Burkhard Müller-Ullrich / 05.11.2015 / 22:53 / 0 / Seite ausdrucken

Telekom will Telefonbuchsparte abstoßen - Ein Nachruf

In einem Buch stehen, seinen Namen gedruckt sehen: das ist für viele Menschen ein Lebenstraum. Bei den allermeisten sorgt nur das Telefonbuch dafür, daß er in Erfüllung geht. Als Kind schaute ich in jeder neuen Ausgabe als erstes nach, ob wir auch wirklich drinstanden; es war eine irgendwie beglückende Vergewisserung, eine quasi behördliche Daseinsbestätigung. Das Telefon war ein schweres Ding aus schwarzem Bakelit mit einer lustig schnurrenden Wählscheibe, und das Telefonbuch hieß offiziell Fernsprechteilnehmerverzeichnis.

Später war es nicht mehr schick drinzustehen, sondern gerade nicht drinzustehen; das Zugehörigkeitsgefühl zur Oberschicht der anonymen Anschlußinhaber manifestierte sich durch raunendes Preisgeben der familiären Geheimnummer unter Klassenkameraden. Das Telefonbuch blieb trotzdem das entscheidende Kriterium, nur umgekehrt, weil es inzwischen durch die Allgegenwart des Telefons zu einer Art Einwohnerverzeichnis geworden war.

Darin lag nun seine eigentliche Faszination: Man hatte das komplette Abbild einer Stadt oder Gemeinde vor sich, ein Namensreservoir ohnegleichen. Schriftsteller auf der Suche nach Ideen, wie ihre Figuren heißen sollten, pflegten Telefonbücher auf gut Glück mit dem Messer aufzuschlagen. Echte und Hobby-Detektive pflegten Adressen per Telefonbuch zu ermitteln und auf diese Weise Nachbarschaftsbeziehungen auszubaldowern. Das war lange vor der Großen Elektronischen Revolution, die jedes Telefonbuch überflüssig machte.

Wenn schon die gesamte gedruckte Literatur durch die Internet-Technologie in eine Existenzkrise gestürzt wurde, so gilt das für jene Art von Büchern, die man nicht wirklich liest, sondern bloß konsultiert, erst recht. Das Telefonbuch ist schon seit längerem ein groteskes Kohlenstoff-Denkmal im Computerzeitalter. Jedes Jahr veranstaltet die Post in ihren Filialen, neuerdings auch in Supermärkten ein Vergangenheits-Happening, indem sie den Leuten gegen Vorweisen einer Berechtigungskarte einen kiloschweren broschierten Papierstapel übereignet. Es sind Leute ohne Internetzugang. Leute, die auch niemals die Auskunft anrufen würden. Leute, die im Telefonbuch nachschlagen, ob es ihre Bekannten überhaupt noch gibt.

Ansonsten sind die Ausreichung sowie das Wiedereinsammeln von Abermillionen Tonnen mit Namen und Nummern bedruckten Zellstoffs als Teil einer gigantischen Kunstaktion zu betrachten: das Telefonbuch als soziale Skulptur. Bei den Nummern kann man sich in Zahlenmystik ergehen und – zumindest theoretisch – die Durchschnittstelefonnummer der Gesamtbevölkerung errechnen. Seltsamerweise wurde das noch nie gemacht. Bei den Namen braucht man Kenntnisse einer uralten Kulturtechnik, die früher schon die Kinder anhand des Telefonbuchs lernten: das Alphabet und seine Reihenfolge. Diese Kenntnis ist dank Internet bald auch nicht mehr vonnöten.
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