taz-Jubiläums-Ausgabe: Der Text, der nicht erscheinen sollte

Von Erwin Jurtschitsch und Ulli Kulke.

Der folgende Text wurde geschrieben als Beitrag für die Jubiläumsausgabe der taz („Gründertaz“), die kürzlich erschien – genau 40 Jahre nach der ersten Nullnummer 1978, produziert von vielen, die damals dabei waren. Auch die Autoren dieses Textes gehören zu den damaligen Gründern.

Ihr Stück, das mit der eigenen Geschichte, mit den durchaus zweischneidigen Erfolgen der taz als Teil der Linken sehr kritisch umgeht, der auch im eigenen Agieren eine Ursache für die immer tiefere, gefährliche Spaltung der Gesellschaft sieht, stieß in der übrigen Gruppe fast einmütig auf scharfe Ablehnung.

Der Tonfall der Vorwürfe: Der eine Autor hätte sich „an Springer verkauft“, der andere sei selbst linksradikal gewesen, und der Text „AfD-nah“. Zwischenzeitlich debattierte die Gruppe zwar darüber, ob man es sich leisten könnte, einen Beitrag, nur weil er von der Mehrheit nicht getragen werde, zu ignorieren. Letztlich war dann aber nur noch von der „Leiche im Keller“ die Rede und in der gedruckten Jubiläumsausgabe dafür kein Platz.

Die Onlineredaktion lehnte es rundum ab, den Essay zu übernehmen. Auf einer eigens für die übrig gebliebenen Artikel eingerichteten, versteckten URL-Plattform, der „Resterampe“ (Zitat Redaktionskonferenz), wollten die Autoren nicht erscheinen. Die Achse des Guten dokumentiert ihn:

Das Ende der links(-liberalen) Hegemonie

40 Jahre taz. 40 Jahre in denen die Linke, die Grünen, die feministischen Frauen, die taz, die Friedensbewegten und AKW-Gegner den Diskurs bestimmt haben. Oft zu Recht, oft aber auch zu Unrecht. Wir haben den Ton angegeben bis weit hinein in die sogenannten bürgerlich-konservativen Kreise.

Wir haben von der Homo-Ehe über den Atomausstieg bis zur Energiewende, von der Frauenquote über die Abschaffung der Wehrpflicht bis zum Dosenpfand alles Mögliche erreicht. Und wir alle haben zusammen den Diskurs dominiert. Auch dann noch, als sich viele der apokalyptischen Ankündigungen als zumindest zweifelhaft oder haltlos erwiesen (Waldsterben, Gentechnik).

Und wir haben die Moral dominiert und uns als oberste Zensurbehörde für Menschenrechte und Aufklärung geriert. Nur Wenigen fiel auf, was für schlimme Herrscher und Bewegungen sie unterstützt haben, direkt oder indirekt, aktuell oder rückblickend (Castro, Che, Mao, Ayatollah, Ortega und wie sie alle hießen), hier und da sogar RAF, 2. Juni oder das SED-Regime.

Dutschkes „Marsch durch die Institutionen“ war erfolgreich. Noch erfolgreicher war der durch die Redaktionen, ideell und faktisch auch ausgehend von der taz. Seine Teilnehmer haben auf elementaren Gebieten die Deutungshoheit erlangt, dieses Land verändert. Der Antikapitalismus, tiefe Zukunftsskepsis, auch Antiamerikanismus, einst exklusive Gefühle der Linken, wurden „en vogue“, zumindest in der Medienlandschaft. Heute ist die Trennschärfe zwischen der einst konservativen Union und den Grünen verschwunden, so dass es alles andere als sensationell war, als beide eine Regierungskoalition auf Bundesebene ventilierten und die Idee – zur gemeinsamen Enttäuschung beider – nur an einem Dritten scheiterte.

Jetzt, seit vier, fünf Jahren, wird die Kehrseite deutlich: Erst unmerklich wurden Konservative abgehängt, bekamen das Gefühl, dies sei nicht mehr ihr Land, wandten sich von der Politik ab, zuerst grummelnd über die Finanzierung der EU und den Euro. Dann wurde der Protest manifest.

Eine Partei betrat die Bühne, mit einem etwas wirren, aber freundlichen und keinesfalls rechtsradikalen Professor an der Spitze. Was die Deutungswächter – inzwischen bis weit hinein in die „bürgerliche“ Presse – nicht hinderte, reflexhaft mit der Nazikeule zu antworten. Mit ihr bewaffnet machten sie sich den alten Straußschen Imperativ zu eigen, rechts von der Union dürfe keine Partei entstehen, obwohl die Union selbst längst das Lager gewechselt und ein gewaltiges Vakuum hinterlassen hatte. Dennoch stigmatisierten sie die neue Partei von Beginn an, und erreichten, was sie wollten: Wer im konservativen Lager etwas auf sich hielt, blieb ihr tunlichst fern, auch jener Professor verschwand von der Bildfläche. Ergebnis: Die schlimmeren Protagonisten wurden spielbestimmend. Natürlich waren sich die auf der guten Seite sicher: Der Spuk geht vorbei. Dann aber haben sie und Ihre Kanzlerin alles getan, um die Partei auf heute 17 Prozent zu hieven.

Als Merkel die Grenzen öffnen ließ, haben sie sich auf die Brust geklopft und die Moral noch ein wenig höher gehängt. Dieses neue Deutschland werde so wunderbar, weil endlich so viele tolle und kluge Menschen einwandern würden, und dann wäre das Land endlich da angekommen, wo die Grünen-Chefin Göring-Eckhardt es hinhaben wollte. Im Paradies. Die Banlieus als warnendes Beispiel? Nicht für uns, meinten Göring-Eckardt und Merkel und ihre Einheits-Fangemeinde, wir können das besser. „Wir schaffen das“.

Ein doppelt fataler Irrtum: Nicht nur deshalb, weil längst die Probleme sichtbar sind, weil eine Migration ab einer bestimmten Größenordnung eben nicht nach Parteitagsbeschlüssen der Grünen abläuft, sondern eher schon nach dem Drehbuch des Films „Gangs of New York“. Aber auch, weil die Akzeptanz im Land kein beliebig steuerbarer Parameter ist, trotz allen überwältigenden, massenhaft gezeigten guten Willens. 

Der Teil der Bevölkerung, der sich vom links(-liberalen) Diskurs nicht mehr vertreten fühlte, wuchs plötzlich von Tag zu Tag. Listigerweise orientierten sich die Gegner der Migrationspolitik an den alten Grünen samt ihrer Demonstrationskultur. Dennoch werden Kundgebungsteilnehmer, Wähler und Menschen mit manchmal durchaus klugen, berechtigten Fragen pauschal und ohne Differenzierung zu Nazis, Rassisten, Menschenfeinden oder Populisten erklärt. Wie auch gleich die Regierungen halb Europas.

Nicht vergessen dürfen wir nämlich auch: Die so geliebte Kanzlerin hat den Brexit maßgeblich mitbefördert und Europa gespalten. Fast ganz Europa (auch Macron!) verweigert sich bis heute der neuen Supermacht der Moral. Hatten die Europäer früher Sorge vor der Militärmacht und dem ökonomischen Riesen Deutschland, so war es nun der Ärger und die Sorge über die hochfliegende Moral. Wieder einmal schlugen die Deutschen einen Sonderweg ein, allein gegen fast den gesamten Rest der EU.

Die Konsequenz aus all dem: Man igelt sich ein. Inzwischen haben die deutsche Linke, die Grünen und große Teile der Medien ihr Feindbild wieder. Das Land, von dem so viele von ihnen wegen der Willkommenskultur gerade so begeistert waren, wurde plötzlich „präfaschistisch“. Die Kanzlerin drohte, unisono mit Claudia Roth, das sei womöglich „nicht mehr mein Land“. Und eine Staatsekretärin stellte sich die Frage, ob sie nicht doch auswandern solle.

Und so vertiefte sich die Spaltung der Gesellschaft. Die Überheblichkeit, die Selbstgefälligkeit, die Dämonisierung nahmen zu. Jeder und jede, die sich dem Konsens verweigerte oder ihn sanft in Frage stellte, wurde öffentlich fertiggemacht, erhielt auch schon mal Morddrohungen, wie die „Zeit“-Autorin Mariam Lau. Alle mit abweichenden Ansichten waren und sind Rassisten, Faschisten oder Unmenschen.

Dabei dürfen wir nicht vergessen: Immer, wenn das Freund-Feind Denken sich so zuspitzt, sind ein paar junge Menschen auf die Idee gekommen, man müsste schlimmes Unglück durch Waffengewalt verhindern, auf beiden Seiten des Grabens.

Immer wieder taucht der Vorwurf auf, jeder, der die Migrationsdebatte kritisch führe, der pragmatische, vor allem wieder gesetzestreue Lösungen suche, diene nur der AfD. Dabei zeigt sich von Wahl zu Wahl deutlicher: Selbst jene, die diese Haltung für moralisch gerechtfertigt halten, müssen eingestehen, dass sie alles andere als zielführend ist.

Die Hegemonie des linksliberalen Diskurses ist am Ende. Die Faschismuskeule wird morsch. Und ebenso die Idee einer linken Sammlungsbewegung. Zu durchsichtig ist das Motiv, zu simpel die Idee, zu fern der Wirklichkeit. Nichts eignet sich für eine liberale, linke Politik weniger als die Migrationsfrage. Offenbar kann nur eine (wirklich) konservative Partei diese Fragen so beantworten, dass die menschenverachtende Alternative nicht die Mehrheit im Lande gewinnt. Ein zeithistorisch weiser Kopf hat kürzlich geschrieben: „Ein Pendel, das zurückschlägt, bleibt nicht in der Mitte stehen. Von ‚no borders, no nation‘ zu ‚Ausländer raus‘ ist es deshalb nur ein kleiner Schritt.“

Nach den Vorfällen von Chemnitz Ende August forderte Angela Merkel die Deutschen auf, Position zu beziehen. So ein Appell klingt immer gut, doch er ist in dieser Situation eher wohlfeil, ja sogar gefährlich, weil er die Verantwortung des Staates abschiebt. Noch mehr Engagement der Zivilgesellschaft kann und darf eines nicht ersetzen: die Durchsetzung des Rechtsstaates – gegenüber Rechts- wie Linksradikalen, Groß- und Kleinkriminellen, Einheimischen wie Migranten. Im Übrigen mangelt es derzeit ja auch nicht an Positionen, sondern daran, dass deren Vertreter sich gegenseitig zuhören. 

Wir müssen präziser, ernsthafter, weniger schulmeisternd und vor allem viel offener und ehrlicher denken, reden und streiten. Auch über den tiefen Graben hinweg, den gerade wir mit am effizientesten ausgehoben haben. Und darauf verzichten, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Es könnte sonst nämlich geschehen, dass die nächsten 40 Jahre ganz anderen Protagonisten gehören.

Tragen wir dazu bei, dass es nicht die Schlimmsten sein werden. 

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Robert Lederer / 10.10.2018

Lieber Herr Kulke, als Erstleser der tageszeitung habe ich Ihre Artikel durchaus gerne gelesen. Eigentlich sind wir es gewohnt, daß man für Beurteilungen auch Argumente bringen sollte. Sie schreiben:  “daß die menschenverachtende Alternative die Mehrheit im Lande gewinnt”. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wieviele Lebenschancen durch die verfasungswidrige Politik der Bundesregierung für die Deutschen vertan werden, was es bedeutet, wenn bis zu 55 Milliarden im Jahr nicht für den Souverän aufgewandt werden? Finden Sie das nicht auch menschenverachtend? Und die einzige Partei, die gegen diesen Wahnsinn aufsteht, nennen Sie “menschenverachtend”? Ich bitte um Argumente Ihrerseits für diese Herabwürdigung von Menschen, die sich ständig Angriffe auf Leib und Leben erwehren müssen, wiel sie einer zugelassenen Partei angehören. Neulich in Gießen: ein Afrikaner setzt sich zu einem Mädchen und umarmt sie; sie beginnt zu weinen. Finden Sie nicht auch, daß eine Regierung, die so etwas zulässt, indem sie wesentliche Merkmale eines Staates nihiliert, menschenverachtend ist? Das ist anscheinend der neue Gesslerhut, wie damals in den 70ern: “ich distanziere mich”, ich bringe eine Verurteilung, ich beschimpfe die, damit ich den Rest schreiben kann. Informieren Sie sich mal , Herr Kulke.

Frank Gausmann / 10.10.2018

Wow, ein Text wie ein Vorschlaghammer! Hier wird des Pudels Kern in knappen, aber enorm stimmigen Sätzen herausgearbeitet. Moralische Hybris der links-liberalen Meinungsbildner, deutscher Sonderweg inbegriffen!

H. Hoffmeister / 10.10.2018

Sehr geehrte Autoren, Danke dass Sie Ihre Lernkurve auf Kosten einer demokratischen Gesellschaft durchlaufen haben und spät zu vernunftsorientierten Sichtweisen zurückkehren. Andere - z. B.  Trittin, Roth etc. - verfolgen weiter ihren ideologischen Irrsinn -  dabei lustigerweise von denen alimentiert, die sie so bekämpfen. Störend ist das von Ihnen immer noch nicht aufgegebene AfD-Bashing. Ich bin den allermeisten in dieser Partei tätigen Mitbürgern für Ihren Mut enorm dankbar, sich dem moralisierenden Mainstream, zu dem die Autoren dieses Textes leider immer noch zu einem gewissen Anteil gehören, entgegenzustellen.

Ulrich Viebahn / 10.10.2018

Als Abonnent der taz kann ich der zurückhaltenden Analyse der beiden Herren nur zustimmen. Immerhin ist die taz außerhalb des Politischen-Wirtschaftlichen-Technischen oft unterhaltsam und witzig. Weitgehend dpa-frei. Durch ihre Fixierung auf unhaltbare Meinungen und die Lesebedürfnisse einer eng definitierten Leserschaft gewinnt sie keine interessante Autoren. Der “Marsch durch die Redaktionen” hat tatsächlich die Manipulation zum Normalfall gemacht. Wer glaubt noch den Nachrichten der ARD und des ZDF? Und: Die “großen” Zeitungen (und am liebsten auch die Lokalzeitungen) wollen immer mehr Bürger nicht mehr kaufen.

Dr. Roland Mock / 10.10.2018

Die Analyse des linken Zeitgeistes und seiner zerstörenden Auswirkungen auf die Gesellschaft (übrigens auch auf die Wirtschaft) finde ich treffend. Für Linke geradezu mutig. Mit der Warnung vor der“ menschenverachtenden Alternative“ kann ich nichts anfangen. Die ist ja schon an der Macht, wie soll es also schlimmer werden ? Übrigens Kompliment an Kommentator Heinicke, der geschrieben hat, er habe in seinem Leben noch keinen Linken getroffen, der liberal sei. Geht mir exactellement genauso. „ Linksliberal“ ist ein Widerspruch in sich. „ Linksliberale“ sind links, sonst nichts.

Regina Dexel / 10.10.2018

„Pure, unbefleckte Dummheit. Die Leere im Schädel muss grenzenlos sein.„ twitterte Joachim Steinhöfel in Sachen der genannten Staatssekretärin. Das dürfte eine treffliche Zustandsbeschreibung vieler politischer Akteure bis weit hinein in das mediale Spektrum sein.

Hartmut Laun / 10.10.2018

Zitat: ” Nur Wenigen fiel auf, was für schlimme Herrscher und Bewegungen sie unterstützt haben, direkt oder indirekt, aktuell oder rückblickend (Castro, Che, Mao, Ayatollah, Ortega und wie sie alle hießen), hier und da sogar RAF, 2. Juni oder das SED-Regime.”. So leicht wollen die linken Epigonen es sich machen, sich mit Massenmördern solidarisch denken, fühlen und sie Lobpreisen, Huch, das ist gar keinem von uns so richtig aufgefallen, wie das vergessene Preisschild am neuen Mantel. Und heute, der importierte islamischen Faschismus, begleitet mit Frauenunterdrückung, Ausgrenzung von Homosexuellen, mit dem permanenten Versuch die Scharia in Deutschland als Paralleljustiz zu fordern und zu praktizieren, die Judenfeindlichkeit dieser Religion und ihrer Gläubigen. Die wurden nach Deutschland eingeladen vor allem von den Linken/ Grünen in den Institutionen mit wird mit Nazi entgegen Recht und Gesetz verteidigt. Das alles fällt denen dann erst 40 Jahre später wieder auf. Wenn wir das gewusst hätten, aber wir haben keinem geschadet

Ernst-Friedrich Behr / 10.10.2018

Bitte, Herr Jurtschitsch und Herr Kuhlke, klären Sie mich auf, was Sie mit Ihrer “menschenverachtenden Alternative” meinen. Und wenn Sie mit dieser Formulierung die AfD umschrieben haben, bitte ich Sie, vielleicht hier in einem Folgeartikel, zu erläutern, wo die AfD menschenverachtende Positionen vertritt. Herzlichen Dank.

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