Oswald Metzger, Gastautor / 09.08.2014 / 10:02 / 1 / Seite ausdrucken

Tarifpluralität statt Tarifkartell

Im Juli 2010 hatte das Bundesarbeitsgericht seine jahrzehntelange Rechtsprechung aufgehoben und die Tarifeinheit beendet, nach der im selben Unternehmen nur ein Tarifvertrag gilt. Diese Entschei-dung war ein Sieg für die in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit, nach der für je-dermann und für alle Berufe gewährleistet ist, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirt-schaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Miteinander konkurrierende Gewerkschaften stehen unter dem Schutz dieser grundgesetzlichen Koalitionsfreiheit. Unsere Verfassung will gerade kein Monopol der großen Gewerkschaften, kein Tarifkartell, sondern Tarifpluralität.

Doch Pluralität und Wettbewerb haben viele Gegner, gerade auch im Lager der etablierten Tarifvertragsparteien. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände wie auch der Deutsche Gewerkschaftsbund mühen sich im seltenen Schulterschluss bei der Großen Koalition um eine gesetzliche Regelung, die den kleinen, aber agilen und kampfbereiten Spartengewerkschaften das tarif-politische Handwerk legt. Nur noch die mitgliederstärksten Gewerkschaften sollen in den Unterneh-men Tarifverträge aushandeln können, die lästige Konkurrenz durch den Gesetzgeber ausgeschaltet werden. In der vergangenen Woche erst erinnerte Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger die Regierung an ihre diesbezügliche Bringschuld.

Doch hat die Bildung von Spartengewerkschaften nicht vor allem etwas mit dem Versagen der großen DGB-Gewerkschaften zu tun, die lange Zeit die unterschiedlichsten Berufsgruppen in breit ge-streuten Branchen über einen Kamm scheren wollten? Oder mit Arbeitgebern, denen das Sensorium für die Arbeits- und Einkommensbedingungen wichtiger Gruppen ihrer Belegschaften abhandenge-kommen war? Neue Organisationen bilden sich immer erst dann dauerhaft, wenn die etablierten Gewerkschaften ihre Bindungskraft verlieren.

Wer, wie ich, für die Tarifpluralität plädiert, muss noch lange nicht jeden Streik der Vereinigung Cockpit, einer Spartengewerkschaft der Piloten, für richtig finden, die für fürstliche Besitzstände bei ihrer Altersversorgung tagelang die Lufthansa lahmlegten. Doch die verheerende Medienlage und das Loch in der Kasse ihres Arbeitgebers Lufthansa werden auch bei den Funktionären der Vereini-gung Cockpit ganz schnell für mehr Realitätssinn sorgen. Auch Spartengewerkschaften bewegen sich im kritischen gesellschaftlichen Umfeld und nicht im luftleeren Raum.

Wer glaubt, Deutschland stünde wegen der Tarifpluralität ein permanenter Streik-Ausnahmezustand bevor wie anno dazumal im Großbritannien der Vor-Thatcher-Ära, der verkennt die Fakten. Dort gab es damals rund 400 Gewerkschaften, die im permanenten Streikmodus rotierten. In Deutschland sind es – großzügig gezählt – gut einhundert. Die Zahl der DGB-Gewerkschaften hat sich sogar durch den Konzentrationsprozess in den vergangenen zwanzig Jahren von 16 auf 8 halbiert. Allein die „Ge-mischtwaren-Gewerkschaft“ Verdi deckt über 1.000 (!) Berufe ab. Dass bei solchen Gewerkschafts-großorganisationen an der Mitgliederbasis der Wunsch nach Diversifizierung und Spezialisierung aufkommt, ist mehr als verständlich.

Der Gesetzgeber sollte sich hüten, das hohe Gut der grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit durch eine verordnete Tarifeinheit einzuschränken. Konkurrenz tut den Gewerkschaften wie auch den Arbeitgebern gut. Wir brauchen kein gesetzlich geschütztes Tarifkartell!   

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Leserpost

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Frank Allmand / 10.08.2014

Das Problem der großen Gewerkschaften sehe ich weniger in einer zu starken Vereinheitlichung als in einer übersteuerten Ideologisierung und einem Verlust des Verständnissen für den eigentlichen Sinn einer Gewerkschaft. Schließlich steht eine große, viele Berufe repräsentierende Gewerkschaft wie ver.di nicht zwangsläufig einer Differenzierung unterschiedlicher Interessen der von ihr vertretenen Berufstätigen entgegen. Aber wer sich heutige Gewerkschaftspositionen anguckt, der wird feststellen, dass es bei einem großen Teil davon gar nicht mehr um Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern geht. Entlarvend ist dabei nicht nur die immer wiederholte Forderung nach einem Mindestlohn (dessen größte Gegner die Gewerkschaften früher selber waren, weil sie einen solchen als Eingriff in ihren Bereich empfanden) sondern auch das massive Eintreten für eine höhere Alimentierung von Arbeitslosen (die naturgemäß keinen Arbeitgeber als Verhandlungspartner haben). Gemeinsam ist all diesen Forderungen, dass sie sich nicht gegen Arbeitgeber richten sondern gegen den Staat bzw. die Politik. Das hat auch in den klassischen Arbeiterberufen zu einem Ansehensverlust der Gewerkschaften geführt. Leicht nachvollziehbar: Warum sollte jemand Mitglied einer Gewerkschaft werden und sich dort engagieren, wenn das, was sie tut, viel eher in den Aufgabenbereich einer Partei fällt? Dann doch lieber gleich zum Original. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung natürlich in Berufen, die sich nie dem klassischen Arbeitermilieu zugehörig fühlten, die als Schlüsselpositionen große Macht auf ganze Industriezweige haben und in der Gesellschaft ein weit höheres Ansehen als der normale Industriearbeiter besitzen. Das Paradebeispiel hierfür sind sicher Piloten und Fluglotsen.

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