Susanne Baumstark / 26.02.2018 / 16:00 / Foto: Thamizhpparithi Maari / 12 / Seite ausdrucken

Tafeldebatte: Prinzip versus Pragmatismus

Es ist richtig, dass die Entscheidung der Essener Tafel Empörung auslöst. Trotzdem ist die Entscheidung in diesem Fall auch richtig und die Art der Empörung auch falsch. Stefan Gosepath hat Dilemmata solcher Art in seiner Abhandlung über die Menschenrechtsfrage als minimalen, aber dennoch bedeutsamen Konsens treffend formuliert: 

„Eine quasi-deduktive Ableitung von Handlungsanweisungen für konkrete Fälle mit ihren besonderen Anwendungsbedingungen aus Artikeln oder Paragraphen von Menschenrechtskatalogen kann es nicht geben. Wir können nur gute Argumente suchen, Gegenargumente offen prüfen und andere Personen zu überzeugen versuchen, so gut es geht. Die inhaltliche Interpretation und relative Gewichtung der Menschenrechte ist – wie die bisherige Erfahrung zeigt – selbst strittig. Auf diese Kontroverse um die richtige Auslegung, Abwägung und Anwendung der Menschenrechte können und müssen sich alle einlassen.“ 

Konkreter: Wenn der Leiter der Essener Tafel Rücksicht auf hochbetagte und alleinerziehende Frauen nimmt – ein bisher nicht offiziell abgeschaffter Grundwert unserer Gesellschaft –, dann ist das zu begrüßen. Die Ursache für das Fernbleiben dieser Klientel liegt, das ist wohl unbestritten, im Anteil der Zuwanderer von 75 Prozent mit steigender Tendenz, die sich teils respektlos verhielten. Eine pragmatische Lösung kann hier nur sein, wieder sozialverträgliche Rahmenbedingungen anzustreben. 

Die pragmatisch orientierte Annäherung an die Sache ist das eine. Die prinziporientierte Annäherung seitens Kritiker der Essener Tafel ist ebenfalls legitim und in einem sachlich geführten Diskurs auch notwendig, um zu verhindern, dass zu viel Pragmatismus die Menschenrechte zur Verhandlungsmasse degradiert. Es ist ein bleibendes, stets zu diskutierendes Spannungsverhältnis. 

Es lohnt ein Blick in die Erklärung der Menschenrechte

Die Empörung der Kritiker ist deshalb grundsätzlich richtig und notwendig. Die Art und Weise hingegen dreht die Sache ins Destruktive und bezeugt, dass es jenen gar nicht um Annäherung, sondern um Instrumentalisierung der Angelegenheit für die eigene politische Agenda geht. Sei es durch die verleumderische Unterstellung, hilfebedürftige Menschen würden absichtlich gegeneinander ausgespielt, oder durch die aggressive Beschmierung der Essener Tafelfahrzeuge mit „Fuck Nazis“.   

Wie Prinzipienfestigkeit ohne Pragmatismus wiederum dazu führen kann, dass am Ende quasi niemand mehr profitiert, zeigt sich gerade bei der Saarbrücker Tafel mit inzwischen 60 Prozent Zuwanderern: Bis 1. Mai 2018 „sind keine Neuanmeldungen möglich“. Nur Notfälle nehme man noch auf, sagte der Vorsitzende der Saarbrücker Zeitung, die witzigerweise titelt: „Saarbrücker Tafel schließt Migranten nicht aus.“ 

Stets und gerne vergessen übrigens Moralapostel Artikel 29 AEMR:

„Diese Bestimmung will uns daran erinnern, dass es nicht nur Menschenrechte gibt, sondern dass jeder und jede auch Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen hat. Die Ausübung der Menschenrechte ist insoweit begrenzt, als damit nicht in die Rechte und Freiheiten anderer Menschen eingegriffen werden darf. Dies würde einen Missbrauch der Menschenrechtsidee darstellen.“

Die Ausübung der Menschenrechte beginnt hier beim ordnungsgemäßen Anstellen in der Warteschlange vor der Lebensmittelausgabe.

Nachtrag: Der Leiter der Essener Tafel ist nach den Nazi-Schmierereien kurz davor hinzuschmeißen. Der Bild sagte er außerdem: „Jetzt haut ein Haufen von Politikern auf uns ein, ohne sich zu informieren. Die sollen sich mal her bewegen und vor Ort mitarbeiten – danach können sie sich gerne äußern."

Dieser Beitrag erscheint auch auf Susanne Baumstarks Blog Luftwurzel.

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Ronny Habermann-Curie / 26.02.2018

Barley sagte zur Entscheidung der Essener Tafel „Eine Gruppe pauschal auszuschließen, paßt nicht zu den Grundwerten einer solidarischen Gemeinschaft“ Da hat sie vollkommen recht. Die Menschen, die in den letzten 2,5 Jahren in unsere Sozialsysteme eingewandert sind, sind pauschal ausgeschlossen von finanziellen Sanktionen ihrer Hartz4-Bezüge. Diese Ungleichheit und asoziale Handhabe gegenüber den schon länger hier Lebenden ist der Frau Sozialministerin offensichtlich völlig egal.

Gernot Radtke / 26.02.2018

“Jetzt haut ein Haufen von Politikern auf uns ein, ohne sich zu informieren. Die sollen sich mal herbewegen und vor Ort mitarbeiten – danach können sie sich gerne äußern.“ – Die sollten sich überhaupt nicht äußern! Nach welchen Grundsätzen und Verteilkriterien p r i v a t e (also nicht-staatliche) Einrichtungen der Barmherzigkeit das Nötigste an Bedürftige verschenken, die der Staat durch seine hirnverbrannte Sozial- und Migrationspolitik überhaupt erst geschaffen hat, geht diese ewigen Gralshüter und Verwalter der Hochmoral überhaupt nichts an, die damit sowieso nur von ihrem eigenen jämmerlichen Regierungsversagen ablenken wollen. Die ‚Weltrettung‘ auf anderer Leute Kosten schlägt mittlerweile nicht nur bei Jobs und im Immobilienmarkt, sondern auch bei den Ärmsten der Armen schon voll ein.

Dietmar Schmidt / 26.02.2018

Hallo Frau Baumstark, wer bietet dem Wahnsinn endlich Einhalt. Es ist einfach unerträglich diese dümmliche Kritik. Und dann wundern sich unsere “Eliten”, dass die AfD immer stärker wird. Eigentlich kann man nur sagen hoffentlich. Gruß D. Schmidt

Anika Mielchen / 26.02.2018

Genau aus den hier zutage tretenden Faktoren bin ich kein Unterstützer der Tafeln mehr: Es kommt überwiegend denen zugute, die es sich - leider völlig legal und von der Politik der letzten Jahre auch forciert - in unserem sozialen System ohne Vorleistungen bequem gemacht haben. Arme Rentner, die jahrzehntelang die Gesellschaft mitgetragen haben, oder sonst wie durch das Netz Gefallene, z. B. durch Krankheit, Schicksal o.ä. bilden nurmehr eine Minderheit. Ich bin sicher, dass die Zahlenverhältnisse der Essener Tafel auch bundesweit nicht viel anders aussehen. Hier ist nun ein Feld, auf dem der Verdrängungsprozess schon gut sichtbar wird; viele andere (ich kenne Leute, die ihre Organspender-Erklärung widerriefen)  werden folgen.

Evelin Lorenz / 26.02.2018

Wenn Lauterbach, Barley und Chebli Nachbarn, Kollegen oder Verwandte wären, würde man nur den Kopf schütteln über so viel Dummheit, Verblendung und Selbstgerechtigkeit, aber da sie in höchsten politischen Ämtern Verantwortung tragen, kann man sich nur gruseln.

Sabine Schubert / 26.02.2018

Es besteht die Gefahr einer Entsolidarisierung untereinander. Umso inhomogener eine Gesellschaft wird, mit einer immer kleiner werdenden Schnittmenge, umso weniger werden sich weiterhin Menschen sozial engagieren wollen. Grundsätzlich, losgelöst von dieser Story.

Anja Pyrek / 26.02.2018

Die Menschen, die sich so “hochmoralisch” entrüsten und über angeblich mangelnde Menschlichkeit beklagen, sollten sich einmal fragen, ob es nicht gerade ein Zeichen von sozialer Gerechtigkeit ist, wenn auch den armen Mütterchen mit Gehilfe oder Rollator ermöglicht werden soll, Hilfe durch die Tafel zu erhalten, ohne Gefahr zu laufen, schwer zu stürzen, weil so rabiat und ohne jede Rücksicht gedrängelt wird. Es ist einfach legitim, Menschen fernzuhalten, die sich nicht benehmen können und wollen und dadurch Angst verbreiten. Würden sie sich benehmen, gäbe es dieses Problem nicht. Da liegt der Fehler - nicht bei denen, die Mitgefühl für Verängstigte haben.  Außerdem sind die Lebensmittel Geschenke und die dort Tätigen arbeiten ehrenamtlich.  Niemand - auch die Politik oder die Kirchen nicht - hat das Recht, ihnen Vorschriften zu machen und sie zu instrumentalisieren. Sie retten mit großem Engagement und Einsatz diejenigen, an denen der Staat versagt hat. Dafür gebührt ihnen Respekt und Dank.

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