Selbst viele Milliarden und globale Unternehmungen nützen einem nichts, wenn man nicht nach der Pfeife der lupenreinen Demokraten tanzen will. Jene, die täglich das Recht brechen, werden einem Rechtsbrüche vorwerfen.
Es ist schon merkwürdig, wie schnell der Alltagsverstand mit Welterklärungen zufrieden ist, wenn er damit nur hinreichend oft und emotional gefüttert wurde. Es ist wie beim Hass auf Rosenkohl, an dessen konkreten Geschmack sich so mancher kaum noch erinnern kann. Anders als an die Tränen und die Wut im Bauch, die man vergoss, wenn man ihn als Kind essen musste.
Befragt man Passanten heute nach der Social Media Plattform Telegram, bekommt man oft zu hören, dass das ja irgendwas „von den Russen“ sei und man wohl besser die Finger davon lasse. Man habe da auch etwas von „Darknet“ und Kriminellen gehört, die da unterwegs seien, und wurde der Gründer von Telegram, dieser Russe Pavel Durow, nicht gerade in Paris verhaftet? Die Franzosen machen sowas doch sicher nicht ohne Grund! Russen – das ist das Rosenkohl-Argument moderner politischer Oberflächlichkeit.
Dem Vor-Urteil schließt sich der französische Präsident Macron gern an und ergänzt, ihm seien Gerüchte zu Ohren gekommen, Durow werde politisch verfolgt, doch er, Macron, stelle fest, dass dies nicht der Fall sei. Ganz normale staatsanwaltliche Ermittlungen würden da ausgeführt! In Frankreich ist es jedoch wie in Deutschland durchaus üblich, dass der Justizminister die Kasperklatsche mit der Handpuppe Staatsanwaltschaft führt. Durow, der zu einem Abendessen mit Privatjet, Bodyguard und Assistent nach Paris geflogen war, genießt nun also die volle Spanne der erlaubten 96 Stunden französischer Untersuchungshaft ohne Anklage. Und das in einem Land, dessen Staatsbürgerschaft er annahm, als er vor den Nebenwirkungen seiner russischen floh.
Erste Station des Exils war übrigens ausgerechnet Berlin
Durow ist eigentlich ein Phantom. Er gibt nur wenige Interviews, hält sich aus der Politik heraus und verfügt weder über das Ego eines Elon Musk noch den vorauseilenden Opportunismus eines Mark Zuckerberg. Seine Plattform VK verkaufte er und verließ eilig sein Heimatland, als die russische Regierung die Herausgabe von Daten ukrainischer Staatsbürger und russischer Oppositioneller verlangte. Erstens sei so etwas prinzipiell ausgeschlossen und zweitens war ihm klar, dass sein Leben in Russland nach dieser Weigerung nicht mehr das selbe sein werde. Die Idee für Telegram nahm er mit ins Ausland, ebenso eine Handvoll talentierter Softwareingenieure, darunter vor allem seinen hochbegabten Bruder.
Erste Station des Exils war übrigens ausgerechnet Berlin, und Telegram wäre heute vielleicht eine deutsche Plattform, hätte Durow bei dieser Gelegenheit nicht zuerst Bekanntschaft mit der deutschen Bürokratie gemacht. Die mitgebrachten Spezialisten waren den Behörden nicht EU-europäisch genug oder hatten vergessen, an der Grenze ihre Pässe wegzuwerfen, vielleicht, weil das 2014 noch nicht so üblich war. Also zog man weiter nach Dubai, wo die Firma heute immer noch sitzt und mehr Geld verdient als alle deutschen Social Media Plattformen zusammen.
Im April 2024 gab Durow dann doch mal ein Interview. Und zwar Tucker Carlson, der ihn in den Emiraten besuchte. Durow sagte, er vermeide es seit einiger Zeit so weit wie möglich, in die Nähe der großen internationalen Player zu geraten, um sie nicht in Versuchung zu bringen, ihm gewisse Bitten anzutragen, die er nur ablehnen könne. Gemeint waren Russland, China und die Vereinigten Staaten, und es wäre dem Ego von Präsident Macron zuzutrauen, dass er diese freche Auslassung des großen und mächtigen Frankreich in dieser Liste persönlich nahm. Bei Carlson erzählt Durow von einer Begebenheit, als er dann doch mal in den USA zu Besuch war. Einer seiner Mitarbeiter begleitete ihn, ein Softwareingenieur, denn bei Telegram gibt es keine anderen.
Eine Hintertür ist eine Hintertür. Jeder kann sie nutzen
Es kam zu einer Art geheimdienstlichem Abwerbeversuch, und als der scheiterte, versuchte man wenigstens aus dem Ingenieur herauszukitzeln, welche frei verfügbaren Softwarebibliotheken man bei Telegram gern nutze. Dazu muss man wissen, dass solche Frameworks vorgefertigte Tools für standardisierte Aufgaben enthalten, was das Programmiererleben natürlich sehr erleichtert, weil man nicht jedes Rädchen neu erfinden muss. Auf den Inhalt dieser Bibliotheken muss man sich dann aber auch verlassen, und wer es schafft, in solch einem Eierkarton ein Kuckucksei zu verstecken, steht eins-zwei-fix im Tresor. Carlson fragte nach, ob Durow glaube, amerikanische Geheimdienste hätten sich eine Hintertür zu Telegram verschaffen wollen. Durows diplomatische Antwort: Eine Hintertür ist eine Hintertür. Jeder kann sie nutzen.
Die starke Verschlüsselung von Endgerät zu Endgerät bei Telegram stellt für Geheimdienste offenbar ein Problem dar, dass sie (noch) nicht lösen können. Weder bekommt man vom Betreiber des Netzwerks einen Zweitschlüssel, noch hat man das handwerkliche Potenzial, das Schloss selbst zu knacken. Bleibt also nur die „freundliche Ansprache“ des Gründers und CEOs der Plattform. Zu dumm nur, dass der sich nicht wie Meta-Boss Zuckerberg oder der damalige CEO von Twitter, Jack Dorsey, in den USA aufhält, wo man ihn leicht „finden“ und unter Druck setzen kann, sondern in Dubai.
Im post-demokratischen EU-Europa lauert derweil der Digital Services Act (DSA), demzufolge Plattformbetreiber Inhaltsmoderation gegen Gummikategorien wie Missinformationen oder Hass vornehmen und „Forschern“ Zugang zu den Nutzerdaten gestatten sollen, was nichts als ein Euphemismus für Schnüffelei ist. Telegram verweigert sich dieser Spionage gegen seine Nutzer, und soll nun in Frankreich den Preis dafür bezahlen, indem man Durow all das in Gestalt von „Beihilfe zu…“ zur Last legen will, was seine Nutzer möglicherweise Verbotenes auf Telegram tun.
Geheuchelte Korrektheit
Und da ist sicher einiges dabei, genau wie Kriminelle das Telefonnetz der Telekom für ihre Aktivitäten nutzen, ihre „Waren“ mit DHL verschicken und die Früchte ihrer kriminellen Aktivitäten in Schließfächern und Konten europäischer Banken verwahren. Die Straße nutzen Polizei und Diebe gleichzeitig, und der Strom, der die Kaffeemaschine in der Staatsanwaltschaft antreibt, kommt durch die Leitungen desselben Netzbetreibers, die auch den Herd einer illegalen Meth-Küche speist. Kein Haftungsgrund sichtbar, nirgends! Ebenso wenig die Notwendigkeit, staatlichen Stellen privilegierten, geheimen und unbeschränkten Zugang zu jedem Paket, jedem Telefon und jedem Bankschließfach zu gewähren.
Doch wenn schon kein Haftungsgrund zu finden ist, sieht es mit Verhaftungsgründen denn besser aus? Es kommt ganz darauf an, was man erreichen will. Man kann Durow 96 völlig legal Stunden seiner Zeit stehlen, ihn verunsichern, ihn bearbeiten und unter Druck setzen. Man kann ihm anschließend überschwänglich für seine Kooperation danken (und damit die Telegram-User verunsichern) oder ihm mit dem Dank für die Kooperation drohen. Dabei wird man eine Emsigkeit und geheuchelte Korrektheit an den Tag legen – man mache ja hier nur seine Arbeit –, die bei oberflächlicher Betrachtung wie ehrliche Neutralität aussehen wird.
Doch am Ende hat man vor allem eine Botschaft gesendet: Die Macht hat, wer über den Ausnahmezustand (die pandemische Lage, die Untersuchungshaft, den Klimanotstand…) bestimmt, ohne sich Gedanken über die Rechtfertigung machen zu müssen. Selbst viele Milliarden und globale Unternehmungen nützen einem nichts, wenn man nicht nach der Pfeife der lupenreinen Demokraten tanzen willst. Jene, die täglich das Recht brechen, werden dir Rechtsbrüche vorwerfen. Jene, die allen Diktatoren dieser Welt für ein paar Kubikmetern Gas emsig die Hand schütteln, werden Entsetzen über deine „Kreml-Kontakte“ heucheln, und wer täglich tausende illegale Migranten über die Grenze winkt, wird dich wegen Beihilfe zu Menschenhandel anklagen. Also küsst den Ring oder zahlt den Preis, Pavel, Elon und Mark!
Zuckerberg war offenbar am leichtesten zu überzeugen. Meta beugte sich dem Druck der Regierung Biden-Harris und führte im erklärten Ausnahmezustand „pandemische Lage“ strenge Zensur auf seinen Plattformen ein. Er mag seine Kooperation heute bedauern, wie er dem Justizausschuss des US-Kongresses mitteilte, der Verrat an den Usern und Kunden wird davon jedoch nicht ungeschehen. Nicht anders bei Twitter, wo der große Kehraus der Geheimdienste und die Stilllegung geheimer Hebel erst nach der Übernahme durch Musk erfolgte.
Von allen relevanten Netzwerken war nur Telegram bisher unerreichbar und kaum unter Druck zu setzten. Doch dann reiste der CEO völlig legal und mit gültigen Papieren… nicht nach Peking, Minsk oder Moskau, sondern nach Paris, wo ihn genau das erwartete, worauf westliche Politiker in anderen Staaten gern verächtlich mit den eigenen und den Pressefingerchen zeigen: eine instrumentalisierte Justiz, die damit beschäftigt ist, Exempel zu statuieren und die das Recht auf freie Meinungsäußerung – sei es in Form von Wahrheiten, Lügen oder beißender Satire – mit Füßen tritt.
Roger Letsch, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de.