Klaus Leciejewski, Gastautor / 08.12.2021 / 06:00 / Foto: Imago / 56 / Seite ausdrucken

Taiwan – Die kommende Prüfung des Westens

Der chinesische Partei- und Staatschef Xi hat in den zurückliegenden Wochen mehrfach öffentlich betont, dass China die „abtrünnige Provinz Taiwan“ notfalls auch mit Waffengewalt der Volksrepublik angliedern werde. Was heißt das für den Westen?

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Informationen über Repressionen in der Volksrepublik China (im folgenden „China“) oder über Bestrebungen zur Ausweitung chinesischer Machtansprüche an die Öffentlichkeit gelangen. Dabei geht die größte Gefahr von den chinesischen Ansprüchen gegenüber Taiwan aus. Der chinesische Partei- und Staatschef Xi hat in den zurückliegenden Wochen mehrfach öffentlich betont (siehe hier und hier), dass China die „abtrünnige Provinz Taiwan“ notfalls auch mit Waffengewalt der Volksrepublik angliedern werde. Die militärischen Drohungen gegenüber Taiwan und gleichfalls Erpressungsversuche gegenüber anderen Staaten haben ihren Charakter verändert. Sie sind inzwischen keine Einzelerscheinungen mehr, sondern Normalität geworden, an die sich zahlreiche westliche Staaten gewöhnt haben, was wohl auch von China beabsichtigt ist (siehe hier, hier, hier, hier, hier und hier). Die Situation ähnelt früheren historischen Konstellationen, in denen eine Eskalation der anderen folgte, deren letztlicher Ausgang ungewiss war.

Die westlichen Analysten schätzen diese chinesische Politik unterschiedlich ein, was in einer Demokratie nicht negativ ist. Einige meinen, dies seien nichts weiter als bloße rhetorische Provokationen, wie vor allem in Westeuropa; andere sind sich sicher, China würde für direkte militärische Aktionen noch weitere zwei Jahrzehnte Aufrüstung benötigen, so in den USA verbreitet. Nur wenige erkennen darin ein konsequentes und zielgerichtetes Vorgehen Chinas, wie einige britische und amerikanische Historiker. Diese theoretische Positionierung ist jedoch keinesfalls eine isolierte akademische Angelegenheit, denn jene unterschiedlichen Sichtweisen reflektieren exakt die unterschiedlichen Auffassungen westlicher Regierungen, womit der Westen der chinesischen Politik ein breites Einfallstor ermöglicht. Einfallstor deshalb, weil der Westen nicht fähig ist zu erkennen, dass seine Haltung zu Taiwan zur Schlüsselfrage für seine Glaubwürdigkeit und letztlich seines Überlebens geworden ist. Verteidigt der Westen vorbehaltlos die Freiheit eines Volkes oder nimmt er Eroberung und Unterdrückung hin?

Da möglicherweise zahlreiche Leser dieses Beitrags den historischen Ausgangspunkt der Auseinandersetzung zwischen Taiwan und China nicht kennen, hier ein kurzer historischer Rückblick: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa griff die Sowjetunion an ihrer ostsibirischen Grenze vertragsgemäß die japanischen Truppen in der chinesischen Mandschurei an, um die amerikanischen Truppen bei der beabsichtigten Eroberung der Japanischen Inseln zu entlasten. Nach der Kapitulation Japans unterstützte die Sowjetunion die kommunistische Armee unter Mao umfangreich mit Waffen und Ausbildern, die Amerikaner hingegen hielten sich in der Unterstützung für die damalige chinesische Regierung unter Chiang Kai-shek zurück.

Neue Volksrepublik China international kaum anerkannt 

Die chinesischen Kommunisten siegten im Bürgerkrieg 1949 nicht allein durch die sowjetische Militärhilfe, sondern wesentlich auch durch die kommunistischen Verheißungen eines neuen Gesellschaftssystems, welches die alten chinesischen Strukturen überwinden würde, insbesondere durch die Versprechung einer umfassenden Bodenreform. Einfach gesagt, die Kommunisten hatten die besseren Waffen und den überzeugenderen Glauben.

Die Unfähigkeit der amerikanischen Administration, rechtzeitig die Verschiebung der Machtverhältnisse in China zu erkennen, hatte schon wenige Jahre danach fatale Folgen. Im Koreakrieg mussten tausende amerikanischer Soldaten ihr Leben lassen, weil in gerade einmal drei Jahren das kommunistische China eine schlagkräftige Bodenarmee aufgebaut hatte.

Chiang floh mit ca. zwei Millionen Anhängern auf die 160 km vom chinesischen Festland entfernt gelegene Insel Taiwan. Die neue Volksrepublik China wurde international kaum anerkannt. Taiwan verstand sich als Interessenvertreter des gesamten chinesischen Volkes und nahm dementsprechend auch im Sicherheitsrat der UNO den Sitz als „China“ ein. In den folgenden Jahren bedrohte China unentwegt aktiv militärisch Taiwan. Nach ihrem totalen Versagen im Bürgerkrieg agierten die USA zwei Jahrzehnte als Schutzmacht Taiwans.

Kehrtwende der USA

Bis zum Beginn der Reformen von Deng Ende der 1970er verblieb China auf dem Niveau eines Agrarstaates, während Taiwan sich zu einem modernen Industriestaat (früher einer der vier asiatischen „Tigerstaaten“) entwickelte. Es begann in Deutschland mit Dosenananas und endete weltweit mit dem größten Chipproduzenten (ca. 60 % Weltanteil bei 24 Mio. Einwohnern).

Anfang der 70er hatte sich für die USA die Welt verändert. In Korea waren die USA mit einem Waffenstillstand gerade so an einer Niederlage vorbeigeschrammt, aber sie hatten auch nicht gewonnen. 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR konnten sie den Einmarsch sowjetischer Truppen nicht verhindern, ebensowenig wie 1961 den Bau der Berliner Mauer. Und zu allem kam 1959 auch, 150 km vor der Küste Floridas, die Demütigung durch das gerade einmal 6-Millionen-Inselvolk der Kubaner hinzu. In der kubanischen Raketenkrise von 1962 kamen die USA rein zufällig um einen Atomkrieg herum. Der Schock wirkte noch bis zum Beginn der 70er nach. Zwar kämpften ihre Soldaten immer noch in Vietnam, hatten aber zu Hause den Rückhalt dafür längst verloren. Damals befanden sich die USA zudem in einer Wirtschafts- und Währungskrise, die Bindung des Dollars an das Gold musste aufgehoben werden. Japan und Deutschland hatten sich zu ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten entwickelt. Auf allen Ebenen war die stolze Nation deprimiert.

Der neue Präsident Nixon, zuvor x-mal politisch gescheitert, musste eine Umkehr zustande bringen. Mit einem im Nachhinein geradezu seherischen Blick setzte er einen Sicherheitsberater ein, der bereits fünfzehn Jahre zuvor mit der Konzeption einer außenpolitischen Neuorientierung für Furore gesorgt hatte. Henry Kissinger entwarf eine neue Sicherheitspolitik und rollte sie zugleich auch selber aus. Er vereinbarte mit der sowjetischen Führung Abrüstungsverträge, reiste im Geheimen nach Vietnam und China, um das Ende des Vietnamkrieges sowie die Rückkehr Chinas in die Weltpolitik vorzubereiten. Mit dieser Kehrtwende waren die USA außenpolitisch nicht mehr auf dem Rückzug, allerdings teilten Nixon und sein Einflüsterer den Bürgern der USA zwei Konsequenzen ihrer Neuorientierung nicht mit: die Preisgabe Südvietnams an die Kommunisten und die Degradierung Taiwans zu einem internationalen Paria in direkter Abhängigkeit von der politischen Situation im großen China. Das erste konnten die USA noch wegstecken, hingegen wurde Taiwan zu ihrem politischen Ur-Sündenfall.

Ende der 1970er begann in China unter Deng ein fulminanter Wirtschaftsaufschwung, bei dem das politische Problem „Taiwan“ erst einmal außen vor blieb. Das nutzte Taiwan, in dem es – ähnlich der früheren Bundesrepublik – seine Wirtschaftsentwicklung derartig vorantrieb, dass es als Billiglohnstandort ausschied, um als Hochtechnologie-Land allen arrivierten Industriestaaten Konkurrenz zu machen. Es wurde zu einem internationalen Vorzeigestaat für die Verknüpfung von Kapitalismus und Demokratie, aber außenpolitisch blieb es ein fragiles Gebilde.

Xi testet die Belastbarkeit des Westens

Zurück in die Gegenwart: Warum um alles in der Welt ist für den chinesischen Diktator Xi urplötzlich Taiwan der Knackpunkt der Weltpolitik? Zuerst einmal urplötzlich nicht. Von Mao bis Xi hatte keiner der chinesischen Machthaber den Anspruch auf Taiwan aufgegeben. Aus ihrer Sicht gehört Taiwan zum chinesischen Territorium und hat sich dem kommunistischen Gesellschaftssystem zu unterwerfen. Punktum! Nur durchsetzen konnten sie es nicht. Xi ist überzeugt, dies zu können: Zweitstärkste Wirtschaftsmacht, eine der größten und modernsten Armeen, eine einheitliche Ideologie, eine zentrale Führung und – damit beginnt sein Problem – der persönliche Ehrgeiz, nach Mao und Deng als der dritte große Führer Chinas in die Geschichte einzugehen. Dafür hat er eine Legitimationsschwäche zu überwinden. Die Zeit der rasanten Wirtschaftszuwächse ist vorbei. China verfügt nicht mehr über schier unbegrenzte Finanzmittel, um beliebig viele asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Staaten an sich zu binden. Die Vorbilder der Jugend sind nicht mehr Karrieren in der Partei, in der Armee und im Staatsapparat, sondern Konsum, Reichtum und Hedonismus. Nicht die immer noch staatlich gelenkten traditionellen Wirtschaftskolosse dominieren Wirtschaft und Außenhandel, sondern IT-Unternehmen, die ihre privaten Gründer und Besitzer unfassbar reich gemacht haben. In den großen Städten entstanden Mittelschichten, die sich nicht mehr um die ideologischen Parolen der kommunistischen Führung kümmern, sondern um Karriere, Wohlstand und den Aufstieg ihres zumeist einzigen Kindes.

Die Legitimation für die Macht der Kommunistischen Partei und ihrer Diktatoren besteht in der Wiederaufrichtung Chinas als Mittelpunkt der Welt, was 2049 zum 100. Gründungstag der Volksrepublik abgeschlossen sein soll. Historisch basiert diese Legitimation auf der Überwindung von feudalen Rückständen, korruptem Halbkapitalismus und kolonialen Abhängigkeiten; gegenwärtig in der Überwindung der Armut und dem Erreichen weltweiter wirtschaftlicher Vorherrschaft; zukünftig in der Einheit Chinas, bei der die Eingliederung Taiwans im Vordergrund steht. Das Historische ist erreicht, jedoch in den Augen der Jugend verblasst. Das Gegenwärtige nur teilweise, es hakt, weil ein hauptsächlich durch Privateigentum ermöglichter Wirtschaftsaufschwung unausweichlich auch Krisen mit sich bringt und ebenso zwangsläufig innenpolitische Spannungen, zudem verstärkt durch den Klimawandel.

Diese Probleme sind nicht einvernehmlich lösbar, was Xi erkennt und ihn dazu veranlasst, Taiwan als Ausweg zu benutzen, indem er massiv eine historisch unzutreffende Legitimierung zur Eroberung propagiert, dauerhaft militärische Provokationen aufrechterhält, Verbündete anstachelt, eine Eskalationsstufe nach der anderen zündet, einfach unentwegt Unruhe schürt, um beständig die Belastbarkeit des Westens zu testen. Im Westen werden zwei Möglichkeiten der weiteren Entwicklung verkannt. Erstens kann es durchaus sein, dass China hofft, mit einer Eskalationsstufe unterhalb der Kriegsschwelle Taiwan zu erobern; zweitens, dass eine dieser Eskalationsstufen durchaus auch die letzte sein kann, gleich, ob durch Absicht oder durch Zufall. Dabei kommt China zu Hilfe, dass die USA, als Hauptmacht des Westens, bisher – außer vagen Ankündigungen – nicht unmissverständlich klar gemacht haben, bei einem militärischen Konflikt unverzüglich mit allen ihren Mitteln die Unabhängigkeit Taiwans zu verteidigen. Kein wichtiger westlicher Staat ist den selbst unverbindlichen amerikanischen Positionen gefolgt. Eine derartig uneinheitliche, zögerliche und pazifistische Haltung Europas empfindet die chinesische Regierung als eine Morgengabe für ihre Eroberungspläne. Zukünftige chinesische Eskalationsstufen werden unterschiedliche Dimensionen aufweisen, was – wenigstens bis jetzt – der Westen sträflich unterschätzt.

Historische Denkübung

Die chinesischen Versuche, in den 1960er Jahren einige Taiwan vorgelagerte Inseln zu erobern, um von dort aus besser Taiwan angreifen zu können, sind auch in Deutschland noch nicht vergessen, hingegen kaum noch ist in Deutschland die damalige offizielle Politik Chiang Kai-sheks bekannt, das chinesische Festland zurückzuerobern. In Taiwan ist dies nur noch eine historische Reminiszenz, dagegen ist sie in der innerchinesischen Propaganda nach wie vor präsent.

Dazu eine höchst ungewöhnliche historische Denkübung:

Im Koreakrieg hatte der kommandierende US-General, McArthur, Präsident Truman 1951 gedrängt, gegen den Einmarsch der chinesischen Armee taktische Atomwaffen einzusetzen. In Deutschland ist es niemals richtig in das Bewusstsein gedrungen, dass dieser Krieg nicht zwischen südkoreanischen und nordkoreanischen Truppen geführt wurde, sondern zwischen mit sowjetischen Waffen ausgerüsteten chinesischen und amerikanischen (zusammen mit einigen anderen Staaten unter einem UN-Mandat). Noch weniger bekannt ist, dass er in der Luft zwischen amerikanischen Fliegern und sowjetischen Flugzeugen mit sowjetischen Piloten, aber mit nordkoreanischen Hoheitszeichen geführt wurde. Er war also kein direkter Stellvertreterkrieg, wie immer noch behauptet wird (z.B. auf der linksgerichteten Wikipedia), sondern eine direkte Konfrontation zwischen China und den USA am Boden sowie zwischen der Sowjetunion und den USA in der Luft, wobei die sowjetischen Piloten mit ihrem Material teilweise den amerikanischen Piloten überlegen waren. Truman lehnte den Vorschlag McArthurs ab und entließ den General, der bei seiner Rückkehr in die USA auf erhebliche Zustimmung stieß. Truman ließ sich davon leiten, dass nach Hiroshima und Nagasaki ein zweiter Einsatz von Atomwaffen für die USA unabsehbare internationale Folgen habe, insbesondere die USA weltweit in eine langanhaltende Glaubwürdigkeitskrise stürzen würde. Den amerikanischen Truppen gelang es nicht, die chinesischen entscheidend zurückzudrängen, letztlich mussten die USA einen Waffenstillstand akzeptieren, der bis heute gültig ist.

Dazu eine Überlegung. Zweifellos hätte der Einsatz amerikanischer Atomwaffen in kurzer Zeit den Krieg zugunsten der USA beendet, unter Inkaufnahme von hunderttausenden chinesischen und nordkoreanischen Toten sowie der langfristigen Unbewohnbarkeit weiter nordkoreanischer Gebiete. China verfügte damals weder über Atomwaffen noch über Raketen, Flugzeuge oder Schiffe, um direkt gegen die USA zu kämpfen. Das Atomwaffenarsenal der Sowjetunion war damals dem der USA noch deutlich unterlegen. Unklar ist jedoch, ob die Sowjetunion dann den Krieg nicht auch auf Westeuropa und anderweitig ausgeweitet hätte. Ebenso unklar ist, ob ein bereits weitgehend schizophrener Stalin die Gefahr eines Zusammenbruchs seines Imperiums riskiert hätte. Indessen können wir darüber keine Gewissheit erlangen. Truman hatte letztendlich die Mehrheit des US-Parlaments und wohl auch die der Amerikaner auf seiner Seite. Geschichte ist nicht zu revidieren, aber ein Weiterdenken muss möglich sein.

Hat Amerika eine Chance verpasst?

Was für Folgen hatte der Waffenstillstand für Nordkorea? Eine 70 Jahre anhaltende Diktatur, Unterdrückung eines ganzen Volkes mit abscheulichen Menschenrechtsverletzungen, Hungersnöten mit unzähligen Toten sowie atomare Bedrohung der Nachbarstaaten. China hatte sich als Sieger gefühlt, Mao konnte seine Diktatur ausbauen, Tibet erobern, und er konnte während des sogenannten Großen Sprungs sowie in der Kulturrevolution zwischen 40 und 60 Millionen Chinesen verhungern lassen bzw. ermorden, zudem baute er China zur dritten atomaren Weltmacht aus. Es ist eine Spekulation, ob sich Mao bei einer Niederlage hätte an der Macht halten können, trotzdem wäre auch in China die Geschichte anders verlaufen. Wir kennen das aus der europäischen und deutschen Geschichte mit dem Münchner Abkommen und der Stillhaltetaktik Frankreichs und Großbritanniens bei der Besetzung der Resttschechoslowakei und dem Überfall Hitlers auf Polen.

Hätte ein begrenzter Einsatz amerikanischer Atomwaffen dies alles verhindert? Aber kann man eine nicht getroffen Entscheidung mit der darauf möglicherweise folgenden Geschichte abwägen, vergleichen oder gar aufrechnen? Kann man davon ausgehen, dass die folgenden Millionen Toten und die Zunahme der atomaren Bedrohung verhindert worden wäre? Kann dies ein überzeugendes Argument sein? Was in der Geschichte nicht passiert ist, gibt es in der Geschichte erst, wenn es passiert wäre. Wenn wir uns allerdings einer derartigen Überlegung generell entziehen, verschließen wir dann nicht auch die Augen vor zukünftigen Gefahren? Muss dem Bösen nicht bereits an seinem Beginn begegnet werden, weil es später zu spät ist? Aber wie ist das Böse zu erkennen?

Anzufügen ist eine Randbemerkung. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die USA zahlreiche Kriege geführt bzw. waren darin involviert. Keinen einzigen davon haben sie mehr gewonnen, hingegen die Sowjetunion schon, aber das hat ihren Zusammenbruch nicht verhindert.

Wir können zwar von einer Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass nach einem Einsatz taktischer Atomwaffen es später nicht diese vielen Millionen Tote gegeben hätte, aber eine Gewissheit darüber haben wir nicht. Ebensowenig können wir wissen, wie sich die USA verändert hätten. Die gegenwärtigen antidemokratische Entwicklungen lassen unterschiedliche Wege denkbar erscheinen. Aus dem Rückblick war die Geschichte offen, also keinesfalls – wie der Marxismus unterstellt – determiniert, und genauso ist auch die Zukunft offen.

Am Schicksal Taiwans entscheidet sich der Selbsterhaltungstrieb der Freien Welt

Dazu ist eine Einschränkung erforderlich. Auch die gegenwärtige Politik der chinesischen Führung ist nicht alternativlos, auch für sie gilt, dass die Zukunft offen ist, unabhängig davon, dass sie vehement die gegenteilige Ansicht vertritt. Hinzu kommt eine Erweiterung. In dem Moment, in dem sich Xi zum alleinigen Machthaber auf Lebenszeit aufgeschwungen hatte, befand er sich in einer strategischen Falle. Deng sowie seine Nachfolger hatten bis 2012 das Problem „Taiwan“ nicht weiter forciert, hingegen die wirtschaftliche Verknüpfung mit Taiwan durchaus. China ist für Taiwan der mit Abstand größte Außenhandelspartner. Sogar für das riesige China steht Taiwan an 4. Stelle (Hongkong unberücksichtigt, Deutschland an 5.), 24 Mio. Einwohner gegenüber einer Milliarde! Der Außenhandel Taiwans mit China ist fast doppelt so groß wie der mit den USA.

Indem Xi auf die Karte des Nationalismus setzt, kann er ohne Machtverlust nicht mehr davon abgehen. Würde er gegenüber Taiwan eine politische Umorientierung vornehmen, also deeskalieren, würde er in China an Glaubwürdigkeit verlieren; Taiwan und die westliche Welt würden aufatmen, aber zahlreiche andere Staaten würden sich vorsichtig von China abwenden. Es ist keine Spekulation, zu unterstellen, dass Xi sich dessen wohlbewusst ist. Deshalb kann er nicht durch Diplomatie oder wirtschaftliche sowie andere Restriktionen gebremst werden, sondern ausschließlich durch direkte militärische Drohungen. Diese Erkenntnis ist bereits in Teilen der USA vorhanden, jedoch überhaupt nicht in Westeuropa. Xi nimmt – wie alle Diktatoren –, je länger seine Herrschaft anhält, immer ausgeprägter psychopathische Züge an. Der Westen unterschätzt diese Eigenart von Diktatoren, besonders bei kommunistischen.

In den zurückliegenden Wochen haben etliche westliche Staaten verschiedene Reaktionen zur Eindämmung der Gefahr einer Eroberung Taiwans durch China angekündigt. Keine westliche Regierung kann jedoch die Wirkung ihrer separaten Maßnahmen auch nur annähernd absehen. So ehrenhaft das plötzliche Umdenken des Westens auch ist, die chinesische Führung kann problemlos erkennen, dass die wichtigsten westlichen Staaten sich kaum untereinander abstimmen und kein wirkungsvolles Drohpotenzial entwickeln. Darauf stellt sich China ein und versucht, diese Staaten noch weiter voneinander zu trennen. Allein die USA nehmen die Dimensionen diese Bedrohung wahr, und zugleich wären auch nur sie in der Lage, den Zielen der chinesischen Führung wirkungsvoll zu begegnen. Dafür müssten sie jedoch aus den unzähligen Provokationen Chinas die Schlussfolgerung ziehen, dass sich am Schicksal Taiwans der Selbsterhaltungstrieb der Freien Welt entscheidet.

Ein Paradigmenwechsel ist vonnöten

Wenn zuerst die USA, und im Gefolge auch die westlichen Staaten, weitere Erpressungen gegenüber bzw. um Taiwan zuließen oder sogar militärische Aktionen Chinas weitgehend hinnähmen, verlöre der Westen seine internationale Glaubwürdigkeit. Russland würde sich ermutigt fühlen, in die Ukraine einzumarschieren und die baltischen Staaten so unter Druck zu setzen, dass sich die NATO zurückzieht. Länder wie Bulgarien und Ungarn würden sich in russische Arme begeben, zumal Putin mit den Energielieferungen einen Hebel in der Hand hält, dem kleinere Staaten ohne starke Verbündete ausgeliefert sind. In der UNO würde China eine Zweidrittelmehrheit erhalten.

Für die USA ergibt sich nur eine einzige wirkungsvolle Alternative, indem sie Verhandlungen mit Taiwan aufnehmen:

  1. Eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit. Wenn die Taiwanesen mehrheitlich mit “Nein“ stimmen, bleibt dem Westen nur, sich auf die Aufnahme von mehreren Millionen “Auswanderern“ sowie der Verlagerung von Industrien vorzubereiten.
     
  2. Wenn die Taiwanesen mehrheitlich mit „Ja“ stimmen, müsste unverzüglich die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen erfolgen, sowie
     
  3. der Abschluss eines Beistands- und Verteidigungspaktes mit den USA,
     
  4. die Aufnahme in die UNO als gleichberechtigtes Mitglied.     

Das wäre ein klarer politischer Paradigmenwechsel des Westens, der nicht bloß Taiwan betreffen würde, sondern jeden souveränen demokratischen Staat, der durch Eroberungsgelüste eines anderen Staates gefährdet ist. Ein solcher Paradigmenwechsel würde zahlreiche jetzt noch nicht zu beantwortende Fragen aufwerfen, insbesondere eine Neuorientierung in weiten Bereichen der Außenpolitik. Letztlich würde dieser in eine neue Weltordnung münden.

Selbstverständlich hätten die USA und die westlichen Industriestaaten dazu Alternativen. Die Frage ist jedoch, ob derartige Alternativen – wie sie bereits jetzt verschiedentlich ausprobiert werden – die chinesische Führung beeindrucken könnten. Würde diese Frage positiv beantwortet werden, ginge sie mit einer vollständigen Fehleinschätzung des Charakters von kommunistischen Diktatoren einher, was allerdings in der Geschichte keine Ausnahme wäre.

Der Westen wird um einen derartigen Paradigmenwechsel nicht herumkommen, will er in Freiheit am Leben bleiben.

Foto: Imago

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A. Ostrovsky / 08.12.2021

Hochmal: Das Problem mit China ist kein militärisches, sondern ein intellektuelles Problem, das der Westen hat. Am Ende ist es Verrat, ob nun aus Dummheit, wegen fehlenden Informationen oder weil man glaubte, es besser zu wissen, ist egal. Aber ich bin kein Amerikaner, mir gegenüber war es kein Verrat, nur eine Enttäuschung. Der Verrat auf unserer Seite ging von unseren Regierungen aus. Aber auch wenn die alle von Henry Kissinger eingesetzt wurden, bleibt es doch deren Verantwortung.

D.Kempke / 08.12.2021

@Jens Keller: Auch China ist heute nicht mehr bereit mal eben 300Mio. Leben zu opfern. In der chin. Gesellschaft ist die Familie heilig. Aufgrund der Ein-Kind-Politik sind die Mehrzahl der Chinesen heute Einzelkinder. D.h. mit jedem chin. Kriegstoten stirbt eine Familie für immer aus. Größere Opferzahlen bei denen Millionen Familien ausgelöscht würden, könnte die chin. Gesellschaft nicht verkraften. Das würde sie zerreißen. Unter Mao, wo die Kinderzahl noch bei >3 pro Familie lag, war das anders.

Andreas Huber / 08.12.2021

Räusper, “Ziffer 3: der Abschluss eines Beistands- und Verteidigungspaktes mit den USA”. USA? - Warum denn bitte nicht mit Russland? Japan? Südkorea? Nein, Russland wäre definitiv die lustigste Kooperation.

Daniel Oehler / 08.12.2021

Nationalistische Parolen gibt es nicht nur in Polen und der Ukraine, sondern auch in China. Da es sich bei der kommunistischen Partei Chinas um knallharte Kapitalisten im roten Mäntelchen handelt, sollte man von entsprechenden Interessen ausgehen: Taiwan wird in China nicht nur als Teil des eigenen Landes betrachtet, sondern als ein äußerst wertvolles “Asset”, das man um keinen Preis den Gegnern und “Partnern” in Übersee überlassen will. Wenn ausgerechnet die USA und die Briten gegen China stänkern, ist das ein Abgrund von Heuchelei. Wie ist das mit US-amerikanischen Besatzungstruppen im Irak und Syrien? Und dann die Opiumkriege der Briten, mit denen China gezwungen wurde, britischen Geschäftsleuten den Export von Drogen nach China zu gestatten. Die USA und ihre europäische Gefolgschaft sollten die Finger von China und Indien lassen.

Norbert Brausse / 08.12.2021

Noch etwas: Der Autor sollte sich unbedingt die Antwort von E. Sommer anschauen. Dort wird mit starken Argumenten dagegen gehalten und schließlich auch spekuliert, was wie geschehen könnte. Leider gibt es hier nicht die Möglichkeit, zeitnah zu antworten und demzufolge auch nicht auf entsprechende Antworten reagieren zu können. Bei Reitschuster geht es doch auch, wobei dort jedoch das Niveau der Kommentare deutlich niedriger ist. Aber vielleicht hängt das eine auch mit dem anderen zusammen?

B.Kröger / 08.12.2021

Die Nationalstaaten Europas sind, wie gewünscht, mit Klima und Corona beschäftigt. Die der deutschen Politik zugewiesene Aufgabe besteht darin, die Aufnahme von Millionen Menschen aus aller Welt in Deutschland und Europa zu fördern und zu organisieren.  Darüber hinaus möchte ich daran erinnern, dass die Grünen schon vor Jahren von den Freunden Maos übernommen wurden. Daher bestehen auch keinerlei Probleme beim Abholzen von Wäldern für die Errichtung von Windkraftanlagen. Kein Naturschützer würde da zustimmen. Und ein großer Teil der Solaranlagen und Windkraftanlagen kommen, da sind wir jetzt ganz überrascht,....aus der VR China.

Rainer Mewes / 08.12.2021

Ein Nachtrag: Wie wird die Lage sein in Mitteleuropa im Jahre des Herrn (K.Schwab) 2030? Antwort: Zur Zeit herrscht Ruhe an der chinesich-finnischen Grenze.

Klaus Keller / 08.12.2021

Vielleicht sehen wir auch erst noch einen Bürgerkrieg, weil ein Teil des Teils, Teil des Westens sein will. Wie viele Tote soll der Westen in kauf nehmen? Mir würde es genügen wenn China nach dem Beitritt Reisewilligen, Reisefreiheit gewährt. Mit der Reisefreiheit hat es der Westen im Moment aber aber nicht so. vgl polnische Grenze. Ich nehme Aussagen nicht mehr ernst wenn der Westen das tote Pferd seiner moralischen Überlegenheit reitet.

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