Von Peter Hemmelrath.
Tarik S. ist der Vorbereitung von Anschlägen für den Islamischen Staat angeklagt. Nach aktuellem Stand der Beweisaufnahme ist eine Prognose fürs Urteil schwierig. Aber es gab beunruhigende Einblicke in den Umgang der Behörden mit Gefährdern.
„Was macht man in Ihrer Religion, wenn jemand vom Dämon besessen ist?“, fragt der Vorsitzende Richter Mario Plein. „Mehr beten, mehr im Koran lesen und zuhause bleiben“, antwortet der bärtige Zeuge. Die Antwort ist ernst gemeint. Kurz zuvor hatte der Zeuge berichtet, dass Tarik S. offenbar psychische Probleme hatte, unter Schlafstörungen litt und deshalb fürchtete, von einem Dämon besessen zu sein.
Auch andere muslimische Zeugen aus dem Umfeld von Tarik S. berichteten über entsprechende Auffälligkeiten. Eine muslimische Studentin, die er im Internet kennengelernt hatte, sagte aus, schnell ihr Interesse an ihm verloren zu haben, nachdem er ihr auch noch von seiner Zeit bei der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) erzählt hatte.
Bei seinen nicht-muslimischen Mitmenschen, denen er nichts von seinem Glauben und seiner IS-Vergangenheit erzählt hatte, kam Tarik S. deutlich besser an. So sprachen am letzten Mittwoch im Duisburger Landgericht faktisch alle nicht-muslimischen Zeugen davon, dass sie „nur Gutes über ihn sagen“ können und „nur positive Eigenschaften an ihm festgestellt“ haben. So soll er allen Menschen freundlich und hilfsbereit begegnet sein. Seine Toleranz anderen gegenüber sei „vorbildlich“ gewesen, sagte ein Zeuge. Auf Partys, bei denen er auch Alkohol getrunken habe, sei er stets fröhlich gewesen.
Er tat, als fühle er einer enthaupteten Leiche den Puls
Insbesondere bei Frauen kam Tarik S. damit wohl ungewöhnlich gut an. So gut, dass einzelne von ihnen ihn jetzt in der Haft besuchen und ihm als Zuschauer vor Gericht Beistand leisten. Und deren Anmerkungen am Rande der Verhandlung lassen keinen Zweifel daran, dass sie noch immer fest an seine Unschuld glauben.
Das sind Reaktionen, die nicht jeder versteht. Denn bei dem 30-jährigen Angeklagten handelt es sich um einen schlechten alten Bekannten. Bereits 2013 reiste der ägyptischstämmige Deutsche nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Dort nannte er sich „Osama, der Deutsche“. Seine Gesinnung zeigte er etwa in einem Video, in dem er so tat, als fühle er einer enthaupteten Leiche den Puls und höhnisch fragte: „Was fehlt ihm denn?“.
2015 heiratete er eine Frau aus den Niederlanden, die sich ebenfalls dem IS angeschlossen hatte. Im Jahr darauf kehrte er mit seiner kranken und inzwischen schwangeren Frau nach Deutschland zurück. Im April 2017 wurde er vom Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) wegen IS-Mitgliedschaft zu fünf Jahren Jugendhaft verurteilt. Die Niederländerin trennte sich später von ihm. Seine Strafe musste er vollständig absitzen.
Er wolle „die Nacken der Kuffar spalten“
Jetzt ist er angeklagt, sich gegenüber einem Mittelsmann des IS in Syrien dazu bereit erklärt zu haben, in Deutschland einen Anschlag zu begehen. Die Anklage geht davon aus, dass der IS ihn und seine damalige Frau 2016 nur deshalb gehen ließ, damit er später mit einem Anschlag in Deutschland beauftragt werden kann. Die ebenfalls als Zeugin vernommene Niederländerin widerspricht und sagt, der IS habe sie nur zur medizinischen Behandlung in der Türkei ausreisen lassen. Diese Gelegenheit hätten beide dann zur Rückkehr genutzt. Tarik S. selbst schweigt und beschränkt sich darauf, die Gespräche über ihn stets lächelnd zu verfolgen.
Damit zeichnet sich nach drei Verhandlungstagen nur ab, dass der 30-Jährige nach seiner Haftentlassung offenbar ein Doppelleben geführt hat: Dass er in einem Nasheed, einem jihadistischen Kampflied, gesungen habe, er wolle „die Nacken der Kuffar (Ungläubigen) spalten“, sich aber gleichzeitig mit eben diesen Ungläubigen auch sexuell vergnügt hat, schien für ihn kein Widerspruch zu sein. Das mag anstößig und empörend sein. Strafbar ist es aber nicht.
Gleiches gilt dafür, dass er in Chats geäußert habe, ihm sei „die Hamas zu liberal“, sein Weg sei „mehr der des IS“ sowie an anderer Stelle gesagt habe, er freue sich darauf, „seine Wohnung zu verlassen, um wieder für Gottes Sieg zu kämpfen, bis zum Sieg oder zu sterben“. Derlei Kommunikation kann so verstanden werden, dass er von einem Anschlag phantasiert und vielleicht auch geträumt hat. Aber auch das wäre nicht strafbar.
Hinweise von einem ausländischen Geheimdienst
Auch der für jeden im Saal erkennbare „Gebetsfleck“ auf seiner Stirn, eine Verhornung der Haut, die durch wiederholte Niederwerfung und Berührung des Bodens mit der Stirn während des islamischen Gebets entsteht, zeigt deutlich, dass er sich nicht von seiner fundamentalen Religionsausübung abgewendet hat. Aber auch das ist nicht strafbar. Damit zeichnet sich schon jetzt ab, dass es für die Generalstaatsanwaltschaft schwer werden wird, die Anklage auch zu beweisen.
Und so manches, was sich im Saal 201 des Duisburger Landgerichts sonst noch offenbart, wirkt beunruhigend. So räumten die Ermittler unverblümt ein, dass die Hinweise auf die mutmaßlichen Absichten von Tarik S. – wieder mal – von einem ausländischen Geheimdienst gekommen sind. Daraufhin informierte das Bundeskriminalamt (BKA) die örtliche Polizei.
Zuerst hieß es, S. wolle einen Anschlag auf eine Polizeiwache begehen. Dafür fanden sich jedoch keine Hinweise. Dann war von der sogenannte LGBTQ-Szene als Ziel die Rede. Dies schien den Ermittlern plausibler, da S. plötzlich und überraschend wieder Kontakt zu seinem Bruder aufgenommen hatte, der heute als sogenannte Transfrau lebt. Damit lag die Vermutung nahe, dass er den Kontakt gesucht habe, um die LGBTQ-Szene auszuspionieren.
Teilnahme am Aussteigerprogramm Islamismus
Zwischenzeitlich hieß es, „Schlüsselfiguren der islamfeindlichen Szene“ wie etwa Michael Stürzenberger oder Irfan Peci sollten getötet werden. Im letzten Hinweis des BKA wurde davon ausgegangen, dass Tarik S. in der aufgeheizten Stimmung nach dem 7. Oktober mit einem LKW in eine Pro-Israel-Kundgebung fahren wolle, um Juden und andere israelsolidarische Menschen zu töten. Das ließ wohl vor Ort alle Alarmglocken schrillen, was auch den kurz darauf erfolgten Zugriff durch Spezialeinsatzkräfte erklären würde.
Nicht minder verstörend sind die unterschiedlichen Darstellungen zur Teilnahme von Tarik S. am Aussteigerprogramm Islamismus (API). So teilte dessen Verteidiger Mutlu Günal nach der Verhaftung von S. der Presse mit, sein Mandant habe für seine „Abkehr“ ein Belobigungsschreiben des Landesinnenministeriums erhalten.
Vor Gericht berichtete eine Ermittlerin jedoch, dass beim API schnell der Eindruck entstanden sei, Tarik S. habe „sein Deradikalisierungsinteresse nur vorgespielt“ und sei deshalb auch weiterhin als Gefährder eingestuft worden. Auch soll er im Gefängnis versucht haben, Mithäftlinge zu „radikalisieren“. Was sich auf den ersten Blick gegenseitig ausschließt, könnte dennoch gut zusammenpassen. Denn Kritiker argwöhnen bereits seit Jahren, dass das nordrhein-westfälische Innenministerium Erfolge seiner kostspieligen Aussteiger- und Präventionsprogramme vorgaukelt, die es tatsächlich so nicht gibt.
„Für Gottes Sieg zu kämpfen oder zu sterben“
Auch zeigt sich bei diesem Prozess ein strukturelles Problem, dem weder Justiz noch Politik bislang allzu viel Beachtung geschenkt haben: Üblicherweise werden Terror-Verfahren in Nordrhein-Westfalen beim OLG Düsseldorf zur Anklage gebracht. Dort hätten sich Tarik S. und Mutlu Günal einem ausschließlich aus Berufsrichtern bestehenden Staatsschutz-Senat gegenübergesehen, der ständig über Islamisten zu Gericht sitzt und damit über die Jahre hinweg hohes Fachwissen angesammelt hat. Und für den beide „alte Bekannte“ gewesen wären.
Dieser Fall wurde jedoch beim örtlich zuständigen Landgericht zur Anklage gebracht. Bei Landgerichten gibt es aber keine spezifischen Staatsschutz-Kammern. Sondern nur Strafkammern, die manchmal mit organisierter, zumeist aber mit „gewöhnlicher“ Kriminalität konfrontiert sind. Und die als Schöffengericht bezeichnet werden, weil sie aus drei Berufs- sowie zwei Laienrichtern bestehen. Dabei erfahren die Laienrichter erst am Tag des Prozessbeginns, worum es überhaupt geht. In der Summe führt all das nicht selten dazu, dass Landgerichte mit Islamismus-Prozessen überfordert sind.
Dass dies auch hier der Fall sein könnte, zeigte sich am Freitag, als der Kammervorsitzende genau erklärt haben wollte, warum die Freude von Tarik S., seine Wohnung zu verlassen und bald wieder „für Gottes Sieg zu kämpfen oder zu sterben“, jihadistisch sei und welche Quellen es für diese Deutung gebe. „Was ist an diesem Satz so besonders?“, wollte er wissen. Daraufhin entspann sich eine längere Debatte, die so wirkte, als müssten gleich zwei Islamwissenschaftler dem Gericht erst einmal die einfachsten Grundelemente des Jihadismus erläutern.
Beunruhigende Einblicke in die Arbeitsweisen der Behörden
Mutlu Günal nutzte die bizarr anmutende Situation geschickt, um die Frage danach aufzuwerfen, ob mit dem Begriff der Wohnung nicht auch anderes gemeint sein könnte. Eine solche Debatte wäre aufgrund der Eindeutigkeit der Bedeutung solcher Formulierungen vor einem OLG kaum vorstellbar. Nicht erörtert hingegen wurde die naheliegende Frage, in welchem Kontext Tarik S. seine Freude kundtat, also ob die Aussage anlasslos erfolgte oder eine Reaktion auf eine an ihn gerichtete Erwartung war.
Und auch sonst hat Mutlu Günal eher leichtes Spiel. So hinterließen bislang fast alle Behördenmitarbeiter im Zeugenstand den Eindruck, sich nur mit Teilaspekten des Falles befasst, aber von dessen Gesamtbild nichts gewusst zu haben. Damit entsteht nur schwerlich ein Bild, wer wann welche Erkenntnisse hatte und wo diese zusammengefügt wurden. Und Günal kann immer wieder punkten, weil seine manchmal eloquent, manchmal aber auch ganz einfach gestellten Fragen nur selten vollständig beantwortet werden.
Derzeit wird von einem Urteil am 27. August ausgegangen. Nach dem bisherigen Stand der Beweisaufnahme dürfte eine Prognose, wie das ausfallen könnte, kaum möglich sein. Tarik S., der vor jeder Sitzung in Handfesseln zum Gericht gebracht wird, kann sich also durchaus Hoffnungen auf ein Urteil in seinem Sinne machen. Und die beunruhigenden Einblicke in die Arbeitsweisen der Behörden im Umgang mit Gefährdern dürften auch mit einer möglichen Verurteilung nicht automatisch wieder weggewischt sein.
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter.