Sie hatte einen enormen Busen, überhaupt war sie das, was man früher eine stattliche Frau genannt hätte. Ihre Stimme habe ich noch heute im Ohr: sie war hoch, aber nicht kieksig, ein bisschen schartig, voll. Sie sprach Münchnerisch und rollte ihr R. Ich nannte sie „Tante Thea“. Sie war keine Tante, sie war die Frau, die auf mich (und noch ein paar andere Kinder) aufpasste, während meine Mutter arbeitete. Sie hatte dunkle, hoch toupierte Haare. Sie war nicht streng, sie war freundlich. Bei ihr durfte man sich beim Spiele dreckig machen: „Wer arbeitet, hat hinterher schmutzige Hände“, sagte sie oft. Wir Kinder waren also wie erwachsene Leute, und Spielen war etwas, das Tante Thea ernst nahm – wie eine richtige Arbeit.
Kindheitserinnerung: Ich spüre die Sommersonne im Gesicht, während wir an der Würm entlanggehen, das ist ein Bach, der im Starnberger See entspringt und durch Pasing fließt, einen Stadtteil von München. Ich esse eine Gummischlange, eine zuckrige Köstlichkeit, die an Gummibären erinnert, aber viel ergiebiger ist. Man biss kleine Stücke ab und ließ sie genüsslich im Mund zergehen. Tante Thea nahm mich zu einem Bäcker mit und kaufte mir diese Nascherei. Ich liebte sie dafür. Und ich liebte sie, weil sie freundlich war und nicht mit mir schimpfte. Wenn meine Mutter mich morgens bei ihr ablieferte, weinte ich; und nachmittags weinte ich noch einmal, weil sie mich wieder abholte.
Sie war Zeugin Jehovas. Das wusste ich damals nicht, ich habe es erst viel später erfahren. Sie muss also auf Straßen herumgestanden haben und den „Wachturm“ verkauft haben, eine seltsame Vorstellung. Meine Mutter ließ Tante Thea – das war viel später, als ich schon richtig groß war, vielleicht zwölf Jahre alt – ein Tonband besprechen. Noch viel später, als junger Erwachsener, habe ich mir dieses Tonband, das längst vergessen ist, mit wachem Bewusstsein angehört. Eine Zeugin Jehovas also. Ihre Schwester starb an der spanischen Grippe, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als meine Tante Thea noch klein war. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater ihre Schwester nach ihrem letzten Wunsch fragte. Ihre Schwester wollte ein bestimmtes Musikstück hören (etwas aus „Carmen“?). Ihr Vater hat dann das Grammophon aufgezogen, und während das Musikstück lief, starb ihre Schwester. Am Anfang der Nazizeit hatte sie einen jüdischen Bräutigam. Der wurde dann angeholt, nach Dachau. Als er zurückkam, hatten die Nazis ihn kastriert. „Es ist alles weggekommen“, sagte ihre Stimme auf dem Tonband. (An das Wort „weggekommen“ erinnere ich mich deutlich.) „Aber ich hätte ihn trotzdem genommen.“ Ihr jüdischer Bräutigam hat sich aber in einer Scheune aufgehängt. – Ich glaube nicht, dass sie danach noch Männer hatte. Ich weiß es nicht, aber es kommt mir so vor, als seien wir Kinder, auf die sie aufpasste, die einzigen gewesen, denen sie ihre große Wärme schenkte. Sie selber hatte natürlich keine.
Tante Thea besuchte uns noch oft in Österreich, als ich längst älter war. Sie verdrückte dann große Mengen Wiener Schnitzel und trank Weißbier aus hohen Gläsern dazu. Sie muss ein kindliches Gemüt gehabt haben: Einmal fand meine Mutter sie im Kinderzimmer mit mir und meinem kleinen Bruder, wie wir grade fröhlich dabei waren, alte Zeitungen in Stücke zu reißen.
Was weiß ich noch über Tante Thea? Sie liebte Illustrierte. Vor allem liebte sie Berichte über Könige und Königinnen. Damals verachtete ich das mit dem Hochmut eines Zwölfjährigen, er alles besser weiß; heute erscheint es mir wie ein weiteres liebenswertes Detail. Ich glaube, ihr wäre sehr recht gewesen, wenn Bayern einen „Kini“ gehabt hätte – so einen wie Ludwig II., einen guten Phantasiekönig. Mit der schicken Münchener U-Bahn fahren mochte sie dagegen gar nicht: „Ich komme noch bald genug unter die Erde“, sage sie. Dabei wirkte sie sehr fröhlich.
Einmal habe ich sie noch als sehr alte Frau gesehen, da war sie längst krebskrank und furchtbar abgemagert – sie, die stattliche Frau von einst. Tante Thea hatte auch Alzheimer, erinnerte sich kaum noch an mich, fand aber nett, dass ich bei ihr im Altersheim vorbeischaute. Wenig später starb sie. – Was für ein trauriges Leben, könnte man jetzt sagen. Die Schwester, die gestorben ist; der jüdische Bräutigam, der den Strick nahm. Aber wir, ihre Kinder, die nicht ihre Kinder waren, ahnten nichts von dieser Dunkelheit. Für uns war sie eine Sonne. Gestern fiel sie mir ohne Zusammenhang in der Subway ein, als ich gerade nach Manhattan fuhr. Und ich dachte etwas sehr Bayerisches: Vergelt´s Gott.