Karrieresprung aber nicht gelingt, dauerhaft ein neues und zahlenmäßig größeres Publikum zu gewinnen, ist sie weg vom Fenster. Auch dafür gibt es genügend Beispiele. Dann vielleicht doch lieber Geheimtipp bleiben und seinen Kultstatus pflegen. So wie Stephin Merritt und seine Magnetic Fields, die ihre Hörer seit geraumer Zeit mit musikalisch gehaltvollen und apart aufgemachten Konzeptalben verwöhnen.

Der ungekrönte König des Konzeptalbums

Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hat der 1965 geborene Merritt sich und seiner treuen Anhängerschaft die 5-CD/LP-Box „50 Song Memoir“ kredenzt – mit fünfzig Songs: jeweils einen für jedes Lebensjahr und jeweils eine Disc mit zehn Stücken für jedes Jahrzehnt. Dazu ein fettes, geschmackvoll gestaltetes Hochglanz-Booklet, das das Herz eines jeden Jägers und Sammlers musikalischer Kuriosa höher schlagen lässt.

So geht Kult! Nicht erst seitdem ist Merritt für mich der ungekrönte König des Konzeptalbums. Schon die drei Alben davor zeichneten sich durch einen thematischen roten Faden aus und wurden – ausnahmsweise – ohne Synthesizer eingespielt, weshalb sie inzwischen als die „No-Synth-Trilogy“ der Magnetic Fields gehandelt werden.

Als das unumstrittene Meisterwerk der Magnetic Fields gelten jedoch ihre „69 Love Songs“, die im September 1999 veröffentlicht wurden. Auf drei CDs mit jeweils dreiundzwanzig Stücken und insgesamt knapp drei Stunden Laufzeit ist den TMF (wie der Bandname gemeinhin abgekürzt wird) eine exzellente und außerordentlich vielseitige Songsammlung gelungen, die in der gesamten Rock- und Popmusik ihresgleichen sucht. Am ehesten könnte da vielleicht noch das sogenannte „White Album“ der Beatles angeführt werden, das eine vergleichbare Vielfalt an Stilen und Einflüssen abdeckt, aber „nur“ dreißig Stücke umfasst.

Songs wie Pop-Art-Kunstwerke

„69 Love Songs“ anzuhören, ist wie durch ein Modern-Art-Museum zu flanieren. Viele der Songs werden regelrecht minimalistisch nur mit einem oder zwei Instrumenten dargeboten. Andere wiederum klingen experimentell und wecken Erinnerungen an bunte, bizarr geformte Pop-Art-Kunstwerke. Nie zuvor hat Merritt so tief in seiner Kiste mit den sonderbarsten Musikinstrumenten gekramt, die er auf frische und kreative Weise einzusetzen versteht, um Stilelemente von Rock, Pop, Country-Folk und Chanson bis hin zu Alternative, Electronic oder Avantgarde zu adaptieren. Besonders fasziniert mich dabei immer das meisterhafte Songwriting und die kesse Leichtigkeit, mit der er sich einen Ohrwurm nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelt.

Die Magnetic Fields wurden 1990 in Boston als Studioprojekt des Songwriters und Multiinstrumentalisten Stephin Merritt gegründet. Den Namen entlehnte er dem Titel des Buches „Le Champs magnétique“ der französischen Surrealisten André Breton und Philippe Soupault. Schon in den beiden darauffolgenden Jahren erscheinen die ersten Alben, die aus spärlich instrumentierten Synthiepop-Miniaturen bestehen und vom natürlichen Gesang einer gewissen Susan Anway getragen werden. Bereits hier wird Merritts außergewöhnliches Talent für die Komposition eingängiger und stilvoller Melodien deutlich.

Auf den nachfolgenden Veröffentlichungen übernimmt Merritt mit seiner tiefen Bassstimme, die sich gelegentlich in die Gefilde des Baritons und seltener in die des Tenors erhebt, zunehmend öfter den Hauptgesang. Außerdem kommen neben Synthesizern und Drumcomputern vermehrt traditionelle Instrumente zum Einsatz. Dieses neue Konzept mit Anleihen bei Alternative-Rock und Indie-Pop sollte die Blaupause für den zukünftigen TMF-Sound abgeben. Und mit dem Album „The Charm of the Highway Strip“ erscheint 1994 ihr erstes Konzeptalbum, dessen Songtexte sich um typische Themen des Country- und Western-Genres drehen.

Ursprünglich sollten es 100 Songs werden

Beim Nachfolger „Get Lost“ läuft sich Merritt dann schon für die kompositorische und stilistische Vielfalt seines Opus magnum „69 Love Songs“ warm. Allerdings benötigte er ganze vier Jahre, bis er die neunundsechzig Stücke im Kasten hatte. Inspiriert von Charles Ives „114 Songs“ hätten es ursprünglich sogar hundert werden sollen. Als sich Merritt aber über den schöpferischen und zeitlichen Umfang des Vorhabens bewusst wurde, beschloss er, es bei neunundsechzig zu belassen – wobei ihn auch die sexuelle Konnotation im Zusammenhang mit dem Thema Liebe reizte.

Inhaltlich handelt es sich bei den „69 Love Songs“ dann auch weniger um triviale Liebeslieder, sondern vielmehr um das Phänomen Liebe in all seinen unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen. Da geht es in einzelnen Songs etwa um den hormonellen Wirbelsturm des Verliebtseins oder um gegen- wie auch gleichgeschlechtliche Liebe, von der der homosexuelle Merritt aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Auch der Umstand, dass Liebe in Enttäuschung, Ekel oder sogar Hass umschlagen kann, kommt in einigen Songs zum Ausdruck.

Besonders toll finde ich es jedoch immer, wenn die beiden Frauen singen. Das war es auch gewesen, was mich beim ersten Hören am meisten beeindruckt hatte: die Stimmen der Sängerinnen. Etwa wenn Claudia Gonson über ihren Lover in „Washington, D.C.“ oder ihren „Sweet Lovin' Man“ singt. Oder wenn Shirley Simms das Gefühl beschreibt, von der Liebe wie von einer „Boa Constrictor“ erdrosselt zu werden, oder in „Kiss Me Like You Mean It“ in die Rolle der devoten Geliebten schlüpft, die alles tut, was ihr vergötterter Liebhaber von ihr verlangt.

Songs entstanden in New Yorker Bars und Cafés

Der bekannteste Song des Albums – wahrscheinlich der Magnetic Fields überhaupt – ist die Ballade „The Book of Love“. Peter Gabriel steuerte eine Coverversion des Stücks zum Soundtrack des Tanzfilms „Darf ich bitten?“ (orig. Shall We Dance) mit Richard Gere von 2004 bei und veröffentlichte eine weitere Interpretation auf seinem 2010er-Album „Scratch My Back“. Seitdem tauchte der Song in diversen Filmen auf und wurde unzählige Male nachgesungen – unter anderem sogar von Reinhard Mey (auf Englisch!).

Laut Gonson, die Merritt schon aus Schulzeiten kennt und auch das Management der Magnetic Fields führt, habe dieser die meisten Songs in irgendwelchen Bars und Cafés seiner Wahlheimat New York geschrieben. Jahre später veröffentlichte Merritt auf seinem „50 Song Memoir“ den Song „Be True to Your Bar“, der sich wie eine Hymne auf die Stammkneipe anhört und von seiner Vorliebe handelt, seine Songs in öffentlichen Etablissements zu schreiben.

Seit Beginn dieses Jahres feiern die Magnetic Fields den 25. Geburtstag ihrer „69 Love Songs“ mit einer ausgedehnten Jubiläumstournee durch die Vereinigten Staaten und Europa, wo sie alle neunundsechzig Lieder verteilt über zwei Konzertabende aufführen.

YouTube-Link zum originellen Lovesong „Washington, D.C.

YouTube-Link zum peppigen „A Chicken With Its Head Cut Off

YouTube-Link zu „Kiss Me Like You Mean It“, toll gesungen von Shirley Simms

YouTube-Link zur Originalversion von „The Book of Love“ mit schönem Fan-Made-Video

YouTube-Link zur Synthie-Pop-Nummer „I Can't Touch You Anymore

YouTube-Link zu Stephin Merritts Liebeserklärung an Billie Holiday „My Only Friend“ mit Fotos aus dem Leben der Sängerin

 

Hans Scheuerlein verarbeitet auf der Achse des Guten seit 2021 sein Erschrecken über die Tatsache, dass viele der Schallplatten, die den Soundtrack seines Lebens prägten, inzwischen ein halbes Jahrhundert alt geworden sind.

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Leserpost

netiquette:

ekki schneider / 08.09.2024

@Günther Fuchs: Bitte nicht den eigenen Geschmack überhöhen und selbst was schreiben, hier geht es, logischerweise, um den Geschmack des Autors, dem ich hier für den Tip danken möchte, wird gecheckt. beim “nervigen Sting” musste ich schmunzeln;-) Die späten Dire Straits nervten mich auch, furchtbar. Danke, ich bin immer offen für neues!

G. Brugger / 08.09.2024

Ich habe noch nie etwas von dieser Kapelle gehört, und jetzt wünsche ich, das wäre so geblieben.

Günter Fuchs / 08.09.2024

Musik (?) zum abgewöhnen, wie wäre es mal zum Beispiel mit 40-Jahre Ray Charles „Do I Ever Cross Your Mind“ (1984)! Country-Soul der Extraklasse!

Gerd Heinzelmann / 08.09.2024

Wissen Sie, wen ich am wenigsten auf dieser Welt schätze? Wolfgang Schäuble. Und der ist bereits tot.

Gerd Maar / 08.09.2024

Die Magnetic Fields habe ich auch erst entdeckt als ich vor 25 Jahren in den USA lebte und das Album “Holiday” bei Freunden hörte. Es gefiel mir so gut, dass ich es zum nächsten Geburtstag geschenkt bekam. Ich höre die Songs immer wieder gerne.

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