Burkhard Müller-Ullrich / 27.09.2015 / 19:11 / 2 / Seite ausdrucken

Tests und Tricks sind logische Zwillinge

Ist es der Diesel-Dunst, der viele Kommentatoren benebelt oder haben sie durch ihre moralische Kraftmeierei den Verstand verloren? Überall führen jetzt Großethiker das Wort, die uns erklären, was für eine verwerfliche Sache die Manipulation von Abgastests sei. Doch kaum jemand macht sich die Mühe, darüber nachzudenken, ob es vielleicht zwischen Test und Manipulation einen inneren, geradezu zwingenden Zusammenhang gibt. Ein Test ist schließlich selbst eine Manipulation der Wirklichkeit; im Testmodus läuft nichts normal.

Kocht nicht ein Koch besonders gut, wenn er weiß, daß gerade ein Michelin-Inspektor in seinem Restaurant sitzt? Rennen, schwimmen, springen die Sportler nicht während der Olympischen Spiele bedeutend schneller, weiter, höher als im Alltag? Und war es nicht auf der Schule und an der Universität meistens so, daß wir das Gelernte bereits eine Woche nach der entscheidenden Prüfung wieder vergessen hatten? Das heißt, jeder Test stellt einen zeitlich begrenzten Ausnahmezustand her: auf den richten sich alle Anstrengungen; was vorher und hinterher stattfindet, interessiert keinen.

Diese Erkenntnis haben Volkswagen-Ingenieure in Autos eingebaut. Deshalb produzieren die Motoren weniger Abgas, wenn sie merken, daß sie getestet werden. Die Autos verfügen also über jene Dimension der Uneigentlichkeit, die unsere Welt immer mehr ausmacht. Das Testen ist uns längst zur zweiten Natur geworden ist. Wir leben in einer Epoche der Pilotprojekte und Simulationen. Es gilt, den Ernstfall zu vermeiden. Kaum daß die Nahrungsaufnahme noch der realen Sättigung dient; sie ist vielmehr Teil eines Testprogramms von Lebensmitteln oder Gaststätten. Urlaub, Partnerschaft und Politik: alles findet nur zur Probe statt, und dieser Umbau des Daseins zu einer gigantischen Versuchsreihe hat jene ontologische Desorientierung hervorgebracht, die philosophisch unter dem Namen ‚Postmoderne’ firmiert.

Der empörte Vorwurf der Verstellung geht daher völlig fehl. Verstellung gehört zum Wesen des Probanden, nicht aus Niedertracht, sondern weil die Prüfung selbst eine Realitäts-Verzerrung ist. Anders gesagt: die Prüfungs-Realität kann mit der ungeprüften Realität niemals identisch sein; ein System, das zwangsweise vom Einen auf das Andere schließt, beruht auf einem Irrtum. Man kann dagegen bloß einwenden, daß die praktische Vernunft ständig solche Rückschlüsse benutzt. Bei einer Fahrkartenkontrolle im Zug kommt es zwar nur darauf an, zum Zeitpunkt der Kontrolle eine Fahrkarte vorweisen zu können, aber die praktische Vernunft geht dann davon aus, daß man für die ganze Fahrt bezahlt hat.

Jedoch: sicher ist das nicht, und So-tun-als-ob ist eine Lebenshaltung, die durch Prüfungen, Tests und Kontrollen sowohl erzeugt als auch gefördert wird.

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Max Wedell / 27.09.2015

Ich kann Müller-Ullrichs Drang nachvollziehen, auch diesmal eine Gegenposition zum Mainstreamgetöse zu beziehen. Die allgemeine Nachquasselei der üblichen Dreigroschen-Welterklärungen ist ja ganz oft so peinlich, daß manche Menschen sich schwören, egal zu welcher Sache jede Äußerung zu vermeiden, die als Nachquasseln allgemein anerkannter “Wahrheiten” interpretiert werden kann. Konrad Lorenz sagte einmal: “Die öffentliche Meinung [...] liebt grobe Vereinfachungen, die meist Übertreibungen eines Tatbestandes sind. Deshalb ist die Opposition, die eine öffentliche Meinung kritisiert, dieser gegenüber so gut wie immer im Recht.” Deshalb ist auch Müller-Ullrich in fast allen seiner Beiträge im Recht. Lorenz schreibt aber weiter: “Aber sie [die Opposition] begibt sich, im Tauziehen der Meinungen, in extreme Positionen, die sie nie eingenommen hätte, wenn sie nicht die Gegenmeinung zu kompensieren getrachtet hätte.” Auch das trifft gern mal zu… etwa, wie mir scheint, auf Müller-Ullrich und seinen obigen Artikel. Tests erfüllen wichtige Funktionen. Im Bereich von Konsumerprodukten etwa die Sicherstellung von Produkteigenschaften, wie sie dem Konsumenten versprochen werden, in der Schule etwa die Motivationssteigerung. Man kann nun diese Funktionen sabotieren, indem man elaborierte Theorien entwickelt, die auf “Bei Tests schummeln ist doch normal und völlig OK” hinauslaufen. Würde sich das als allgemeine Auffassung durchsetzen, würde dies auf eine Abschaffung aller Tests hinauslaufen… denn Tests, bei denen alle ungehemmt mogeln, weil sie mogeln dürfen, sind dann überflüssig geworden, weil sie nichts mehr beweisen können. Wie werden dann aber ohne Tests Produkteigenschaften sichergestellt, Lernmotivationen gesteigert usw.? Die Antwort auf diese Frage bleibt Müller-Ullrich uns leider schuldig. Daß aber Tests INTELLIGENT entwickelt sein müssen, damit sie wirklich vernünftige Aussagen machen können, ist doch klar. Dazu gehört auch, daß man sie so anlegt, daß Mogeln besonders schwierig, idealerweise natürlich unmöglich ist. Natürlich steigt der Aufwand, den man treiben muß, je vollständiger man die Möglichkeiten für Mogelei ausschließen will. Es ist z.B. schwieriger, Abgasmessungen beim Fahren zu machen als beim Stillstand in der Halle, wie jetzt jedermann weiß. Das erinnert mich an den ewigen Kampf in der Softwarebranche zwischen Raubkopierern und Kopierschutzentwicklern. Auch der Aufwand für Mogeleien steigt mit dem Aufwand, den die Tester treiben, um Mogeleien zu verhindern und umgekehrt. Das kann Spiralen auslösen. Daß hier die Mogler die Sache nicht auf die Spitze treiben, kann durch eine relativ einfache Maßnahme verhindert werden: Man bestraft einfach den nächsten beim Mogeln Ertappten so gründlich und erbarmungslos, daß sein abschreckendes Beispiel eine erhebliche Motivationsbremse für alle anderen potentiellen Mogler sein wird. Genau das passiert jetzt VW, und ich verschwende keine Sekunde an den Gedanken, ob das noch fair ist… weil ich weiß, daß es am Ende einen großen Nutzen haben wird… mancher, der noch zwischen Ehrlichkeit und Mogelei schwankt, bekommt jetzt den entscheidenden Schubs in die richtige Richtung… sicher, Einsicht wäre natürlich besser als Angst vorm Ertapptwerden, ist aber eben leider nicht ähnlich einfach zu erzwingen.

Waldemar Undig / 27.09.2015

Es ist zwar nicht alles falsch, was hier gesagt wird. Aber bessere Abgastests sind möglich. Und die amerikanischen Behörden haben ihreren Realitätssinn nicht so sehr verloren wie wir postmodernen Westeuropäer.

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